Moskau – Dmitri Medwedew (56) ist nicht irgendjemand in Russland. Er war schon mal Ministerpräsident der Russischen Föderation und sogar schon mal Staatschef.
Ob er sich in seiner langen Laufbahn jemals mit einer Botschaft auf Deutsch an die Deutschen gewandt hat, ist nicht bekannt. Diese Woche aber hat er es getan. Allerdings ging es nicht wie sonst, wenn frühere Staatspräsidenten sich in der Sprache eines anderen Landes äußern, um Völkerfreundschaft, im Gegenteil.
Medwedew wollte den Deutschen einfach mal einen Schreck einjagen.
Medwedew twitterte feindselig
Wörtlich schrieb er: „Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Stopp der Zertifizierung der Gaspipeline Nord Stream 2 angeordnet. Na ja. Herzlich willkommen in einer neuen Welt, wo die Europäer bald schon 2000 Euro pro Kubikmeter Gas zahlen werden!“
Geht es noch ätzender, noch herablassender, noch feindseliger?
2000 Euro pro Kubikmeter: Das wäre eine Preissteigerung um mehr als das Tausendfache. Aber auch bezogen auf 1000 Kubikmeter – was offenbar gemeint war und sich auch in englischen Versionen des Tweets findet – wären 2000 Euro mehr als eine Verdopplung des heute schon sehr hohen Preises.
Der Eifer der PR-Teams in Moskau ist groß, ihre Sorgfalt gering, egal: Hauptsache, die Deutschen fangen schon mal langsam an zu zittern. Der Tweet entlarvt die Art, wie Moskau das Gas betrachtet: als Instrument in einem Psychokrieg. Die Drohung mit den hohen Gaspreisen soll den Normalbürger im westlichen Ausland Demut lehren vor Russland.
Moskau trifft im Westen einen wunden Punkt
Doch mehr noch: Die Gaspreise sollen Moskau auch helfen, im sich anbahnenden großen Ost-West-Konflikt um Sanktionen den Spieß umzudrehen – und dem Westen die Schuld an allem zu geben, von Preiserhöhungen aller Art bis zu möglichen Energieengpässen.
„Gibt es im Westen nicht schon genug Preisanstiege – von teuren Lebensmitteln bis zu unbezahlbaren Wohnungen?“ Mit Fragen wie dieser treffen Moskauer Propagandisten in den weltweiten sozialen Netzwerken einen wunden Punkt.
Ein Ökonmisch geprägter Ost-West-Konflikt droht
Willkommen in einem neuen, vor allem ökonomisch geprägten Ost-West-Konflikt – der schon bald in eine Art Psychokrieg ausarten dürfte. Was jetzt noch aussieht wie ein Ringen um Euro und Cent, wird bald übergehen in einen Kampf um Herzen und Hirne.
Wer ist Schuld, wenn wegen der Russland-Krise die Weltwirtschaft wackelt? Putin, weil er in der Ukraine das Völkerrecht bricht? Oder USA und EU, weil sie deswegen Sanktionen verhängen?
Noch halten sich die konkreten Konsequenzen des neuen Konflikts in engen Grenzen, auf beiden Seiten. Doch das kann sich schnell ändern. Und wie dieser Machtkampf eines Tages enden wird, ist offen.
Soll man das G-Wort gar nicht mehr sagen?
Schon jetzt ist klar: Es geht dabei längst nicht nur um Fakten, sondern auch – vielleicht sogar in erster Linie – um Stimmungen.
Die Gaspreisdebatten, sagen Ökonomen, könnten den Menschen im Westen so sehr auf den Magen schlagen, dass sie zum massenhaften Konsumverzicht übergehen und vorsichtshalber zum Beispiel auch die Anschaffung des nächsten Autos verschieben. Aus einem anfangs nur wabernden Pessimismus würde dann eine knallharte realwirtschaftliche Abwärtsbewegung – mit Konsequenzen aller Art, bis hin zu Entlassungen und einem Anstieg der Arbeitslosenzahl.
Sollte man also das Wort „Gaspreis“ idealerweise öffentlich gar nicht mehr aussprechen? Im Verteidigungsausschuss des Bundestages sitzen Leute, die sich das, so schräg es klingt, ernsthaft wünschen, auch von ihren Kollegen. Begründung: Jede wie auch immer geartete öffentliche Debatte über den Gaspreis nütze am Ende nur Putin.
Die Talkshowrepublik Deutschland allerdings funktioniert eher andersrum: Jede auch nur potenzielle Gefahr wird hier grell beleuchtet. Und jede noch so vernünftige Position der Regierung wird, schon damit es spannend bleibt, zerredet und klein gehackt von einem, der alles ganz anders sieht.
Sind Demokratien bei näherem Hinsehen vielleicht gar nicht so gut geeignet für ein Piff-Paff von Wirtschaftssanktionen und Gegensanktionen? Verlieren sie am Ende sogar als Erste die Nerven?
