Köln – Seit Juni ist Andreas Rettig Vorsitzender der Geschäftsführung des Drittligisten Viktoria Köln. Im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ äußert sich der ehemalige FC-Geschäftsführer und Chef der Deutschen Fußball-Liga zum Zustand des Fußballs am Ende des zweiten Corona-Sommers.
Herr Rettig, die neue Saison hat begonnen, wo steht der Fußball im Sommer 2021?
Andreas Rettig: Der Fußball hat den gesellschaftlichen Wandel nur unzureichend mitgemacht. Das bezieht sich auf den Umgang mit der Corona-Krise, da ist von Verbandsseite fernab der tatsächlichen Probleme agiert worden, das war unglaublich frustrierend für die Amateurvereine an der Basis. Da war viel Luft nach oben – auch wenn es für alle zugegebenermaßen Neuland war. Die Satzungen und Ordnungen im deutschen Fußball sind nicht mehr zeitgemäß, und auch der Bewusstseinswandel – in Richtung gesellschaftlicher Verantwortung – ist noch nicht so weit fortgeschritten beziehungsweise wird dort nur unzureichend abgebildet.
Wer trägt im deutschen Fußball derzeit überhaupt die Verantwortung?
Das ist eine berechtigte Frage. Der Deutsche Fußball-Bund hat sich die Richtlinienkompetenz von der DFL aus der Hand nehmen lassen, das muss man klar sagen. Die DFL hat eine Taskforce zur Zukunft des Profifußballs gegründet mit hochkarätigen Experten, die wirklich wichtige Themen auf die Agenda gesetzt und auf sehr hohem Niveau bearbeitet haben, auch wenn viele mit den Ergebnissen und deren Umsetzung unzufrieden sind. Aber das alles ist nicht Aufgabe der DFL, die letztlich nur ein Mitgliedsverband im DFB ist wie beispielsweise auch unser Heimatverband, der Fußball-Verband Mittelrhein. Solche Dinge sind Aufgabe des Gesamtverbands. Dass sich die DFL als Lokomotive an die Spitze setzt, um die wichtigen Dinge in Bewegung zu setzen, ist aller Ehren wert. Der DFB ist vor lauter Beschäftigung mit sich selbst offenbar gar nicht mehr in der Lage, die wirklich entscheidenden Themen anzugehen.
Müssen die Kompetenzen zwischen DFB und DFL neu zugeordnet werden?
Eigentlich ist die Zuordnung ja klar, es ist eine Frage der Kräfteverhältnisse. Wäre Christian Seifert nicht DFL-Geschäftsführer sondern DFB-Präsident, wäre es anders gelaufen. Dann wäre der DFB die Lokomotive. Die DFL repräsentiert aber nur 36 Vereine von 26 000, die insgesamt im DFB organisiert sind. Da sind die Relationen aus dem Blick geraten.
Stehen die richtigen Leute in der Verantwortung?
Das ist aus meiner Sicht höchst fraglich. Was ich zum Beispiel nicht verstehe: Wir haben im DFB sieben Millionen Mitglieder, da frage ich mich, ob die Verantwortlichen noch nie etwas von Schwarmintelligenz gehört haben. Ich stelle mir vor, dass ich zu bestimmten Themen das Wissen der Basis nutzbar mache und auch die Interessenvertretung neu gewichte. Bislang ist es in der Regel so: Um DFB-Präsident zu werden, muss man eine Ochsentour vom Kreis über den Bezirk zum Verband absolvieren, um irgendwann Regionalfürst zu sein. Dann hat man einen grauen Bart und weiße Haare – und landet schließlich im DFB-Präsidium, hat aber schon 25 Jahre lang Allianzen geschmiedet und Doppelpässe gespielt. Das System bedingt genau diese Abhängigkeiten, die dem deutschen Fußball mehr schaden als nutzen, daher bekommen wir auch kein frisches Blut in den DFB. Die beiden Präsidenten, die diesen klassischen Funktionärsweg nicht gegangen sind, hatten die kürzeste Amtszeit – eventuell ja auch, weil sie keine gewachsene Hausmacht hatten. In Anlehnung an die Politik, egal, wie man zu Jusos, der Jungen Union oder der Grünen Jugend steht: Eine Interessenvertretung junger Leute würde ich sehr begrüßen. Dann hätten wir vielleicht auch wieder eine facettenreichere Streitkultur. Es muss dringend etwas passieren.
