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Interview

Was in der Bildung im Argen liegt
„Jeder Schüler verliert ein Jahr durch Unterrichtsausfall, das ist ein Skandal“

Lesezeit 10 Minuten
Tim Engartner ist ein Kölner Bildungsexperte und Professor für Sozialwissenschaften an der Uni Köln.

Der Kölner Bildungsexperte und Sozialwissenschaftler Tim Engartner ist Autor des Buches „Raus aus der Bildungsfalle“.

Der Kölner Bildungsforscher und Sozialwissenschaftler Tim Engartner findet, dass Lehrkräfte zu oft krank sind und dass Unterricht bis zur Klasse 10 komplett analog stattfinden sollte.

In Ihrem Buch „Raus aus der Bildungsfalle“ analysieren Sie, woran unser Bildungssystem krankt. Wie beschreiben Sie die bildungspolitische Lage im Land der Dichter und Denker?

Unsere Bildungseinrichtungen lösen die Ansprüche, die an die von Ex-Kanzlerin Angela Merkel proklamierte „Bildungsrepublik“ gestellt werden müssten, nicht ein. Im Kern lässt sich die Bildungsmisere auf einen Befund reduzieren: Wir geben zu wenig Geld aus. Im letzten Jahr hat Deutschland gerade einmal 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus öffentlichen Haushalten ausgegeben. Damit sind wir näher am EU-Schlusslicht Rumänien als am Spitzenreiter Schweden, das verlässlich rund 7,5 Prozent für Bildung ausgibt.

Wie wirkt sich das Sparen an der Bildung konkret aus?

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Auf dem Weg zum Abitur verlieren Schüler hierzulande inzwischen ein komplettes Schuljahr aufgrund von Unterrichtsausfall. Das ist ein skandalträchtiger Zustand, der ebenso dringend wie zwingend abgestellt gehört. Nicht zuletzt die unzureichende Personalausstattung der Schulen ist dafür verantwortlich, dass wir derzeit ein Drittel jedes Jahrgangs, der nicht richtig lesen und schreiben kann, abhängen. Mehr als 50.000 Schülerinnen und Schüler verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Verdreckte Toiletten, verschimmelte Wände, defekte Heizungen und fehlende Mensen konterkarieren vielfach das Idealbild der Schule als „Haus des Lernens“. Auch im Bereich der frühkindlichen Bildung ist die Lage dramatisch. So geht ein Drittel der unter Sechsjährigen nicht in die Kita. Dabei bräuchten wir dringend eine Kitapflicht – gerade für Kinder, die zuhause nicht Deutsch als Muttersprache lernen.

Die heiße Phase des Wahlkampfs hat begonnen. Aber obwohl es an so vielen Enden in den Schulen der Baum brennt, spielt das Thema Bildung im Wahlkampf so gut wie keine Rolle…

Das Thema wird leider in seiner Dringlichkeit nicht wahrgenommen. Bildungspolitik segelt – wie die Verkehrspolitik – eher im Schatten der Wirtschafts-, Finanz- und Außenpolitik. Hinzu kommt, dass Politiker für gewöhnlich kurzfristig orientiert sind. Sie haben meist nur die laufende Legislatur und allenfalls die nächste vor Augen. Bildungsinvestitionen amortisieren sich aber erst nach vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Darum genießen sie nicht die erforderliche Priorität. Dabei ist Bildungspolitik die beste Form präventiver Sozialpolitik. Das haben unter anderem die Skandinavier längst begriffen.

Auch beim Schulbau fehlt häufig das Geld. Viele Schulen sind marode und es gibt Sanierungsrückstände.

Der bauliche Zustand vieler Kölner Schulen ist desaströs. Köln investiert mehr als 1,2 Milliarden Euro in die Sanierung der Oper. Das Geld hätte ausgereicht, um jedem Schüler der Stadt 8000 Euro zur Verfügung zu stellen. Das offenbart die städtische Geringschätzung des Erfahrungs-, Schutz- und Sozialisationsraums Schule. Dabei weiß jeder, dass Opern hochgradig subventionierte Projekte der Eliten sind. Aber ich glaube, dass viele Entscheidungsträger – wie auch Oberbürgermeisterin Henriette Reker – für die Problematik der Schulwelt überhaupt nicht empfänglich sind. Ihr fehlt es schlicht an Empathie und Engagement für die Dringlichkeit schulischer Anliegen.

