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Vorbild IsraelKönnen uns schnelle Booster-Impfungen durch den Winter retten?

Lesezeit 9 Minuten
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Eine Klinik-Mitarbeiterin zieht den Covid-19 Impfstoff von Biontech/Pfizer für eine Impfung auf eine Spritze.

Berlin – Es war Bundes­gesundheits­minister Jens Spahn (CDU), der sich im Spätsommer in einem Gespräch in kleiner Runde äußerst besorgt zeigte. Wenn es nicht gelinge, die Impfzahlen deutlich nach oben zu bringen, stehe ein sehr schwieriger Winter bevor: Steigende Zahlen träfen dann auf eine möglicherweise über Monate gelähmte Bundespolitik, da eine schwierige Regierungs­bildung zu erwarten sei.

Letzteres scheint zwar schneller zu gehen als vorhergesagt. Gleichzeitig steigen die Infektions­zahlen aber auch deutlich rasanter als erwartet. „Die Situation ist sehr ernst“, sagte etwa der Grünen-Gesundheits­experte Janosch Dahmen. Und Bundes­kanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte „große Sorgen“ wegen der Hospitalisierungs- und Todeszahlen. Doch passiert ist bisher nur etwas, das gar nicht in die Zeit zu passen scheint: Noch bevor die Ampel­parteien ihre Koalitions­verhandlungen begonnen hatten, beschlossen sie, die nationale Pandemie­notlage zu beenden.

Derweil drehen sich die Debatten um verschärfte Corona-Maßnahmen, um die Impfkampagne und die Boosterimpfungen seit Tagen im Kreis, denn in der Bundesregierung will niemand mehr Entscheidungen treffen. Zwar ist die alte Regierung weiter geschäfts­führend im Amt. Doch es ist geübte politische Praxis, in dieser Übergangszeit das Land nur noch zu verwalten, aber keine weitreichenden Beschlüsse mehr zu fassen.

Und so baut sich die vierte Pandemiewelle immer höher auf und erfasst nicht nur die Ungeimpften, sondern auch immer mehr Geimpfte, deren erste Impfserie schon am Jahresanfang abgeschlossen war. Ein Überblick.

Wie ist die aktuelle Lage?

Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz ist nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) am Montag auf 154,8 gestiegen. Am Vortag lag sie bei 149,4, vor einer Woche noch bei 110,1. Binnen 24 Stunden meldeten die Gesundheits­ämter 9658 Neuinfektionen sowie 23 neue Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus. Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt seit zwei Wochen kontinuierlich an.

Vollständig geimpft sind dem RKI zufolge 66,7 Prozent der Deutschen, wobei das Institut wegen fehlender Impf­meldungen von einem leicht höheren Wert ausgeht. Auf den Intensiv­stationen liegen derzeit 2058 Covid-Patienten, 74 mehr als am Vortag.

Besorgniserregend ist auch die Zahl der Klinik­einweisungen wegen schwerer Atemwegs­infektionen insgesamt. Zuletzt wurden rund 800 dieser Neueinweisungen pro Woche gemeldet, so viele wie seit dem Jahres­wechsel nicht. 23 Prozent dieser Fälle machen Covid-Erkrankungen aus – 6 Prozentpunkte mehr als in der Vorwoche. Dem Kölner Infektiologen Gerd Fätkenheuer zufolge ist es wichtig, „die Krank­meldungen insgesamt im Auge zu haben“, wie er dem RND sagte. „Je mehr respiratorische Viren sich ausbreiten, desto höher ist auch das Risiko, dass Corona im Schlepptau mitkommt. Diese Gefahr ist in diesem Winter sicher größer als im vergangenen“, so der Mediziner.

Können Drittimpfungen den Trend stoppen?

Das ist die Hoffnung vieler Mediziner und Politikerinnen und Politiker. Bisher empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) Auffrischungen für Menschen ab 70 Jahren, für Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen, Menschen mit einem geschwächten Immunsystem und für Pflegepersonal. Demnach soll zur ersten Impfserie ein Abstand von sechs Monaten eingehalten werden. Für Menschen, die mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson geimpft wurden, empfiehlt die Stiko inzwischen vier Wochen nach der Impfung eine weitere Immunisierung mit einem mRNA-Impfstoff. Das gilt auch für jüngere Menschen.

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Die Gesundheits­minister von Bund und Ländern ermöglichen Auffrischungs­impfungen für alle Menschen ab 60 Jahren nach individueller Abwägung und ärztlicher Beratung. Eine Booster­impfung wird zudem allen Personen empfohlen, die ihre vollständige Impfserie mit dem Vakzin von Astrazeneca bekommen haben sowie Personen, die nach einer Coronavirus-Infektion eine Impfdosis eines Vektorimpfstoffs erhalten haben.

