Leverkusen – Vor Jahrzehnten hat Reiner Calmund im Schatten der rheinischen Großklubs einen Grundsatz erkannt, der für Leverkusen ewige Gültigkeit hat: Bayer 04 darf nicht langweilig sein. Vielleicht kurzfristig erfolglos oder wieder einmal tragisch vor dem Ziel scheiternd – aber niemals langweilig. Beachtung ist neben Punkten das Wichtigste für ein fremd unterstütztes Konstrukt im nach Ursprünglichkeit lechzenden deutschen Profi-Fußball.
Deshalb hat der einstige Zampano Calmund 1993 mit der Verpflichtung von Dragoslav Stepanovic und Bernd Schuster einen Glamour in die Chemie-Stadt gebracht, die er damals „Zirkusmief“ nannte. Seit der Ankunft von Xabi Alonso am Donnerstag ist Bayer 04 diese Form der Beachtung wieder sicher.
Xabi Alonso bringt Flair in die Bay-Arena
Plötzlich schaut die deutsche Gemeinde wieder in Richtung Bay-Arena, und selbst die bedrohliche sportliche Situation des auf Absteiger-Niveau herabgesunkenen Champions-League-Teilnehmers wird für einen Moment zur Nebensache. Xabi Alonsi ist da! Ein Weltmeister, zweifacher Europameister, Doppel-Gewinner der Champions League, ein 114-facher spanischer Nationalspieler und Stratege, der das Spiel mit seinen Ultraschall-Pässen auf ein neues Niveau gehoben hat, wird Teil der deutschen Familie. Wow!
Lothar Matthäus, inzwischen anerkannter „Sky“-Experte, erklärte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur: „Die Bundesliga kann sich auf einen ganz Großen freuen. Er war als Spieler schon derjenige, der das Orchester angeführt hat.“ Michael Reschke, der 2014 als Technischer Direktor für den FC Bayern die Verhandlungen beim Alonso-Wechsel von Real Madrid nach München geführt hat, gerät ins Schwärmen. „Xabi umgibt eine natürliche Aura. Er ist in kürzester Zeit beim mit Stars voll besetzten FC Bayern die Hierarchie-Leiter nach oben geschossen und Führungsspieler geworden. Dafür hat eigentlich sein erstes Spiel auf Schalke schon gereicht. Alle haben auf sein Wort gehört“, sagte der langjährige Manager von Bayer 04 dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Fähigkeiten in der Nähe von Zauberei wären für den neuen Bayer-Trainer in der Tat nützlich. Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes stellte klar, dass die Erwartungen exorbitant sind, weil „wir weiterhin hohe Ziele haben“. Sprich: mindestens die Qualifikation für den Europapokal der kommenden Saison. Gerne aber auch das Wunder einer Champions-League-Teilnahme.
Das definiert die Größe der Aufgabe. Xabi Alonso übernimmt einen Bundesligisten, der am neunten Spieltag fünf Punkte auf dem Konto hat. Für den Sprung in die Königsklasse haben in den vergangenen fünf Jahren weniger als 58 Punkte nur einmal gereicht (2017/18). Im Durchschnitt waren 59,4 Punkte nötig. Sollte Bayer 04 unter dem neuen Trainer in den 26 Spielen bis Saisonende im Durchschnitt zwei Punkte pro Spiel holen, hätte man die Saison mit 57 Punkten beschlossen, was statistisch gesehen mit geringer Wahrscheinlichkeit wieder in die Champions League führen würde.
Zur Einordnung: Zwei Punkte im Schnitt oder mehr haben in der Geschichte von Bayer 04 über den Zeitraum einer ganzen Saison nur Christoph Daum (1999/2000) und Jupp Heynckes (2010/2011) gewonnen.
Klubchef Carro wegen Trennung von Seoane "tief traurig"
Ein Sieg über den aktuell strauchelnden Tabellenfünfzehnten Schalke 04 ist für Xabi Alonso und Bayer 04 am Samstag (15.30 Uhr/ausverkauft) ein Muss. Der Spanier hatte nur zwei Trainingseinheiten, um seine eigene Mannschaft in groben Zügen kennenzulernen. Die Namen der Schalke-Spieler hat man ihm vermutlich buchstabieren müssen. Xabi Alonso ist sich im Klaren darüber, dass sein Einfluss erst einmal nur emotional sein kann. „Ich werde versuchen, den Spielern klare Anweisungen und Ideen mit auf den Weg zu geben, ich möchte ihnen helfen und eine neue Energie reinbringen“, hat er gesagt.
Klubchef Fernando Carro fand unterdessen noch einmal Worte des Bedauerns für die bizarre Trennung von Gerardo Seoane, der als Chef-Trainer von Bayer 04 am Montag nach Porto flog und als de facto Arbeitsloser am Mittwoch wieder auf dem Flughafen Köln/Bonn landete. „Die letzten Tage und Wochen waren hart und herausfordernd. Für Verein, für Mannschaft und ehrlich gesagt auch für mich. Es tut weh, dass wir es trotz aller Bemühungen nicht geschafft haben, die Situation umzukehren“, schrieb der Vorsitzende der Geschäftsführung im Netzwerk „LinkedIn“. Er sei „tief traurig“ über die Trennung. Man habe „viel Energie in den Versuch gesteckt, eine Konstellation zu sichern, an die wir fest geglaubt haben“.
Über Nacht ist eine neue Konstellation entstanden, mit dem großen Hoffnungsträger Xabi Alonso. Was zum Neuanfang noch fehlt, ist ein Sieg über den FC Schalke 04.