Protest der RücksichtslosenWie 20.000 Corona-Leugner die zweite Welle herbeirufen
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In Berlin haben Verschwörungsideologen, Impfgegner und Rechtsextreme gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert.
Rund 20.000 Menschen beteiligten sich an der Demo, die schließlich von der Polizei aufgelöst wurde – viele ohne Mundschutz.
Die Veranstalter behaupten, es hätten 65-mal so viele an ihrem Protest teilgenommen.
Berlin – Das sei gerade die größte und friedlichste Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik, ruft Bodo Schiffmann von der Bühne auf der Straße des 17. Juni im Berliner Tiergarten. 1,3 Millionen Menschen seien auf der Straße, erklärt der Arzt und Verschwörungsideologe. 20.000 Menschen hätten sich in der Spitze an der Demo beteiligt, teilt hingegen die Polizei Berlin mit. Die zweite Zahl erscheint deutlich realistischer.
Trotzdem ist die Versammlung eine der größten Demos, die die Szene der Verschwörungsideologen und selbst ernannten “Corona-Rebellen” seit dem Ausbruch der Corona-Epidemie in Deutschland organisiert hat. Die Szene glaubt sich in Sicherheit: Die Demonstranten wollen auf den Straßen der Hauptstadt das Ende der Pandemie feiern.
Dass die Zahl der Neuinfektionen laut den Daten des Robert-Koch-Instituts in Deutschland wieder ansteigt, dass die Kurve in Ländern wie den USA, Brasilien oder Indien weiter in die Höhe schießt, anstatt abzuflachen – all das sind da bloß lästige Fakten. Der 1. August solle durch den Protest zum “Tag der Freiheit” gemacht werden, verkünden die Veranstalter. Unter Freiheit verstehen sie vor allem: keine Masken tragen zu müssen.
Und das tun sie auch nicht, obwohl die Polizei es ihnen aufgetragen hatte. Mund-Nasen-Schutz und Abstandhalten, das waren zwei der Auflagen für die Demonstration. Tatsächlich tragen an diesem heißen und sonnigen Samstagnachmittag jedoch fast ausschließlich Journalisten und Polizisten eine Gesichtsbedeckung – und die Gegendemonstranten, die an einigen Stellen der Demostrecke hinter Polizeiabsperrungen stecken und vor allem gegen rechtsextreme Umtriebe protestieren.
Über mehrere Stunden können die Demonstranten durch das Zentrum Berlins laufen, ohne dass die Hygieneregeln von der Polizei durchgesetzt werden. Die “Frieden, Freiheit”-Rufe vom Lautsprecherwagen an der Spitze des Aufzugs übertönen dabei immer wieder die Aufforderungen der Polizei, sich an die Regeln zu halten. Auch die Veranstalter selbst verlesen diese Auflagen zwar regelmäßig, um ihre Pflicht zu tun, bei den Demonstranten ruft das jedoch lediglich Buhrufe und Desinteresse hervor. An der Seite des Lautsprecherwagens hängt ein Werbeplakat für die Demo: “Wir sind die 2. Welle.”
Verschwörungsideologen und Rechstextreme
Zu der Versammlung hatte die Stuttgarter Initiative Querdenken-711 aufgerufen, die schon zu den Hochzeiten der Corona-Schutzmaßnahmen – und der Corona-Verschwörungserzählungen – mehrfach Demonstrationen in Stuttgart organisiert hatte. In einem Aufruf zur Berliner Demo fordert Querdenken nicht nur die “sofortige Aufhebung der Corona-Maßnahmen”, sondern auch Neuwahlen im Oktober 2020.
Auch eine Vielzahl weiterer verschwörungsideologischer und rechtsextremer Gruppen und Personen hatte in den vergangenen Wochen zu der Demo mobilisiert. Das rechtsextreme “Compact-Magazin” verbreitete einen eigenen Aufruf, auch die NPD rief zur Teilnahme auf.
Das Bild, das sich am Samstag bietet, überrascht deshalb nicht: Es ist eine bunte Mischung an Menschen, wie sie schon auf vielen der Corona-Demos der vergangenen Monate zu sehen war. Junge und Alte, konservativ und alternativ Aussehende. Was viele von ihnen verbindet, das zeigen auch die Schilder und T-Shirts, die auf der Demo zu sehen sind, sind der Glaube an Verschwörungserzählungen und ihre Impfgegnerschaft.