„Mit der Booster­impfung hat man medizinisch von Anfang an gerechnet, für mich ist das keine Überraschung“, sagt der Pharmazie­professor Theodor Dingermann dem RND. „Mit Blick auf die Daten ist eine Booster­impfung für alle Geimpften positiv oder jedenfalls nicht schädlich, das ist aus meiner Sicht eindeutig. Entscheidend ist aber der richtige Zeitpunkt – der rückt bei den Älteren, die zuerst geimpft wurden, jetzt näher.“ Er hält Drittimpfungen bei allen über 60-Jährigen für notwendig.

Kann sich jeder boostern lassen?

Rein rechtlich können unabhängig von den Empfehlungen alle Erwachsenen eine Auffrischimpfung in Anspruch nehmen. Die Ärzte können einem Impfwunsch folgen, müssen es aber nicht, da es ihrer medizinischen Einschätzung überlassen bleibt. Dass die Stiko bislang nicht allen Gruppen eine Drittimpfung empfiehlt, hat aus Sicht von Dingermann nicht nur medizinische Gründe.

„Ich bin großer Fan der Stiko, man muss aber bedenken: Sie wägt aber nicht ausschließlich medizinisch-pharmazeutisch ab, sie bezieht auch gesellschafts­relevante Aspekte wie die globale Impfstoff­knappheit mit ein“, sagt der Mediziner: „Man will keine Dosen einsetzen, wo sie nicht gebraucht werden.“ Natürlich müsse man sich gezielt die Frage der Notwendigkeit stellen, so Dingermann weiter. Seine Forderung: „Wir sollten das Ergebnis der Impfung bei Jüngeren in Form von Antikörper­tests kontrollieren – um zumindest einen Anhaltspunkt zu haben. Auch, wenn wir keine klaren Grenzwerte haben und auch, wenn die zelluläre Antwort hier nicht erfasst wird: Eine halbfertige Erfolgs­kontrolle der Impfung ist besser als gar keine.“ Bei über 60-Jährigen sei dies nicht nötig, denn „hier zeigen die Daten eindeutig, dass es eine dritte Impfung braucht.“

Als Vorbild wird immer das Beispiel Israel genannt. Was ist dort anders gemacht worden als in Deutschland?

Israel galt lange als Vorbild bei der Bekämpfung der Pandemie, weil sehr früh und sehr schnell geimpft wurde. Doch im Sommer stiegen die Infektions­zahlen auf neue Rekorde. Die Regierung setzte deshalb rechtzeitig auf Auffrisch­impfungen für die Älteren. Inzwischen ist die Inzidenz auf unter 50 gesunken – zeitweise lag sie bei mehr als 700. „Durch die Booster­impfungen konnten wir die vierte Welle besiegen“, berichtete der israelische Gesundheitsminister Nitzan Horowitz Ende vergangener Woche bei einem Besuch in Berlin. Erneute Lockdown­maßnahmen seien nicht nötig gewesen.

Der zunächst ausgestellt „grüne Pass“ als Eintrittskarte für das öffentliche Leben ist in Israel inzwischen ungültig, einen neuen erhält man nur mit Drittimpfung. „Die bestmögliche Booster­kampagne ist aktuell das wichtigste Instrument im Kampf gegen Corona, das Beispiel Israel zeigt das sehr deutlich“, meint Dingermann. „Israel ist uns drei Monate voraus und hat die Erfahrung gemacht, dass es ohne Booster nicht geht“, so der Pharmazeut.

Wäre es sinnvoll, die Impfzentren wieder zu öffnen?

Die Booster­impfkampagne verläuft nur schleppend. Rund zwei Millionen von mehr als 24 Millionen über 60-Jährigen haben bisher eine Auffrisch­impfung erhalten. Ob man aber erneut Hunderte große Impfzentren benötigt, die viel Personal binden, ist fraglich. „Effek­tiver als die Wieder­eröffnung aller Zentren ist der Einsatz einer großen Zahl von mobilen Impf­zentren, etwa Impf­bussen, die Booster- und Grippe­schutz­­impfungen sowie kosten­lose Tests gegen eine Bera­tung zur Impfung anbieten“, meint etwa der Grünen-Politiker Dahmen. Besonders gut besuchte Impfzentren würde er zusätzlich offen lassen. Unabhängig davon hält Dahmen es für wichtig, die Menschen schriftlich zu den Booster­­impfungen einzuladen.

Ist jetzt eine Impfpflicht für bestimmte Berufs­gruppen wie Pflege­kräfte nötig?

Die Debatte um eine mögliche Impf­pflicht für bestimmte Gruppen wurde zuletzt durch einen Corona-Ausbruch in einem Seniorenheim in Schorfheide mit einer zweistelligen Zahl an Todes­opfern befeuert. Dort war etwa die Hälfte des Pflege­personals ungeimpft. Brandenburgs Gesundheits­ministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) zeigte danach Verständnis für die Forderung nach einer berufsbezogenen Impfpflicht für Pflegende im medizinischen Sektor. Diese werde sich allerdings nicht leicht umsetzen lassen. „Da sind ja hohe juristische Hürden dahinter“, betonte sie. Die Sozial­ministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Stefanie Drese (SPD), will nun doch einen Impfzwang für Beschäftigte in der Pflege durchsetzen. „Es ist mein Ziel, eine Impfpflicht für Pflegepersonal rechtssicher hinzubekommen“, sagte sie dem Spiegel.

