Eine aktuelle Studienreihe zeigt: Alltagsrassismus muss in Kitas und Schulen mehr thematisiert werden.
Alltagsrassismus„Darf ich mal deine Haare anfassen?“
Deutschland ist reich an Nationalitäten, Ethnien, kulturell-religiösen Kontexten: Allein vier von zehn unter 18-Jährigen, also 39 Prozent aller in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen, haben einen Migrationshintergrund.
Dennoch erleben sieben von zehn dieser Heranwachsenden Alltagsrassismus, in Form von Fragen wie: „Wo kommst Du eigentlich her?“ bei der ersten Begegnung, getarnt als Witze über das Heimatland oder durch Aussagen wie „Du kannst aber gut Deutsch sprechen“, selbst wenn Deutsch die Muttersprache ist. Diese Sätze verdeutlichen den Betroffenen stets aufs Neue: „Du gehörst nicht hierher.“
Alltagsrassismus ist nicht immer leicht zu erkennen. Er kann sich sehr deutlich in Form von rassistischen Beleidigungen und herabwürdigenden Handlungen zeigen – oder subtil in unbewusst geäußerten Vorurteilen, aber auch im Übersehen und Nicht-Beachten von „Menschen of Color“, wie sich Betroffene selbst bezeichnen.
Permanentes Hervorheben der vermeintlichen Andersartigkeit
„Othering“ nennt man das Phänomen, jemanden ständig zum „Anderen“, beziehungsweise zur „Anderen“ zu machen, indem man dessen oder deren vermeintliche Andersartigkeit permanent hervorhebt. Wenn zum Beispiel ein Kind, dessen (Groß-)Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, immer wieder auf seine „andere“ Kultur, „andere“ Aussprache, „anderes“ Essen und „anderes“ Aussehen angesprochen - und gefragt wird, ob es eigentlich „dorthin“ zurückmöchte, vermittelt ihm das ein Gefühl des Nicht-Dazugehörens und Ausgegrenzt-Seins.
Trotz alledem ist die Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus noch immer viel zu selten Teil der Pädagogik in Kitas, Schulen oder Jugendeinrichtungen. Also dort, wo Kinder mit Erwachsenen konfrontiert sind, die durch ihr eigenes Handeln und Wissen die Grundlage für das Weltbild und Handeln von Kindern legen.
Schule: Schlechtere Beurteilungen und niedrige Erwartungen
Wissenschaftliche Studien belegen: Schülerinnen und Schüler, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft angehören, werden bezüglich ihrer Noten und Beurteilungen benachteiligt, da viele Lehrkräfte niedrigere Erwartungen an Schüler mit Zuwanderungsgeschichte haben. So empfehlen sie ihnen etwa nach der Grundschule überdurchschnittlich oft einen niedrigeren Bildungsweg.
Eine Studienreihe des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) hat jetzt untersucht, was Kinder und Jugendliche zum Thema Rassismus wissen und wie Pädagogik Alltagsrassismus entgegenwirken kann. Die Studienergebnisse sind in den beiden Büchern „Frau Lehrerin, was du sagst, ist rassistisch“ zusammengefasst. Hier nur ein Auszug:
Nur 57 Prozent wissen, dass es keine menschliche Rassen gibt
Dass Menschen sich nicht in Rassen unterteilen lassen, wissen durchschnittlich 57 Prozent der Erwachsenen. Während sieben von zehn 20- bis 29-Jährigen dieses Grundwissen haben, zeigt sich bei den Sechs- bis Neun-Jährigen sowie den über 60-Jährigen das niedrigste Wissensniveau. Dass es keine Rassen beim Menschen gibt, wissen 74 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer.
Fakt ist: Während sich Tiere genetisch in Rassen unterteilen lassen, gilt das für den Menschen nicht. Vom Aussehen oder Wohnort eines Menschen lässt sich nicht auf seine Veranlagung schließen. Die genetische Vielfalt der Menschen ist immer größer als die Ähnlichkeit bei Individuen mit einer ähnlichen Hauttönung, Außenform oder sonstigen äußeren Merkmalen. Es gibt kein einziges Gen, das etwa Menschen aus Asien von Nicht-Asiaten und -Asiatinnen trennt.