Zur Person
Andreas Rettig, geboren am 25. April 1963 in Leverkusen, arbeitete bei Bayer 04 (1989 - 1998), dem SC Freiburg (bis 2002), beim 1. FC Köln (2002 - 2005) und dem FC Augsburg (2006 - 2012). Nach einer Station als Geschäftsführer der DFL (2013 - 2015) war Rettig bis 2019 beim FC St. Pauli. Seit Juni ist er Vorsitzender der Geschäftsführung bei Viktoria.
Weil dann womöglich auch Entscheidungen getroffen würden, die wirtschaftlich anders ausfallen?
Die Entscheidung, zum Beispiel montags keine Zweitligaspiele mehr stattfinden zu lassen, war zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt der Erlösmaximierung sicher nicht klug, keine Frage. Aber wir müssen davon weg, uns ausschließlich mit den Interessen derer zu befassen, die wirtschaftlich am Fußball beteiligt sind. Es geht um die Fans und Mitglieder, denn wenn die wegbrechen, wird es auch finanziell nichts mehr. Darum ist es entscheidend, dass sich verantwortungsbewusste und kluge Leute einbringen, die nicht nur darauf achten, wo sie das größte Preisschild aufstellen können. Deswegen waren wir damals bereit, auf das Geld zu verzichten, das der Montag bringt. Und bewahren die Fans davor, sich zwei Tage Urlaub nehmen zu müssen, um ihrem Verein zu einem Montagsspiel hinterherzufahren. Damit hat der Profifußball angedeutet, dass durchaus ein Verständnis für die Gesamtsituation vorliegt. Das war für mich der erste Schritt von einer Shareholder- zu einer Stakeholder-Orientierung.
Sie fordern mehr Mitspracherecht für die junge Generation. Wie weit ist der deutsche Fußball beim Thema Geschlechtergerechtigkeit?
Ich habe noch nie in dieser Thematik zwischen Frau und Mann unterschieden, mir ging es immer um die Kompetenzfrage. Beim FC St. Pauli habe ich an Sandra Schwedler berichtet, die Vorsitzende des Aufsichtsrats. Wir haben selbst gemerkt, dass eine andere Gesprächskultur herrscht, wenn Frauen am Tisch sitzen. Aber es darf am Ende einzig um die Kompetenz gehen. Frauen in die Verantwortung zu nehmen, bloß weil man sich ein moderneres Image geben will, halte ich für die falsche Motivation: Es müssen die richtigen Frauen sein – wie es eben auch die richtigen Männer sein müssen.
Woran liegt es dann, dass der Fußball nach wie vor von Männern dominiert ist?
Mit Donata Hopfen ist nun bald eine Frau Geschäftsführerin der DFL. Dies wird eventuell Mädchen und Frauen motivieren, sich in der Männerdomäne Fußball durchzusetzen und ihr nachzueifern.
Wie sehen Sie die Berufung von Donata Hopfen in die DFL-Geschäftsführung?
Ich kenne Frau Hopfen nicht, gehe aber beim Blick in ihre Vita davon aus, dass sie ein wichtiges Spektrum abdeckt, denn Christian Seifert hinterlässt eine große Lücke mit seiner Kompetenz in Fragen der Medienrechte. Ich würde mir allerdings wünschen, dass auch die Themen, die aus meiner Sicht derzeit vernachlässigt sind, ebenso hochkarätig besetzt sind. Deswegen hoffe ich, dass auf dem Weg der Erneuerung die richtigen Schwerpunkte gesetzt werden.
Zum Bundesligastart sind die Fans in die Stadien zurückgekehrt, dennoch ist Corona längst nicht überstanden. Welche Folgen erwarten Sie?