Als Schlüssel der Pandemiebekämpfung gelten die 3G- und 2G-Regel. Können diese überhaupt durchgesetzt werden?

Beim Besuch von Restaurants oder in Hotels machen Gäste derzeit höchst unterschiedliche Erfahrungen: Von einer sehr strengen Kontrolle bis zu einer höchst laxen Handhabung ist alles möglich. Manche Betreiber fragen nur und geben sich mit den Antworte der Gäste zufrieden.

Ingrid Hartges, Haupt­geschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststätten­verbands Dehoga, kritisiert ein Wirrwarr bei den Vorschriften. „In fast allen Bundesländern sind die gastgewerblichen Betriebe zur Kontrolle der entsprechenden Nachweise verpflichtet, ohne dass immer explizit ausgeführt wird, wie diese Kontrolle zu erfolgen hat“, sagte Hartges dem RND. „In einigen Bundesländen müssen die Gäste zur Nachweisführung auch ein amtliches Ausweispapier im Original vorlegen. Im Saarland sind die ‚Betreiber oder sonstigen Verantwortlichen‘ dagegen lediglich angewiesen, die Nachweispflichten in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich sicherzustellen.“

Die 2G-Regelung war und ist in der Branche nicht unumstritten, räumt Hartges ein. „Wie sich der Unternehmer entscheidet, hängt sehr stark vom Betriebstyp und von den Gästen ab. So hatten Clubs und Diskotheken mancherorts mit 2G überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, endlich wieder öffnen zu können. Kleine Restaurants haben sich für 2G entschieden, weil damit Abstands­regeln und Kapazitäts­begrenzungen entfallen. Andere befürchten Umsatz­verluste.“

Hartges sagt, dass nicht wenige Unternehmer von kontrovers und auch aggressiv geführten Diskussionen vor dem Restaurant­eingang mit den Gästen berichteten, die nicht geimpft seien und kein Verständnis zeigten für die Entscheidung des Unternehmers. „Das ist im Moment extrem schwierig. Es gibt auch Anfeindungen über die sozialen Medien. Das ist nicht hinnehmbar. Ich wünsche mir, dass die Gäste die Regeln und die Entscheidung des Unternehmers akzeptieren“, so Hartges.

Der Deutsche Tourismus­verband (DTV) unterstützt die eigenständige Entscheidung von Veranstaltern oder Gastgebern. „2G-Regel oder 3G-Regel – beide Modelle haben ihre Berechtigung und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden“, sagte DTV-Geschäftsführer Norbert Kunz dem RND. Kunz bestätigt Schwierigkeiten bei der Umsetzung. „In der Praxis kann es mitunter eine Herausforderung sein, Personal für diese zusätzlichen Einlasskontrollen und etwaige Diskussionen mit uneinsichtigen Gästen vorzuhalten. Aber diese Kontrollen sind absolut notwendig. Schließlich sollen sich alle Gäste sicher aufgehoben fühlen.“

Reicht das Ampel­papier für den Winter?

Die Entscheidung, die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ aufzuheben und damit die im Gesetz stehenden massiven Grundrechts­einschränkungen zurückzunehmen, bleibt nachvollziehbar. Juristisch scheint es nicht hinnehmbar, dass der Ausnahme­zustand, in dem die Regierung ohne Zustimmung des Bundestags agieren kann, länger als unbedingt nötig ausgedehnt wird. Da Impfstoffe zur Verfügung stehen, lässt sich die Unverhältnismäßigkeit vieler Einschränkungen plausibel begründen. Zentrale, niedrigschwellige Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – eine Maskenpflicht oder Zugangs­beschränkungen etwa – bleiben bis ins Frühjahr möglich. Viel mehr nicht.

Und hier gehen die Ampel­parteien in einem Punkt womöglich zu weit: Sie wollen auch die Möglichkeit streichen, dass einzelne Bundesländer mit Zustimmung ihrer Landes­parlamente erneut schärfere Maßnahmen erlassen können, zum Beispiel Ausgangs- oder Kontakt­beschränkungen sowie die Schließung von Freizeit­einrichtungen und -veranstaltungen. Damit wären die in einigen Ländern bestehenden Stufenpläne hinfällig, die beim Erreichen bestimmter Schwellwerte Verschärfungen vorsehen. Im Bundes­gesundheits­ministerium ist man daher gegen die Streichung der Passage im Infektions­schutzgesetz. „Das wäre fahrlässig“, hieß es. Der mutmaßlich nächste Kanzler, Olaf Scholz (SPD), machte jedoch schon einmal deutlich, an den Beschlüssen festhalten zu wollen: „Klar ist, dass wir in einer Situation, in der so viele Bürger geimpft sind, natürlich nicht mehr mit den gleichen Maßnahmen wie Lockdowns reagieren können.“