Pädagogischem Personal fehlt Grundwissen über Alltagsrassismus
Kinder, die an den Studien teilgenommen haben, berichten mehrfach von Kommentaren wie „Du kannst aber gut Deutsch sprechen“ zu Hijab tragenden, in Deutschland geborenen und muttersprachlich deutsch aufgewachsenen Mitschülerinnen. Noch deutlicher wird laut den Studienergebnissen der Nachholbedarf bei Erzieherinnen und Erziehern. Zwar gaben neun von zehn an, sich mit dem Thema Rassismus beschäftigt zu haben, dennoch fehlte vielen das Grundlagenwissen darüber.
In der Studie wird auch deutlich: Menschen, die selbst oder deren Eltern in einem anderen Land geboren wurden, sind nicht zwangsläufig besser über das Thema Alltagsrassismus informiert als Menschen, die keinen Migrationshintergrund haben. Was bedeutet, dass Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte ihre eigenen Rassismuserfahrungen nicht als solche einordnen und bewerten können. Genau dieses Wissen bräuchten sie aber, um sich nicht als defizitär zu empfinden.
Aufklärung über Alltagsrassismus in Kitas und Schulen vonnöten
Die meisten befragten Kinder wollen Rassismus aktiv entgegentreten. Oft fehlt ihnen dafür aber das notwendige Grundwissen, um Alltagsrassismus zu erkennen und die Perspektive der rassistisch Angesprochenen nachzuvollziehen. Entsprechend wichtig ist Aufklärung in den Medien, den Schulen und Jugendeinrichtungen. Um Rassismus aktiv entgegentreten zu können, braucht es aber mehr als Wissen – vonnöten sind Kinder und Jugendliche, die zu Verbündeten (Allys) der betroffenen Gleichaltrigen werden.
Die Studie zeigt: Kinder und Jugendliche kommen auf diverse Ansätze zur Unterstützung, brauchen aber pädagogische Anleitung. „Die Aussagen der Kinder verdeutlichen, wie wenig Raum Alltagsrassismus im Kontext Schule bekommt und wie sehr Kinder profitieren, wenn es zum Thema gemacht wird“, sagt Studienleiterin Maya Götz.
Was Alltagsrassismus ist und wer ihn erlebt
- Von den rund 13,5 Millionen Minderjährigen, die in Deutschland leben, haben 5,3 Millionen (39 Prozent) einen Migrationshintergrund, 70 Prozent davon einen deutschen Pass. Jede und jeder Dritte von ihnen ist mit Alltagsrassismus konfrontiert.
- Alltagsrassismus beschreibt das wiederkehrende Erleben von Rassismus. Dabei geht es weniger um extreme Erlebnisse, als um subtile und permanent präsente Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung – unabhängig von der Intention.
- Formen von Alltagsrassismus: Vor allem Witze und Vorurteile über das „Herkunftsland“, aber auch Bemerkungen wie „Du kannst aber gut Deutsch sprechen“ zählen zu den häufigsten Alltagsrassismen, denen Kinder ausgesetzt sind. Auch Äußerungen, dass sie in das Land zurückgehen sollten, aus dem sie gekommen sind und Beschimpfungen als „Ausländer“ zählen dazu.
- Neun von zehn Minderjährigen mit dunkler Haut ist die Frage „Wohnst du schon immer in Deutschland?“ unangenehm, fast sieben von zehn dieser Kinder (67 Prozent) wurde schon einmal gesagt, dass sie hässlich seien. 94 Prozent haben das Gefühl als „fremd“ oder“ „anders“ wahrgenommen zu werden.
- Körperliche Angriffe erleben Jungen mit Zuwanderungsgeschichte doppelt so häufig wie Mädchen, denen wiederum öfter mal ungefragt in die Haare gegriffen wird.
- Zwischen dem zweiten und siebten Lebensjahr steigen bei Kindern Vorurteile gegenüber anderen ethnischen Gruppen, bis zehn Jahre nehmen sie, aufgrund der inzwischen entwickelten Fähigkeit, sich in andere einfühlen zu können, wieder ab. Damit ist die Grundschulzeit die entscheidende Phase, was die Ausbildung von Vorurteilen angeht.
- Quellen: Studienreihe des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) über das Erleben von Alltagsrassismus bei Minderjährigen in Deutschland (2022-2025); Mikrozensus des Statistischen Bundesamts aus dem Jahre 2019