Mindestens sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollte in Bildung fließen

Für die Bundeswehr gab es in akuter Not kurzfristig ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro. Wäre das die Lösung?

Wenn wir das für die Bundeswehr kurzfristig aus der Taufe heben können, müsste das in der selbst ernannten „Bildungsrepublik Deutschland“ natürlich auch für Bildungsausgaben möglich sein. Das ist letztlich eine Frage der Priorisierung in den öffentlichen Haushalten. Aber so ein Sondervermögen wäre meines Erachtens auch nur die zweitbeste Lösung. Und eben auch zu wenig vor dem Hintergrund, dass nach einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik allein für die Sanierung der Schulgebäude 55 Milliarden benötigt würden. Ähnlich wie die NATO-Mitgliedsstaaten das Zwei-Prozent-Bekenntnis festschreiben, müssten in Deutschland mindestens sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts jährlich verlässlich in Bildung fließen. Außerdem streiten wir fortwährend darüber, wer für Bildung in unserer komplexen föderalen Struktur aufkommen darf. Es gibt da eine völlig anachronistische Trennung in der Finanzierung – und dies in einer Situation, wo die Kommunen finanziell hoffnungslos überfordert sind. Nur noch 73 von 427 Kommunen in NRW konnten 2023 ihren Haushalt wirklich ausgleichen. Man sollte ermöglichen, dass auch für Bildung grundsätzlich kompensatorisch Mittel vom Bund an die Kommunen fließen dürfen.

Was läuft denn innerhalb des Systems schief?

Leider eine Menge. Und die Probleme sind überwiegend struktureller Art. So weisen deutsche Lehrkräfte je nach Bundesland durchschnittlich bis zu 30 Krankheitstage pro Jahr auf. Das ist der höchste Krankenstand aller akademischen Berufe in Deutschland. Natürlich gibt es sehr viele höchst motivierte und enorm engagierte Lehrkräfte, die auch krank nicht fehlen. Aber es gibt eben nicht wenige, die den sicheren Schoß des Beamtentums missbrauchen. Es muss die Frage erlaubt sein, ob diejenigen den Lehrerberuf ergreifen, die für den Job am besten geeignet sind, oder ob der Job in besonderer Weise Personengruppen anzieht, die nicht in erster Linie eine pädagogische oder fachliche Motivation mitbringen.

Das heißt, Sie würden die Verbeamtung zur Disposition stellen?

Die Verbeamtung ist nicht nur in meiner Berufsgruppe eine heilige Kuh – und daran zu rütteln eher unrealistisch. Zum einen würde ein letztes Anreiz-Instrument, sich für den Lehrerjob zu entscheiden, entfallen. Zum anderen käme es die Bundesländer sehr viel teurer, wenn sie für ihre angestellten Lehrkräfte in die Sozialversicherungssysteme einzahlen müssten. Aber wir haben noch andere systemische Probleme: Wir haben im Grunde keinen Lehrkräftemangel, sondern einen Unterrichtsversorgungsengpass. Drei von vier Lehrkräften gehen vorzeitig in Pension. 43 Prozent arbeiten in Teilzeit. Hinzu kommt, dass wir schon ganz am Anfang von der Einschreibung bis zum Eintritt in den Schulbetrieb die Hälfte der Studierenden verlieren. All das zusammen funktioniert eben nicht.

Wenn Sie das so pauschal formulieren, verkennen Sie aber einen wichtigen Grund, warum immer mehr in Teilzeit gehen. Weil eine volle Stelle angesichts der immer höheren Anforderungen bei gegebenenfalls zwei Korrekturfächern schlicht nicht zu schaffen ist.

