- Auch der Charité-Virologe Christian Drosten legte am Dienstag noch einmal mit einer unmissverständlichen Ansage nach.
- Lesen Sie hier alle Hintergründe zur Debatte im Bundestag und weiteren nationalen Corona-Entwicklungen.
Berlin – Angela Merkel versucht es mit Zahlen, vielleicht geht es ja so. Sehr präzise hat sie sich die heraussuchen lassen für diese Bundestagsdebatte, in der es um den Haushalt geht, aber mindestens genau so viel um die Corona-Krise. Auch weil das eine nicht von dem anderen zu trennen ist.
Milliardenhilfen für Corona-Ausfälle, 500 000 Arbeitslose als mehr im vergangenen Jahr, andauernd hohe Infektionszahlen – es ist eine ernüchternde Bilanz, die Merkel da ziehen muss. Aber für sie steht etwas anderes im Zentrum: die Toten. Und in ihre Nüchternheit mischt sich in die Rede viel Emotion.
Am 29. September habe man im Bundestag das erste Mal über den Haushalt debattiert, sagt Merkel also. An diesem Tag habe es 1827 neue Infektionsfälle gegeben, 352 Corona-Patienten auf den Intensivstationen und zwölf Tote. An diesem Mittwoch seien es 20815 Neuinfektionen gewesen, tags zuvor lag die Zahl der Intensivpatienten bei 4257 Personen. Und außerdem: 590 Tote. An einem einzigen Tag.
„Die Zahl der Kontakte ist zu hoch“, mahnt Merkel. Und sie rechnet weiter: 3500 Fälle mehr als vor einer Woche, nur noch 14 Tage bis Weihnachten.
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„Wir sind in einer entscheidenden Phase“, sagt Merkel. Vielleicht sei es sogar DIE entscheidende Phase. Es bestehe die Gefahr, dass sich die Zahlen bald wieder exponentiell entwickelten. Was das bedeutet, hat die Kanzlerin im September auch schon einmal erklärt: eine ständige Verdopplung. Die 19.200 Neuinfektionen täglich, vor der sie damals mit Blick auf Weihnachten gewarnt hatte und die wie eine absurde Größe wirkten, sind längst erreicht.
All die Hoffnungen aus dem November, dass der Teil-Lockdown zur einer Beruhigung der Lage und einem - halbwegs - normalen Weihnachtsfest führen würde, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Reihenweise ziehen die Länder die Corona-Zügel wieder an.
Sachsen kehrt am Montag zu einem harten Lockdown zurück. Schulen, Kindergärten, Horte und die meisten Geschäfte bleiben geschlossen - und zwar bis zum 10. Januar. Auch der sogenannte kleine Grenzverkehr bleibt untersagt. Zwar dürfen die Sachsen zum Tanken oder Einkaufen über die Grenze fahren – nach ihrer Rückkehr müssen sie aber für mindestens zehn Tage in häusliche Quarantäne. Das gilt auch für Skiurlauber in den tschechischen Bergen. Ausgenommen sind lediglich Berufspendler – etwa Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen, Kliniken und grenznahen Betrieben.
Seit Mittwoch ist auch in Bayern der kleine Grenzverkehr eingeschränkt. Auch dort sind die Corona-Fallzahlen in den grenznahen Kreisen auffällig hoch.
Alkoholausschank verboten
Thüringen streicht die für die Weihnachtstage geplante Aufweichung der Kontaktbeschränkung. Rheinland-Pfalz verkürzt die Zeit, in der sich zehn Personen treffen dürfen, Mecklenburg-Vorpommern verbietet den Alkohol-Ausschank in der Öffentlichkeit. Und über allem schwebt die Frage, ob es nun doch zu einem bundesweiten Lockdown an Weihnachten oder unmittelbar danach kommt.
Eine erneute Ministerpräsidentenkonferenz steht längst im Raum. Das Kanzleramt hatte sie ohnehin eigentlich für kommende Woche angesetzt, nun sind offenbar auch die meisten Länder soweit.
Ein Termin für die Schalte wird bereits gesucht. Was angesichts voller Terminkalender gar nicht so einfach ist. Die CDU-geführten Länder sollen diesen Sonntag präferieren, auf SPD-Seite wartet man noch ab. Allerdings haben auch erste Sozialdemokraten signalisiert, dass sie eine schnelle Zusammenkunft wollen. „Möglichst noch in dieser Woche“ sollten die Ministerpräsidentinnen und Präsidenten beraten, wie man zu strengeren Maßnahmen kommen könne, sagte Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig am Mittwochmorgen im Schweriner Landtag. Und Schwesigs Bundesland ist von der Pandemie mit am wenigsten betroffen.
Dauer-Mahnerin Merkel
Die Dauer-Mahnerin Merkel hat Recht behalten. Auch wenn die Kanzlerin auf diesen Triumph vermutlich gerne verzichtet hätte. „Die Reduktion der Kontakte ist nicht ausreichend“, sagt Merkel im Bundestag.
„Es ist nicht erwiesen“ ruft AfD-Vize-Fraktionschefin Beatrix von Storch dazwischen. Die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel hatte Merkel zuvor vorgeworfen, mit der “Holzhammermethode Lockdown“ dem Land mehr zu schaden als zu nutzen, den Mittelstand verarmen zu lassen und die Bürger einzuschüchtern. „Kommen Sie heraus aus Ihrem geistigen Wandlitz“, hatte sie der in der DDR aufgewachsenen Kanzlerin zugerufen und sie damit in Tradition der einstigen DDR-Führung gestellt, die in einer Waldsiedlung in dem Ort nördlich von Berlin wohnte.