Es ist nach wie vor ein unerforschtes Virus, daher werden wir womöglich erst mittelfristig erfahren, was Corona für Sporttreibende bedeutet. Das ist eine wichtige Frage im Amateur- und Jugendfußball. Für die Basis hätte ich mir grundsätzlich gewünscht, dass der DFB Zeichen setzt und den Vereinen hilft, indem zum Beispiel die Nationalmannschaft eingesetzt wird mit ihrer Popularität und Reichweite, um Geld aufzutreiben. Da wurde der Vereinsfußball oft im Regen stehen gelassen. Obwohl es ja Profis gab, die sich vorbildlich verhalten haben, Joshua Kimmich etwa und Leon Goretzka, die mich beeindruckt haben.
Bei Viktoria Köln verfolgen Sie den Ansatz, Profifußball für die Fans bezahlbar zu halten.
Unsere Eintrittskarten gelten mittlerweile auch für die Anreise mit der KVB. Man kann bei uns Fußball auf dem Stehplatz inklusive Bratwurst, Bier, An- und Abreise für weniger als 15 Euro erleben. Und auf einen letzten Platz bin ich sehr stolz: Unser Trikot kostet im Fanshop unter 60 Euro – kein Profiklub in Deutschland ist günstiger.
Corona hat viele Profiklubs schwer getroffen, weil kaum jemand Rücklagen hatte. Sehen Sie die Tendenz, dass immer mehr Investoren einsteigen?
Ich habe es schon als DFL-Geschäftsführer gesagt und bleibe dabei: Investoren sind herzlich willkommen. Aber sie müssen die sozialen, kulturellen und historischen Wurzeln des deutschen Fußballs respektieren. Ich habe nichts gegen Investorengelder, um in einem Verein etwas anzuschieben. Das Investment darf aber nicht das Ziel haben, Erträge als Rendite abzuschöpfen. Es gibt im Profifußball zu viele Bereiche, in denen dem Kreislauf Geld verloren geht: Spielerberater ziehen jährlich dreistellige Millionenbeträge aus dem Fußball, die sie nicht investieren. Und wenn Investoren Gewinne abschöpfen, ist dieses Geld ebenfalls weg. Für mich gilt daher: Wenn Investoren die Herzen der Fans erreichen wollen und nicht nur deren Portemonnaies, sind sie herzlich willkommen. Denn die emotionale Entfremdung findet vor allem dort statt, wo Investoren und auch Verbände eindeutig versuchen, auch noch den letzten Euro aus dem Fußball zu pressen.
Weil am Ende aber auch der sportliche Erfolg, etwa die Zugehörigkeit zur Bundesliga, über das Überleben entscheidet.
Womöglich müssen die Verbände da andere Anreize setzen als den reinen sportlichen Erfolg. Und zum Beispiel Nachhaltigkeit honorieren: Wer schafft Arbeitsplätze? Welcher Verein verhält sich ökologisch, sozial und ethisch vorbildlich? Wenn wir das honorieren, sehen wir auch andere Investitionstätigkeiten. Dann wird nicht mehr alles in die Stars gepumpt, die Titel gewinnen sollen.
Da müssten dann aber alle mitmachen, nicht nur deutsche Teams – der FC Bayern steht schließlich im Wettbewerb mit internationalen Investorenklubs wie Manchester City und Paris St.-Germain.
Das ist das Problem, solche Vereine sind die Brunnenvergifter, hinter denen sich ein FC Bayern dann wiederum auch verstecken kann. Wer die Gelddruckmaschine im Keller hat, muss nicht über Nachhaltigkeit philosophieren. Der geht in den Keller und holt die Kohle hoch.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, den Fußball vor Investoren zu schützen?
Da bin ich ehrlich: Ein Patentrezept gibt es nicht. Die Vorschläge, zum Beispiel das Financial Fair Play, haben den Wildwuchs ja nicht eingedämmt. Es gibt Umgehungstatbestände, außerdem ist auf Seiten der Verbände die Angst groß, im Fall von Verstößen juristische Niederlagen zu erleiden. Die einzige Chance ist ein massives Eingreifen der Politik. Denn das System selbst wird sich aus eigener Kraft leider nicht mehr erneuern können. Das wäre eine europäische Frage, denn an die Selbstheilungskräfte glaube ich nicht mehr – dafür profitieren zu viele vom System. Lösungen findet man nur noch aus der Vogelperspektive.
Wie würde ein Scheich überhaupt aufgenommen, der in der Bundesliga ein Team der Superstars wie in Paris aufstellen wollte? Würde der bejubelt?