- Was macht die Corona-Pandemie aus der deutschen Gesellschaft?
- Hält sie weiter zusammen, oder bricht sie auseinander?
- Die Bertelsmann-Stiftung kommt zu dem Ergebnis: Die Konsensgesellschaft steht am Scheideweg
Der Psychologe Ahmad Mansour trifft häufig den Nerv der Gesellschaft. Kein Wunder, der in Israel geborene 44-Jährige ist schließlich Extremismusexperte. Am 24. März – es war der Entschuldigungstag von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) – twitterte Mansour: „Wir müssen extrem aufpassen, dass die Kollateralschäden des berechtigtenepidemiologischen Kampfes gegen Corona uns am Ende NICHT unseren Zusammenhalt, Wohlstand, unsere Gesellschaft, Demokratie, Zukunft & die Zukunft unserer Kinder & unser Vertrauen in den Staat kosten wird.“ Der folgende Thread – die Antworten von Twitter-Nutzern an Mansour – offenbarte den Blick in eine verwundete Gesellschaft.
„Es gibt keine politische Mitte mehr“
„Der ‚gerechte Kampf‘ wird leider nicht gegen die Epidemie geführt, sondern gegen Kinder und sozial Schwache“, schreibt Nikolaus aus Berlin. E. Langlais beobachtet „psychische und physische Schäden in allen Altersklassen und auf allen sozialen Ebenen“. Und Grzesiu aus Laatzen beklagt: „Es gibt keine politische Mitte mehr.“ Nach dem zweiten Osterfest im Klammergriff von Pandemie und Lockdown schwindet bei vielen Menschen offenbar die Hoffnung – und Enttäuschung macht sich breit.“
Dass diese Enttäuschung die gesellschaftliche Geschlossenheit bedroht, stellt nun auch die Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie“ der Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Infas-Institut anhand von Zahlen fest. Die Ergebnissealarmieren: Der Zusammenhalt sinkt, das Vertrauen in die Mitmenschen schwindet, das Zukunftsbild von der Gesellschaft verdüstert sich – vor allem ist dies beiden heute unter 30-Jährigen zu beobachten. Das war nicht von Anfang an so.
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Die Pandemiesituation trug zunächst dazu bei, vorhandene Stärken besser wahrzunehmen und wertzuschätzen, schlussfolgern die Autoren um Studienleiter Dr. Kai Unzicker, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann-Stiftung. Zur Jahresmitte wurde die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Miteinanders sogar positiver. „Wahrscheinlich, weil nach dem Ende des ersten Lockdowns das Gefühl herrschte, das Schlimmste gemeinsam überstanden zu haben“, so Unzicker. Mit dem zweiten Lockdown zum Jahresende fiel die Bewertung aber wieder auf den Level vom Jahresanfang zurück.
Vertrauen in die Regierung
Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse der Studie ist die, dass das politische Vertrauen in der Pandemie bis zum Herbst massiv gestiegen ist. Bis Jahresende erreicht die Regierung „überwältigende Zufriedenheitswerte, wie es sie seit Jahren nicht gegeben hat“, schreiben die Autoren. In der Skala von 1 (überhaupt kein Vertrauen) bis 5 (sehr großes Vertrauen) ist hier ein gleichgerichteter Mittelwert über alle Einkommensgruppen hinweg zu erkennen. Den Höhepunkt erreicht das Vertrauen in die Regierung im Frühsommer 2020, wo die Mittelschicht sogar den Skalenwert 4 (großes Vertrauen) erreicht. Im Dezember sinkt das dann in allen Gruppen – die Studie unterteilt sie in „Prekäre“, „Mitte“ und „Gehobene“ – wieder etwas ab, am stärksten bei den Geringverdienern, rangiert aber auch hier, wie bei den anderen Gruppen, noch über den Februarwerten.
Unzufriedenheit und Frustrationen wachsen seit vergangenem Herbst
Kai Unzicker warnt trotzdem: „Insgesamt war die politische Zufriedenheit in den Jahren von 2017 bis 2019 auf einem niedrigeren Niveau als 2020. Doch auch andere Studien zeigen: Unzufriedenheit und Frustrationen wachsen seit vergangenem Herbst – auch in der Gruppe der Wohlhabenderen.“ Junge tragen besondere Last Die Einschätzung der eigenen Lage verschlechterte sich – auf unterschiedlichem Niveau – nur leicht vom Frühjahr bis zum Jahresende. Dennoch sahen viele die Zukunftsaussichten immer düsterer. Stimmten im Frühjahr bereits 38 Prozent der Befragten in prekären Lebenslagen der Aussage „Ich mache mir große Sorgen um meine Zukunft“ zu, waren es im Dezember 2020 mehr als die Hälfte. In der Mittelschicht verdoppelten sich diese Sorgen im selben Zeitraum von 19 auf 41 Prozent. In der Zukunftsfrage bergen vor allem die Antworten der Jungen Sprengkraft. Die Sorgen der jungen Leute bis 29 Jahre sind im Verlauf der Pandemie stark gestiegen.
Im Dezember 2020 äußerten zwei Drittel der Befragten Zukunftssorgen, während der Wert in den anderen Altersgruppen zwischen rund 20 und 40 Prozent liegt. Das liegt zum einen an schlechteren Chancen auf den Start in eine Ausbildung oder das Berufsleben und zum anderen am Wegfall von Minijobs, über die sich viele Studierende finanzieren. Ursachen sehen die Forscher auch im zunehmenden Gefühl der Isolation. Die unter 30-Jährigenzeigen deutliche Anzeichen von Depressionen. Im zweiten Halbjahr steigt der Anteil derer, die sich einsam fühlten, von 46 auf 71 Prozent. Zustimmung für Corona-Politik Überraschende Befunde bergen unter diesen Voraussetzungen die Bewertungen der Pandemiemaßnahmen von Bund und Ländern. Die Mehrheit der drei Einkommensgruppen hielt sie im Dezember 2020 für angemessen, sogar die Menschen, die durch niedrige Einkommen am meisten darunter litten. Auch in der Betrachtung nach Altersgruppen sind Ende des Jahres erstaunliche Ergebnisse dokumentiert.
Größte Zustimmung von unter 30-Jährigen und Alten ab 75 Jahren
Am meisten Zustimmung erhält die Politik für ihre Maßnahmen nämlich von unter 30-Jährigen und den Alten ab 75 Jahren. Es sind diejenigen, die sich vielfach isoliert fühlen. Wohin also driftet die deutsche Gesellschaft im zweiten Jahr der Pandemie? Geringverdiener (44 Prozent) und 45- bis 59-Jährige (42 Prozent) empfinden sie fast zur Hälfte als zerstritten und unübersichtlich. Ein Viertel der Mitte, jeder Fünfte (22 Prozent) in der Oberschicht und bei den unter 30- Jährigen (21 Prozent) sehen dies ebenfalls so. Zusammenfassend beobachteten die Forscher, dass 30 Prozent der befragten Studienteilnehmer fühlen, dass etwas falsch läuft, aber eine Lösung schwer greifbar ist. Aus deren Sicht handelt weder die Politik richtig, noch glauben sie selbst, eine Antwort geben zu können.
Das führt bei diesem fast einen Drittel zu klaren Fronten: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sich nicht abgeholt fühlen. Auf der anderen Seite finden sich diejenigen, die den Corona- Kurs vorgeben, bewusst mitgehen und verteidigen. „Die deutsche Konsensgesellschaft befindet sich jetzt offenbar am Scheideweg“, so der Ausblick von Bertelsmann-Studienleiter Unzicker.