Russland kommt erst auf Platz 14
Die Deutschen könnten, betrachtet man allein die Exportwirtschaft, eigentlich erst mal durchatmen. Die meisten deutschen Exporte, mit einem Gesamtwert von 122 Milliarden Euro, gingen im Jahr 2021 in die USA. Russland (26,6 Milliarden) kommt erst auf Platz 14 der Tabelle, nach Spanien (43,6) und Ungarn (28,9). Abbestellungen aus Russland könnten zwar einzelne Firmen schwer treffen, der Schaden für die deutsche Volkswirtschaft als Ganzes aber bliebe stets begrenzt.
Prekär aber wird es, wenn Russland als Reaktion auf die westlichen Sanktionen den Deutschen den Gashahn abdreht. Würden die Russen das tun?
Der CDU-Außenpolitiker Armin Laschet sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) am Mittwoch am Rande der Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag: „Selbst in den härtesten Zeiten des Kalten Krieges war die Energieversorgung immer gesichert. Deshalb wäre es neu, wenn sie nun zu einem Mittel der Politik würde. Ob das so kommt, ist im Moment schwer zu sagen.“
Der frühere deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), inzwischen Chef der Atlantikbrücke, baut schon nicht mehr auf die Liefertreue der Russen. „Darauf sollten wir uns heute nicht mehr verlassen“, sagte er dem RND. „Das war damals eine andere Ära, Russland hatte kaum andere Abnehmer als die Europäer. Heute gibt es für das russische Gas quer durch Asien mehr Interessenten denn je, China vorneweg.“
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Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln sagt, alles hänge in den kommenden Wochen davon ab, ob Russland den Gashahn abdreht. „Bei einer echten Gasknappheit würden sehr schnell einige energieintensive Industrien in Deutschland leiden, sogar Abschaltungen von Fabriken sind dann möglich“, warnt Matthes. Die Gas- und Strompreise würden dann nicht nur hoch bleiben, sondern weiter deutlich ansteigen. „Bestimmte Branchen würden dies knallhart zu spüren bekommen, zum Beispiel die Chemieindustrie.“
Sanktionen gegen Milliardäre
Der Westen, seit drei Jahrzehnten ohne Feindbild unterwegs, hat Mühe, sich auf Konflikten dieser Art auch nur einzustellen. Russland indessen hat seit der Krim-Krise 2014 systematisch gelernt, mit Wirtschaftssanktionen zu leben. Auf Geheiß Putins wurden im großen Stil Devisen angehäuft. Das Handelsverbot mit russischen Staatsanleihen, am Dienstag im Gleichklang verkündet von USA und EU, wird Putin daher wohl nicht besonders hart treffen.
Wirkungsvoller wäre ein Ausschluss aus dem Swift-Zahlungssystem in der Bankenwelt. Diese Maßnahme gab es bereits gegen den Iran, Nordkorea und Afghanistan. Über einen so weitreichenden Schritt soll aber erst bei einer weiteren Eskalationsstufe des Konflikts in der Ukraine entschieden werden. Noch hat die große Invasion des gesamten Landes nicht begonnen.
In ihrer Wirksamkeit nicht zu verachten sind offenbar die EU-Sanktionen gegen die russischen Abgeordneten, die für die Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk gestimmt haben. Hinzu kommt das von Großbritannien verfügte Einfrieren der Londoner Guthaben von drei Milliardären aus Putins engerem Umfeld. Betroffen sind der Öloligarch Gennady Timchenko, der Gasmilliardär Boris Rotenberg und dessen Neffe, der Industrielle Igor Rotenberg. Die Europäer hoffen, dass die Politiker und Milliardäre, deren Reisefreiheit in Europa jetzt beschränkt ist, mäßigenden Einfluss auf Putin nehmen.
Energiepreiskrise vor der Wahl in Frankreich?
Und wenn nicht? Die Energieabhängigkeit von Russland bleibt am Ende Europas Achillesferse – auch wegen eines unglücklichen historischen Zusammentreffens mehrerer Faktoren: Schon der Green Deal der EU dürfte, zumindest vorübergehend, zu höheren Energiepreisen führen. Dies nagt schon jetzt an der Unterstützung durch die Bevölkerung. Wenn jetzt Putin noch weitere Preissteigerungen auslöst, indem er Hähne zudreht oder auch nur Zufuhren drosselt, könnte er die ehrgeizigen Klimaprojekte zum Kippen bringen – und Europas Rechtspopulisten neuen Zulauf bescheren.
Dies alles geschieht nun kurz vor den französischen Präsidentschaftswahlen am 10. April. Im Winter 2018/2019 gingen in Frankreich die Gelbwesten auf die Barrikaden, ein politisch bunt gemischter Trupp frustrierter Vorstädter. Ihnen genügte eine nur mäßige Dieselpreiserhöhung für maßlosen, gewalttätigen Zorn.
Auch hier zeigt sich die Angreifbarkeit westlicher Gesellschaften. Energiepreishöhungen können die politischen Gewichte verschieben, im Extremfall auch das Schicksal der gerade Regierenden besiegeln.
Bei den Wahlen im April geht es um mehr als Frankreich. Sollte einer der wichtigsten Gründungsstaaten der EU von Rechtspopulisten übernommen werden, könnte dies das Ende der Europäischen Union einläuten. Es steht also viel auf dem Spiel bei Putins Psychokrieg ums Gas. (rnd)