Bill Gates als vermeintlicher Überschurke einer “Neuen Weltordnung” ist auf der Demonstration allgegenwärtig. Ein Demonstrant fordert dazu auf, den “Putsch des Merkel-Regimes gegen unser Grundgesetz” zu stoppen, ein anderer vergleicht auf seinem Plakat den Mund-Nasen-Schutz mit dem “Judenstern” und relativiert damit den Holocaust. Ein dritter ruft auf seinem T-Shirt dazu auf, die antisemitischen “Protokolle der Weisen von Zion” zu lesen. Auch Neonazis wie der NPD-Politiker Udo Voigt nehmen an der Demonstration teil.
Corona-Festival mit lautem Techno und wenig Abstand
Erst als die Spitze der Demonstration ihren Endpunkt nahe dem Brandenburger Tor schon fast erreicht hat, verkündet die Berliner Polizei, gegen den Versammlungsleiter sei eine Strafanzeige wegen der Nichteinhaltung der Hygieneregeln gefertigt worden. Auf der Straße des 17. Juni beginnt kurz darauf die Abschlusskundgebung.
Der Gründer der Initiative Querdenken-711, Michael Ballweg, soll hier sprechen, außerdem der rechte Verschwörungsideologe Heiko Schrang und der Arzt Bodo Schiffmann, der es als “Corona-Skeptiker” und Gesicht der mittlerweile längst gescheiterten Anti-Corona-Maßnahmen-Partei Widerstand 2020 zu einiger Prominenz in der Szene gebracht hat. Auch mehrere Bands spielen vor dem Demopublikum.
Aus der Corona-Demo wird schnell so etwas wie ein Corona-Festival mit lauter Technomusik und stimmungshebenden Ansagen, die mehr klingen wie die eines Animateurs als die eines Demomoderators. Rund um die Bühne stehen die Demonstranten dicht gedrängt, auch auf den schattigen Wegen des umliegenden Tiergartens ist kaum ein Durchkommen.
Kein Platz für Rechtsextremismus – oder?
In einer Rede erklärt Michael Ballweg, in der Protestbewegung sei kein Platz für Links- oder Rechtsradikalismus. Keine zwei Minuten später zitiert er den Slogan “Where we go one, we go all”, der Qanon-Verschwörungserzählung, die vom FBI in den USA als mögliches Terrorrisiko eingestuft wird. Das Q stehe für ihn für “eine Gruppe von Fragestellern, die uns zum Nachdenken und recherchieren anregen”.
Unter dem Pseudonym Q im Internet veröffentlichte kryptische Botschaften sind das Fundament einer Verschwörungserzählung über angebliche kindermordende globale Netzwerke aus Politikern und Hollywoodstars. In den USA wurden bereits mehrere Morde und Gewalttaten von Anhängern dieser Erzählung begangen. Während Ballweg spricht, weht vor der Bühne eine Q-Fahne, daneben hat sich ein Mann eine Fahne in den Farben des Deutschen Reichs wie einen Superheldenumhang umgehängt.
Polizei löst Kundgebung schließlich auf
Einige Zeit später löst die Polizei die Kundgebung dann tatsächlich auf, weil der Versammlungsleiter Abstand zwischen den Teilnehmern und das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes nicht gewährleisten könne, wie die Behörde mitteilt. Zu diesem Zeitpunkt haben die Demonstranten ihre Parolen schon seit mehr als sechs Stunden ohne Masken durch Berlin gerufen.
Die Veranstalter ergeben sich diesem späten Einschreiten der Polizei jedoch nicht einfach: Mehrere der Demoorganisatoren müssen von der Polizei von ihrer Bühne geholt werden. Auch viele Demonstranten bewegen sich nach den Aufforderungen der Polizei zunächst nicht von der Stelle. Etwa 3000 setzen ihren Protest schließlich vor dem Reichstagsgebäude fort – wo bereits eine Reichsbürger-Kundgebung stattfand. Mehrere Hundert Demonstranten bildeten außerdem eine Menschenkette um das Bundeskanzleramt.
Vor der Beendigung prophezeite der Autor und Verschwörungsideologe Heiko Schrang in seiner Rede noch, die Straße des 17. Juni werde spätestens in zehn Jahren in die “Straße des 1. August” umbenannt werden. Dass der Protest der Corona-Maßnahmen-Gegner im demoerfahrenen Berlin einen derartigen Eindruck hinterlässt, ist jedoch eher unwahrscheinlich. (rnd)