Leverkusen – Es ist der 13. März 2022, kurz vor vier Uhr Nachmittag. Bayer 04 Leverkusen spielt gegen den 1. FC Köln. Fußball-Bundesliga. Florian Wirtz läuft mit dem Ball parallel zum 16-Meter-Raum, gerät in einen Zweikampf mit dem Kölner Luca Kilian, versucht, nach einem Sprung auf dem linken Fuß zu landen, knickt mit einer seltsamen Bewegung um und sinkt zu Boden.
Dort zeigt er sofort alle Anzeichen von Verzweiflung, schlägt die Hände vors Gesicht, trommelt mit den Fäusten auf den Boden. Im Stadion wird es still. Betreuer rennen auf den Platz. Die Spieler des 1. FC Köln, von denen ihn einige aus der Jugend gut kennen, blicken betroffen. Sogar Schiedsrichter Sascha Stegemann aus Niederkassel hält die Luft an. Alle wissen: Florian Wirtz hat sich schwer verletzt. Geschulte Beobachter tippen sofort auf Kreuzbandriss. Die schlimmste Verletzung, die einen Fußball-Profi am Bänderapparat treffen kann. Manche fallen danach ein Jahr aus.
Sofort ist klar: Es ist etwas Schlimmes passiert
Vater Hans-Joachim Wirtz sitzt auf der Tribüne und leidet, als er sieht, wie sein jüngster Sohn auf einer Trage aus dem Innenraum geschafft wird. „Wenn man Kinder hat, ist man immer um ihr Wohlergehen besorgt“, sagt der Lehrer für Sonderpädagogik und Sport im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, „wir haben schon im ersten Moment gesehen, dass etwas Schlimmes passiert ist und waren erschrocken.“ Danach gelten die Gedanken nur noch der Gesundheit des damals noch 18-jährigen Florian. Die Gedanken an das Spiel, das der FC 1:0 gewinnt, an die Karriere, den Klub Bayer 04 und die Fußball-Nationalmannschaft werden auf einen Schlag unwichtig.
Sein Sohn, das weiß Hans-Joachim Wirtz aus Pulheim-Brauweiler, wird sehr lange nicht Fußball spielen können. Heute, dreieinhalb Monate später, weiß er, dass er recht hatte. Während viele Kollegen auf dem Trainingsplatz nach wochenlangem Sommerurlaub in der Saison-Vorbereitung schon wieder den Bällen hinterherrennen, schuftet Florian Wirtz in der sogenannten „Werkstatt“ von Bayer 04 immer noch an Geräten und Maschinen, um wieder ganz gesund zu werden.
Die Wiederherstellung eines Fußball-Profis nach einem Kreuzbandriss gilt als Königsdisziplin der sportmedizinischen Rehabilitation. Sie beginnt prinzipiell in der Sekunde nach der Verletzung mit der Erstdiagnose, dem so genannten Schubladentest. Das Knie des mutmaßlich Verletzten wird im 90-Grad-Winkel gebeugt, der Unterschenkel mit beiden Händen umfasst. Die Zeigefinger liegen in der Kniekehle. Lässt sich der Unterschenkel, wie bei Florian Wirtz am 13. März, zum Oberschenkel verschieben wie eine Schublade, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Kreuzbandriss vor.
So funktioniert die Operation bei einem Kreuzbandriss
Nach dem Abschwellen des traumatisierten Gewebes kann operiert werden. Körpereigene Sehnen werden an die Stelle der gerissenen Bänder verpflanzt und sollen irgendwann deren Funktion im hochkomplexen Apparat des Knies übernehmen. Florian Wirtz lässt die OP knapp zwei Wochen nach der Verletzung vom Spezialisten Dr. Christian Fink in Innsbruck vornehmen und beginnt schon wenige Tage später die Reha in Leverkusen.
Diese Phasen nach schweren Verletzungen sind die härtesten im Leben eines Fußball-Profis, viel herausfordernder als das brutalste Trainingslager und die schlimmsten Englischen Wochen im furchtbaren Wetter des Frühwinters, wenn Top-Mannschaften im Drei-Tage-Rhythmus über die Plätze Europas gescheucht werden. Hier sind die Spieler anderer Mannschaften, der Erfolgsdruck, physische und mentale Erschöpfung, möglicherweise auch der eigene Trainer und die Mitspieler die härtesten Gegner. Bei einer Reha gibt es nach schwerwiegenden Verletzungen nur einen Gegner, der aber viel mächtiger ist als alle anderen: Der eigene Körper; die Schmerzen, die er einem zufügt; die Untätigkeit, zu der er einen verurteilt. Und vor allem: Das Fußball-Verbot, das er einem jungen Menschen auferlegt, der nichts besser kann als Fußballspielen.