Vollkommen richtig. Es gibt zahlreiche zwingende Gründe für Teilzeitbeschäftigungen. Aber wir müssen dringend Anreize schaffen, die dafür sorgen, dass Lehrkräfte länger im System bleiben. Die fehlende Wertschätzung, wenn Kopien oder Klassenfahrten privat bezahlt werden müssen, gehört beendet. Dann ist da noch der hohe Anteil an fachfremd erteiltem Unterricht, der die Lehrkräfte stresst und frustriert. In meinem Fach Sozialwissenschaften unterrichten – je nach Bundesland – in der Sekundarstufe I mehr als 60 Prozent der Lehrkräfte das Fach, ohne es studiert zu haben. Fort- und Weiterbildungen sind Mangelware und faktisch in keinem Bundesland obligatorisch, so dass Lehrer sie auch nicht einfordern können. Auch die fehlende Feedback-Kultur sorgt dafür, dass Lehrkräfte ihren Job nicht gerne dauerhaft ausüben: Wann bekommt ein Lehrer schon einmal ein Lob?

Lehrkräfte brennen aus, weil die Lerngruppen zu groß und zu heterogen sind

Immer heterogenere Lerngruppen, immer mehr Schüler mit psychischen Problemen, immer mehr zusätzliche Aufgaben von Demokratiebildung bis hin zur digitalen Transformation und KI im Unterricht. Da gehen eben auch viele gesundheitlich in die Knie, weil der Belastungslevel enorm hoch ist.

Burnout-Faktor Nummer 1 ist tatsächlich die zu große Heterogenität der Lerngruppen – gerade an Gesamtschulen, wo es nur selten eine Kompensation über zusätzliches Personal gibt. Und gerade in der Sekundarstufe I gibt es viel zu große Klassen und damit eine ständige Überforderung von Lehrenden und Lernenden: Wir haben keine Lernbegleiter, die Sprachförderung oder auch Inklusion systematisch begleiten. Auch für multiprofessionelle Teams wird kein Geld ausgegeben. Da sind wir wieder bei der chronischen Unterfinanzierung des Bildungssystems. Stattdessen versuchen wir jetzt über Digitalisierung all das zu kompensieren, was wir über Personalausstattung nicht geleistet bekommen.

Was die Schulen sich schon lange vergeblich wünschen, ist, dass die Lehrpläne entschlackt werden. Aber statt etwas wegzulassen, kommt von Seiten der Schulministerien immer Neues hinzu.

Schülerinnen und Schüler einer Grundschule.

Ginge es nach Tim Engartner, würden die Schülerinnen und Schüler in Deutschland bis zur 10. Klasse analog lernen.

Ich bin mir nicht sicher, ob das Entschlacken nötig ist. Wichtiger wäre statt eines Halbtagssystems mit Offenen Ganztag, ein echter Ganztag. Wann endlich haben wir den Mut für Strukturreformen, die auf die ganztägige Schule von 8 bis wenigstens 16 Uhr setzen, um Kinder und Jugendliche aus bildungsbenachteiligten Milieus besser zu fördern? Stattdessen wird die Betreuungsrelation im Offenen Ganztag immer schlechter. Wir bräuchten eine Schule als „Haus des Lernens“, das auch die Freizeitaktivitäten integriert. Ebenso wie fächerübergreifenden Unterricht. Wir müssten viel stärker interdisziplinär arbeiten. Wir brauchen nicht ein Einzelfach „Politik“ oder „Geschichte“. Das Problem ist vielmehr, dass wir in den letzten Jahren die Anforderungsniveaus runtergefahren haben. Im Vergleich zu den PISA-Ergebnissen von 2000 offenbaren die heutigen PISA-Ergebnisse einen Lernrückstand von anderthalb Jahren. Innerhalb von 24 Jahren. Ich will jetzt nicht den Bildungspessimisten geben: Aber es gibt einen erheblichen Verlust an Anstrengungsbereitschaft.

Gleichzeitig klagen Schulleiter über hohen Druck im System Schule und Schülerinnen und Schüler erst zuletzt im Schülerbarometer über den großen Stresslevel.

