Frauke Mahr, die Pionierin der Kölner Mädchenpolitik, verlässt nach 33 Jahren den Verein „Lobby für Mädchen“. Ein Gespräch zum Abschied in den Ruhestand.
Interview mit Frauke Mahr„Mädchen steht die Hälfte von allem zu“
Frau Mahr, ‚den hätte ich verdient‘, sollen Sie gesagt haben, als Sie von der Ausschreibung des Else-Falk-Preises für außerordentliche Leistungen auf dem Gebiet der Gleichstellung hörten – und den Sie im März 2020 tatsächlich als erste Preisträgerin im Kölner Rathaus erhalten haben. Spiegelt dieser Satz den Kern der Botschaften wider, die Sie seit 50 Jahren mit Verve in die Stadt aussenden – und über ihre Grenzen hinaus?
Frauke Mahr: Wenn Sie damit meinen, dass ich Frauen und Mädchen seit 50 Jahren dazu ermutige, selbstbewusst zu ihren Leistungen und ihrer Persönlichkeit zu stehen, gebe ich Ihnen recht. Auch wenn mir damals sofort mehrere andere preiswürdige Kölnerinnen eingefallen sind. Leider ist es ja immer noch eher üblich, Mädchen und Frauen anzuraten, sich nicht zu weit vorzuwagen, stattdessen bescheiden, freundlich zu sein und hübsch ausschauen. Oder sich schrill als Objekt zu inszenieren.
Wozu auch die Sozialen Medien ihren Teil beitragen?
Mädchen sind heute in vielen Social-Media-Kanälen enormen Einflüssen ausgesetzt, hinter denen gigantische wirtschaftliche und politische Interessen stehen. Diese Formen der Einflussnahme und Wirksamkeit sind neu. Wäre ich zynisch, würde ich sagen: Immerhin stehen Mädchen damit einmal im Mittelpunkt, weil die Wirtschaft ihre enorme Kaufkraft erkannt hat. Da ich das aber nicht bin, sage ich lieber: Darum und um die reaktionären Rollenbilder, die dort kursieren, etwa Tradwives, Hausfrauen, ohne eigenes Einkommen, die ihrem Mann ein schönes Heim bereiten und darin ihren Lebensinhalt sehen, müssen wir uns dringend kümmern.
Wollen Sie nicht erst einmal Ihren wohlverdienten Ruhestand genießen –mit 71 Jahren, nach jahrzehntelangem beruflichem wie privatem Einsatz für die Belange der Mädchen?
Ich höre ja als Rentnerin nicht auf, Feministin zu sein und damit ein politischer Mensch.
Um weiter dafür zu kämpfen, „dass Mädchen die Hälfte von allem zusteht – in allen Bereichen“, was Sie einmal öffentlich gefordert haben?
Ja, auch wenn es noch ein mühsamer Weg sein wird, bis die Benachteiligungen von Mädchen und Frauen wirkmächtig ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind. Und die Hälfte von allem nicht als Geschenk betrachtet wird, sondern als etwas, das uns selbstverständlich zusteht. Dafür müssten Männer bereit sein, sich zu verändern, und Frauen willens, mehr zu fordern.
Es gibt also noch genug zu tun in puncto Mädchenarbeit, von der so manch eine und einer glaubt, die sei, auch in Anbetracht der Anerkennung von Geschlechtervielfalt, überholt.
Grundsätzlich sollten alle jungen Menschen, unabhängig von Religion, Bildungsstand, Herkunft oder Gender gleiche und gerechte Teilhabe in allen Bereichen haben. Das darf nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Vielfalt der Geschlechter zu unterstützen, schließt ja nicht aus, dafür Sorge zu tragen, Benachteiligungen von Mädchen aufzudecken und aus dem Weg zu räumen. Die Praxis beweist nämlich täglich: Gesellschaftliche Frauen- und Märchenbilder sowie strukturelle Bedingungen sind weit von der gesetzlich vorgeschriebenen Gleichberechtigung entfernt. Deshalb ist Mädchenarbeit, sind eigene, geschützte Räume, in denen sich Mädchen und junge Frauen frei entfalten, selbst gestalten und ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern können, auch heute noch so enorm wichtig.
Worin zeigen sich diese strukturellen Benachteiligungen?
Mädchen sind noch immer in hohem Umfang von (sexualisierter) Gewalt betroffen. Warum werden sie, werden Frauen verantwortlich dafür gemacht, diese Gefahren zu erkennen und sich dagegen zu wehren, statt endlich eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, warum das überhaupt notwendig ist? Außerdem wird die Unterschiedlichkeit in der Sozialisation von Mädchen und Jungen sowie deren Auswirkungen zu wenig reflektiert, zum Beispiel auf ihre Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten. Denn es genügt nicht, ausschließlich darauf zu achten, dass Mädchen angesprochen oder mitgemeint werden, es müssen auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, die den tatsächlichen Bedürfnissen der Mädchen entsprechen.
Wäre es vermessen, Sie als Pionierin der Mädchenarbeit in Köln zu bezeichnen?