„Er hat vom ersten Tag große Disziplin gezeigt"
Der Kampf gegen diesen Gegner ist eine Herausforderung, die Florian Wirtz bis zum 13. März 2022 nicht gekannt hat. Es hat auch erfahrene Beobachter überrascht, wie entschlossen er sich ihr stellte. „Er hat vom ersten Tag an sehr große Disziplin gezeigt“, sagt Leverkusens Geschäftsführer Simon Rolfes (40), der als Spieler selbst schwere Verletzungen erlitten hat und durch einen Knorpelschaden im Knie fast Sportinvalide geworden wäre.
„Das Schwierige an einer solchen Reha ist, dass sie über längere Zeiträume immer ähnliche Übungen und Bewegungsabläufe erfordert“, sagt Rolfes, „das macht keinen Spaß und ist auch psychisch sehr anstrengend. Florian zieht das unglaublich professionell durch.“ Bedeutet im Detail: Wirtz kommt nie zu spät, vergisst nie die nötigen Utensilien, ist immer top motiviert und schludert auch bei den unangenehmsten Übungen nicht ein bisschen. „Er war schon immer sehr gewissenhaft bei allem, was mit Fußball zu tun hatte“, erklärt sein Vater Hans-Joachim.
Die größte Gefahr: Eine Infektion
Zu Beginn einer Reha steht die Wundheilung und das Anwachsen der verpflanzten Sehnen im Vordergrund, ein Prozess, der auch mit den modernsten medizinischen Mitteln nicht beschleunigt werden kann. Die größte Gefahr droht in diesem Stadium durch eine Infektion. Ein prominentes Beispiel dafür ist Matthias Sammer, Held der Europameister-Mannschaft von 1996. Der damalige Dortmunder Profi hat sich nach einer Knie-OP 1997 mit Krankenhauskeimen infiziert. Sehr bald ging es um mehr als die Karriere, Sammer bangte zwischenzeitlich, wie er später berichtete, um sein Leben. Das konnte gerettet werden, die Profi-Laufbahn aber war im Alter von 30 Jahren beendet.
Florian Wirtz ist von schweren Komplikationen bisher verschont geblieben. Dreieinhalb Monate nach dem Unfall im Spiel gegen den 1. FC Köln liegt sein Heilungsverlauf im Rahmen aller optimistischen Zeitpläne. Er hat die Beweglichkeit des Knies von 10 bis 20 Grad (kurz nach der OP) auf 130 bis 140 Grad (Normalwert) gesteigert, die Krücken in die Ecke gestellt und kann selbstständig laufen, unter Überwachung der Physiotherapeuten sogar auf dem Laufband joggen. Auf den sozialen Medien lässt der 19-Jährige fast täglich Einblicke in sein soziales Leben zu. Man sieht ihn mit Freunden im Restaurant, auf der Terrasse seiner Wohnung, am Steuer seines Autos und beim Verlassen der Lanxess-Arena nach dem Konzert des Rappers 50 Cent.
Florian Wirtz' größte Hilfe: Die Heimat
Sein Vater kann der Verletzung in dieser Hinsicht sogar einen guten Aspekt abgewinnen: „Ich habe bei Florian nie erkennbare Trauer gesehen“, sagt Hans-Joachim Wirtz, „es hilft ihm jetzt, dass er in der Region seines Vereines zuhause ist und in seinem gewohnten Umfeld mit seinen Freunden ganz normale Dinge tun kann, die andere junge Leute in seinem Alter auch tun können. Ich glaube, wenn sich junge Fußballer weit weg von Zuhause bei ihren Vereinen so schwer verletzen und alles alleine bewältigen müssen, dann ist das psychisch noch viel schwieriger.“
Der Klub, dessen Juwel er ist, hat alles dafür getan, damit es Florian Wirtz bei ihm gut geht. Er durfte, als die Krücken weg waren, seine anstrengende Reha sogar für ein paar Tage unterbrechen, um kurz nach Sardinien zu fliegen. Außerdem wurde sein bis 2026 laufender Vertrag nach Gesprächen mit Vater und Manager Hans-Joachim bis 2027 verlängert. Das gibt dem Klub die Gewissheit, dass er seinen wertvollsten Spieler noch bis mindestens 2024 bei sich behält und dann zum vollen Marktwert transferieren kann. Die Familie Wirtz hat, entgegen der Gepflogenheiten dieser von Beratern beherrschten Branche, auf die Fixierung einer Ausstiegsklausel verzichtet, die Florians Transfersumme begrenzt und ihn beim Wechsel womöglich noch viel reicher gemacht hätte. Die Vertragsverlängerung und die mit ihr verbundenen positiven finanziellen Effekte waren ihr offenbar lukrativ genug. So oder so fließen viele Millionen Euro. Man muss sich da um niemanden Sorgen machen.
