Köln – Der neunte Bundesliga-Spieltag ist Geschichte. Borussia Dortmund und Bayern München haben sich spektakulär 2:2 getrennt. Was sind die Lehren?
Lehre Nummer eins: Der Wut-Titan hat seine Wiedergeburt erlebt. Er lebt also doch noch in Gestalt des inzwischen auf den ersten Blick seriös gealterten Ex-Torhüters Oliver Kahn, dem der FC Bayern München 2021 die Führung seines gesamten Fußball-Apparates anvertraut hat. Hier muss der einstmals wilde Torhüter wichtige Entscheidungen treffen, die viel Geld kosten und in feinen Anzügen lächeln, wo ihm früher die Züge entglitten wären. Aber dann brach am Samstagabend beim deutschen Top-Spiel in Dortmund die fünfte Minute der Nachspielzeit vor 80 000 schreienden Menschen.
Der FC Bayern München hätte nach einem lange überlegen geführten Spiel nach Toren von Leon Goretzka und Leroy Sané bei einem Gegentreffer von Moukoko nur noch einen letzten Angriff überstehen müssen. Der Ball flog in den Strafraum, genau auf den Kopf von Anthony Modeste und von da an zum 2:2 ins Tor. Das Stadion explodierte, als habe der BVB den Bayern schon die drohende elfte Meisterschaft in Folge entrissen. Die Münchner sanken geschockt zu Boden.
Und Oliver Kahn?
Der Vorstandsvorsitzende der FC Bayern AG sackte auf seinem Sitz in der VIP-Loge wie vom Blitz getroffen zusammen, um wild schreiend wieder aufzustehen. Diese riesige, wahnsinnige Wut konnte nicht länger von einem Chef-Titel, einem Sakko und übermenschlicher Selbstbeherrschung zurückgehalten werden. Sie brach sich, wie einst bei Dr. Bruce Banner, wenn er zum Hulk wurde, in einer spektakulären Metamorphose Bahn. Kahns Miene wurde zu einem Fanal der Aggression, das die Twitter-Gemeinde bis spät in die Nacht unterhielt. Die Zurückverwandlung in Oliver „Bruce“ Kahn erfolgte aber schnell. Das war nicht mehr derselbe, der einst dem Gegenspieler Heiko Herrlich im selben Stadion ins Ohr biss und nachher tagelang nicht ansprechbar war. In der Interview-Zone las er seiner Mannschaft gemäßigt die Leviten („Müssen schnell in die Puschen kommen“) und tags darauf zeigte er beim Anblick seiner Verwandlung Anzeichen von Selbstironie. „Dieses Ergebnis haut einen doch vom Stuhl…“, twitterte der Bayern-Boss.
Sportlich gab es keinen Sieger und beide Kontrahenten blieben punktgleich. Gab es dennoch Gewinner?
Zumindest einen. Anthony Modeste. Der nach der Krebsdiagnose von Sebastien Haller notverpflichtete Mittelstürmer war eine Woche zuvor bei der 2:3-Niederlage in Köln von seinen früheren Fans verhöhnt und gedemütigt worden. Er schien nicht einmal Teil des Dortmunder Spiels zu sein. In der Startaufstellung fehlte der Franzose. Als er in der 70. Minute beim Stand von 0:2 eingewechselt wurde, schien das Spiel verloren. Dann bereitete er aber selbst den Anschlusstreffer von Moukoko vor und schien kurz vor Schluss doch wieder der tragische Held zu werden, als er drei Meter vor dem leeren Tor eine Riesenchance vergab. Dann kam der letzte Angriff, die Münchner hatten den Sieg schon fast in beiden Händen. Dann erschien Modeste und das Stadion explodierte. „Ich habe zuletzt viel auf den Deckel gekriegt“, sagte der abtrünnige Kölner. Das stimmt, aber er bekam es zu Recht. So wie er am Samstag zu Recht bejubelt wurde.
In der Kritik stand Schiedsrichter Denis Aytekin, der Jude Bellingham nach einem Tritt ins Gesicht von Alphonso Davies kurz vor der Halbzeit mit der zweiten Gelben Karte hätte vom Platz stellen können. Wie er nachher auch selbst zugab.
Das war die zweite Wiedergeburt des Abends, die Wiedergeburt des „Fingerspitzengefühls“, das vom Schiedsrichterwesen durch Anwesenheit elektronischer Hilfsmittel bereits abgeschafft wurde. Jude Bellingham war bereits mit Gelb verwarnt. „Für sich genommen wäre die Aktion Gelb gewesen“, gab der für den bayrischen Fußball-Verband pfeifende Aytekin hinterher zu. Laut Regel-Exegese hätte das nur eine Folge haben können: Gelb plus Gelb gleich Gelb-Rot. „Wir haben sogar gelernt, dass ein Tritt ins Gesicht glatt Rot ist“, maulte Trainer Nagelsmann. Aytekin wollte aber beim Stand von 0:1 das Spiel nicht durch Dezimierung einer Mannschaft entscheiden. Er wollte nicht ein weiteres Kapitel der Legende von der Bevorzugung der Bayern in Spielen mit dem BVB werden. Ihm habe „die letzte Überzeugung gefehlt“. Obwohl Davies verletzt rausmusste (Verdacht auf Gehirnerschütterung) und seinem Team sehr fehlte, ließ er Bellingham auf dem Platz. Das war gut für das Spiel und schlecht für die Bayern. Allerdings waren sie nachher klar genug, die Schuld bei sich und den nach dem 2:0 ausgelassenen Chancen zu suchen. „Daran lag es nicht“, erkannte der sichtlich angeschlagene Julian Nagelsmann, der sich von Oliver Kahn sagen lassen musste: „Das ist eine seltsame Saison.“ Man darf sicher sein, dass der Hulk im Boss nicht einfach zuschauen wird, wenn sie weiterhin so seltsam bleibt.