Pionierin der Mädchenpolitik würde eher zutreffen. Ich bin seit meinem Studium in den siebziger Jahren dafür eingetreten, die Lebenslagen von Frauen und Mädchen, ihre Diskriminierung in sämtlichen gesellschaftlichen Feldern sichtbar zu machen. Ich habe damit im Sinne unseres gleichnamigen Vereins als Lobby für Mädchen agiert. Ich habe meine Stimme für ihre Belange erhoben, ihre Gefährdungen aufgezeigt. Dafür war es unerlässlich in ständigem Kontakt mit meinen Kolleginnen aus der Praxis zu sein. Um unmittelbar von den Bedürfnissen und Lebenswelten der Mädchen zu erfahren, die ich dann in die öffentliche und politische Debatte tragen konnte. Es muss endlich aus gegebenem Gesetz gelebte Praxis werden, um Mädchen und jungen Frauen tatsächlich gerecht zu werden – strukturiert und nachprüfbar.
Dafür bräuchte es einen Fachbeirat für Mädchenarbeit, für den Sie sich seit so vielen Jahren starkmachen. Hätten Sie den gerne noch in Ihrer Amtszeit in Köln installiert gesehen?
Deshalb habe ich am 16. Mai alle demokratischen Ratsfraktionen mit einem Offenen Brief auf das Thema hingewiesen und um Verabschiedung eines Ratsbeschlusses gebeten! Ein Fachbeirat für Mädchenarbeit ist ein kommunales Steuerungselement, das eine ausdrücklich an Mädchen gerichtete Jugendarbeit ermöglicht, sie breit aufstellt und strukturell verankert. Denn sort wären sämtliche Arbeitsfelder von der Kita, über die offene Kinder- und Jugendarbeit, Jugendhilfeplanung und (freie) Träger der Kinder- und Jugendhilfe vertreten. Nun fehlt noch der Ratsbeschluss.
Was wünschen Sie sich außerdem noch für Köln - und das gesellschaftliche Bewusstsein?
Es sollte es in jedem Stadtbezirk ein Mädchenzentrum geben. Darüber hinaus wünsche ich mir eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen heute, ein echtes Hingucken, welche Themen wirklich zentral sind. Wo gibt es Fortschritte, Rückschritte, neue Benachteiligungen und Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, wenn wir eine geschlechtergerechte Gesellschaft wollen. Da ist jede und jeder gefragt, mit und ohne politisches Amt!
Welche Fortschritte können Sie schon jetzt identifizieren?
Ein großer Sprung nach vorne ist, dass das Thema sexualisierte Gewalt vermehrt angesprochen wird. Eine Frage, die bleibt, ist häufig: Passiert immer mehr oder wird es mehr benannt? Das können wir nicht wirklich beantworten. Fakt ist: Es wird darüber gesprochen, Mädchen und Frauen werden ermutigt, Erlebtes zu benennen. Auch wenn der Ausbau der Hilfeangebote damit nicht Schritt hält, müssen wir in diesem Punkt weiter kämpfen. Eine ganz andere, tolle Sache, die ich dieser Tage im Kölner Stadt-Anzeiger gelesen habe: Wissenschaftlerinnen stellen sich in Köln auf die Straße, berichten über ihre Arbeit und beschreiben ihre fehlende Sichtbarkeit – eine vorbildliche Aktion für Mädchen und Frauen.
Wenn Sie Ihre 50-jährige Berufslaufbahn in einem Satz beschreiben müssten ...
... würde ich sagen, dass ich enormes Glück hatte, etwas, das mir so wichtig ist und so große Freude bereitet, so lange machen durfte.
Was kommt jetzt?
Faulenzen – und mich vielleicht manchmal wieder einmischen.
Vita von Frauke Mahr
- Frauke Mahr, eine der profiliertesten Feministinnen von Köln, ist am 3. Juni 1953 im Klösterchen geboren.
- Sie studierte von 1974 bis 1977 an der FH Köln Sozialpädagogik/Sozialarbeit. Gemeinsam mit anderen Frauen gründete sie 1976 den Verein „Frauen helfen Frauen“, im Jahr darauf in Köln das erste autonome Frauenhaus Westdeutschlands. Dort leistete sie auch ihr Anerkennungsjahr.
- Ab 1977 arbeitete Mahr 13 Jahre bei der Clarenbachwerk Köln gGmbH.
- Im November 1987 fand in Köln die erste bundesweite Frauenfachtagung zum Thema sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen statt. Daraus entstand die bundesweite Mädchenhaus-Bewegung – und 1989 der Verein „Lobby für Mädchen – Mädchenhaus Köln e.V.“, den Mahr mitgegründet hat und bei dem sie von 1991 an unter anderem als geschäftsführende Vorständin tätig war.
- „Lobby für Mädchen e.V.“ betreibt eine Mädchenberatungsstelle in Ehrenfeld inklusive umfangreicher Präventionsangebote, zwei Mädchenzentren und die Fachstelle „Yuna“ zum Thema weibliche Genitalbeschneidung.
- 2011 wurde Mahr mit dem NRW-Preis Mädchen & Frauen im Sport geehrt, 2020 als erste Frau mit dem Kölner Else-Falk-Preis.
- 2016 war Frauke Mahr Mitbegründerin der „Initiative gegen sexualisierte Gewalt im öffentlichen Raum“, die als Konsequenz aus der Silvesternacht dezentrale Schutzorte für Mädchen und Frauen in Köln schuf – etwa in Apotheken, Bars und einer Zoohandlung. Am 30. Juni 2024 trat Frauke Mahr in den Ruhestand ein. (kro)