Der junge Florian Wirtz träumt groß
Trotz der engen Verbindung zur Familie und seinen insgesamt neun älteren Geschwistern, hat Florian Wirtz schon früh seine eigenen Entscheidungen getroffen. Der brisante Wechsel vom 1. FC Köln, für den er zehn Jahre lang spielte, zum Rivalen auf der anderen Rheinseite war vor allem sein persönlicher Wille. Selbst die engsten Freunde wussten bis zur Verkündung im Januar 2020 nichts davon. Wirtz schien sich schon als ganz junger Spieler seiner Außergewöhnlichkeit und seines Wertes bewusst gewesen zu sein. Seinen Aufstieg bis in die Nationalmannschaft, für die er viermal gespielt hat, bewältigte er mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit. „Ich träume groß“, hat er in einem Interview gesagt und seine Ziele im Sommer 2021 so formuliert: „Ich will Titel gewinnen. Mit der Nationalmannschaft.“ Da gibt es nur zwei bedeutende: Weltmeister und Europameister.
Vor den Nations-League-Spielen des Junis hat Bundestrainer Hansi Flick den 19-Jährigen ins Trainingscamp nach Marbella eingeladen, um ihm seine Wertschätzung und seine Zugehörigkeit zum Team zu zeigen. Florian Wirtz hat das gefreut, er lehnte aber ab. Die Reha ist ihm zu wichtig, die Gesundheit und die Chance, Teil der Weltmeisterschaft 2022 in Katar zu sein. Wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, kann trotz des bisher guten Heilungsverlaufes niemand vorhersehen.
Rückschläge rechnet man bei Bayer ein
Wirtz müsste spätestens Ende September auf dem Trainingsplatz erscheinen, um im Oktober noch Spielminuten zu sammeln, die Voraussetzung wären zur Nominierung für die am 21. November beginnende Fußball-WM in Katar. „Hier kann man keine Prognose abgeben, denn es kann besonders in der zweiten Hälfte der Reha Rückschläge geben“, hat sein Trainer Gerardo Seoane dieser Tage gesagt. Ein Normalmensch hätte nach einem Kreuzbandriss das Schlimmste überstanden, wenn er wie Florian Wirtz jetzt wieder eigenständig Gehen und ein bisschen Joggen kann. Bei einem Fußball-Profi, der die Knie in seinem Beruf härtesten Belastungen aussetzen muss, beginnt das Bangen nun erst, denn nach jeder größeren Belastung droht ein Rückschlag.
Das große Etappen-Ziel eines Fußballers in der Kreuzband-Reha ist: Wieder eigenständig die Fußball-Schuhe anziehen und mit ihnen den Rasen betreten zu können. Wann dieser Tag gekommen ist, bestimmen die Mediziner. Eine große Rolle spielt die Muskelkraft im Oberschenkel, der nach einem Kreuzbandriss bis zu vier Zentimeter seines Umfangs verliert. Irgendwann kommt schließlich der Ball für einfache Übungen ins Spiel. Das Training wird intensiviert. Die letzte Entscheidung darüber, wann das Knie voll belastbar ist und ein Spieler wieder eingesetzt werden darf, treffen die Ärzte. Und der Operateur. In diesem Fall Dr. Christian Fink aus Innsbruck.
Florian Wirtz wird nicht mehr derselbe Spieler sein, der er am 13. März 2022 war, wenn er wieder vollständig kuriert den Platz betritt. Er wird muskulöser sein und Schmerzen kennen, die ihm zuvor unbekannt waren. Er wird seinen Körper womöglich anders wahrnehmen und den Wert der Medizin schätzen gelernt haben. Unverändert wird jedoch seine Begabung für das Fußball-Spiel sein.