Merkel wendet sich der Zwischenruferin Storch zu: Europa habe seine gute Entwicklung der Aufklärung zu verdanken und dem damit verbundenen Vertrauen in die Wissenschaft, sagt sie. Und sie selber habe sich in der DDR übrigens der Wissenschaft zugewandt und sei Physikerin geworden, weil sie gewusst habe: „Es lässt sich viel außer Kraft setzen, aber die Schwerkraft und die Wissenschaft nicht.“ So viel auch zu Weidel und Wandlitz.
Die Betonung der Wissenschaft ist für die Physikerin Merkel weit mehr als nur ein Lippenbekenntnis. „Wir tun gut daran, das, was uns die Wissenschaft sagt, auch, umzusetzen“, sagt sie in ihrer Rede. Die Wissenschaftsakademie Leopoldina hatte diese Woche empfohlen, den Lockdown zu verschärfen, Schulen und Geschäfte zu schließen. Vom 24. Dezember bis mindestens 10. Januar sollte „in ganz Deutschland das öffentliche Leben weitgehend ruhen“, so die Empfehlung der Wissenschaftler.
Einer von ihnen, der Charité-Virologe Christian Drosten legte am Dienstag noch einmal nach. Das Papier der Leopoldina solle verstanden werden als „deutliche und letzte Warnung der Wissenschaft“ sagte Drosten in seinem Podcast. Entscheide sich die Politik anders, habe sie sich nicht mehr für die Wissenschaft entschieden.
Gegen die Wissenschaft zu entscheiden, ist wohl der letzte Vorwurf, dem Angela Merkel sich aussetzen möchte. Eine Lockdown-Phase wie von der Wissenschaft vorgeschlagen brauche man nach Weihnachten, „vielleicht bis zum 10. Januar“, sagt sie im Bundestag. Aber ganz genau festlegen will sie sich auch nicht. „Das Ziel heißt nicht: Nach Tagen rechnen, sondern nach Resultaten. Sonst entgleitet uns die Pandemie wieder und wieder.“
Merkel weiß, dass es nicht allein in ihrer Hand liegt. Am Ende entscheiden die Ministerpräsidenten, und die haben in dieser Pandemie schon häufig bewiesen, dass sie einen eigenen Kopf haben. „Weil die Zahlen so sind, wie sie sind, müssen wir etwas tun, und zwar Bund und Länder gemeinsam“, sagt Merkel. Sie sei froh, dass sich die Idee einer auch bei den Bundesländern immer mehr durchsetze. Sie hat schon vor Wochen auf ein erneutes Treffen kurz vor Weihnachten gedrungen, von den Ländern aber nur einen Termin am 4. Januar bekommen. Nun immerhin könnte alles ganz schnell gehen.
Klatschen der AfD
Genau das stört FDP-Chef Christian Lindner. „Die Halbwertzeit der Ankündigungen und Erklärungen wird immer kürzer“, beschwert er sich und dann ist auch er bei einer Wissenschaft: „Die fortwährende Korrektur der Korrektur wirft Fragen nach der wissenschaftlichen Evidenz aller Maßnahmen auf.“ Da klatscht auch die AfD. Lindner warnt erneut vor wirtschaftlichen Schäden und davor, dass es nach der Corona-Krise keine Vermögen geben werde in Deutschland.
Beratungen auf der Regierungsbank löst dann aber Linken-Fraktionschefin Amira Mohammed Ali aus, als sie von Wohnungskündigungen und Stromsperren für Menschen spricht, die Mieten oder Rechnungen wegen Corona-Gehaltsausfällen nicht mehr zahlen könnten. „Ihre Politik, die treibt seit Jahren den Keil der sozialen Spaltung immer tiefer in unsere Gesellschaft, und so machen Sie auch in dieser Pandemie weiter“, sagt die Linken-Politikerin. Merkel wendet sich an dieser Stelle ihrem Staatsminister im Kanzleramt, Hendrik Hoppenstedt, zu und dann auch noch Justizministerin Christine Lambrecht (SPD).
Grünen-Chefin Annalena Baerbock findet ebenfalls, die Regierung müsse ihre Corona-Maßnahmen besser planen und vor allem den Schulen besser beistehen bei der Organisation von Schließungen.
Genügend Geld sei da, hatte Merkel zuvor fast etwas verzweifelt erklärt. Aber bis Schulen dann tatsächlich mit Laptops ausgestattet seien, „das dauert in Deutschland immer Monate“.
„Es tut mir von Herzen leid”
Ihr fielen die Einschränkungen schwer, beteuert Merkel zum Schluss ihrer Rede. Sie wisse, wieviel Liebe darin stecke, „wenn Glühweinstände aufgebaut werden“. Und wie sehr auch in anderen Bereichen Lockerungen wünschbar seien. „Es tut mir leid, es tut mir von Herzen leid“, beteuert Merkel.
Aber wenn der Preis Tag für Tag hohe Todeszahlen seien, „dann ist das nicht akzeptabel“.
Beschwörend fügt sie hinzu: „Wir müssen uns nochmal anstrengen.“ Die Winterzeit dauere noch bis März. Das sei doch „eine überschaubare Zeit“.