Das ist aber nicht ein Problem der Überfrachtung von Unterricht, sondern allenfalls der Standardisierung von Leistungsüberprüfung, die von zentralen Lernstandserhebungen bis hin zum Zentralabitur reichen. Also von „Teaching to the test“. Die Inhalte müssen in zu kurzer Zeit vermittelt werden. Gleichzeitig haben die Lehrkräfte gar keine Möglichkeit, ihre Schwerpunkte zu setzen, wenn sie knallhart den Lehrplan abarbeiten müssen. Das ist ein Frustrationserlebnis. Gleichzeitig ist das System hoch verrechtlicht. Lehrkräfte sollten viel mehr Entscheidungsfreiräume haben, mehr Freiheit.

Schulen sollen bis zur Klasse 10 digitalfreie Räume sein

Wie sehen Sie die Themen Digitalisierung und Handynutzung an Schulen?

Derzeit nimmt das klassische Bildungsideal massiv Schaden, weil wir allzu häufig über digitale Lernkonzepte und künstliche Intelligenz sprechen statt den Schülern zu vermitteln, dass es so etwas gibt wie einen Wissenskanon, ein grundständiges Wissen, über das man verfügen muss, um sich in einer Welt zu orientieren, die immer komplexer geworden ist. Ich will nicht das Schlagwort von der digitalen Demenz bemühen. Aber die neuronale Vernetzung ergibt sich in erster Linie über kognitive Aktivierung. Man muss dafür sorgen, dass das Hirn in Bewegung gesetzt wird. Stattdessen manövrieren wir die Schüler in eine Rezepientenhaltung, so dass sie unter anderem verlernen, sich Inhalte im Dialog oder Gespräch zu erarbeiten. Weil die Gesellschaft um uns herum schon so weitreichend digitalisiert ist, könnte man dem dadurch begegnen, dass man die Schule zum digitalfreien Raum erklärt.

Nachdem wir jahrelang mit dem Digital-Pakt Tablets angeschafft haben, wollen Sie jetzt alles Digitale wieder rausschmeißen?

Ja, ich plädiere dafür, die ersten zehn Schuljahre komplett analog zu halten – auch ohne den Einsatz von Tablets im Unterricht. Lesen, Schreiben und Rechnen – das sind die zentralen Kulturtechniken. Zahlreiche Studien belegen, dass das handschriftliche Verfassen eines Textes die Memorierfähigkeit von Inhalten deutlich erhöht. Ich beobachte an der Hochschule, dass diejenigen Studierenden, die mitschreiben – ganz klassisch mit dem Stift oder mit dem E-Pen auf dem Tablet – die besten sind. Der Nachweis, dass durch das Digitale der Unterricht automatisch verbessert wird, ist noch nicht erbracht. Platons Höhengleichnis oder Kants kategorischer Imperativ lassen sich nicht durch Youtube-Clips erschließen. Das muss man lesen, da muss man sich durch einen Text durchbeißen.

Digitalität darf nicht fehlende Lehrkräfte ersetzen

Und zu Hause machen dann alle ihre Hausaufgaben mit Chat GPT. Kann man Schule so zur Insel des 20. Jahrhunderts machen?

Ich gebe Ihnen Recht, dass Schule sich auch wandeln muss. Aber Jugendliche verbringen im Schnitt jeden Tag dreieinhalb Stunden vor digitalen Endgeräten. Muss man das in der Schule noch ausdehnen? Meine Befürchtung ist die, dass wir über das Digitale den Personalmangel kompensieren. In Sachsen gibt es schon das „4 plus 1“-Modell. Da gehen die Kinder nur noch an vier Tagen zur Schule. Der Freitag ist unterrichtsfrei gestellt. Da sollen die Kinder dann zu Hause digital gesteuert lernen. Das habe ich als Bedrohungsszenario vor Augen, wenn man bedenkt, dass es die direkte Kommunikation ist, die Nachbar-, Partner- und Freundschaften zusammenhält.

Tim Engartner: Raus aus der Bildungsfalle: Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden, Verlag Westend, 25 Euro.