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Abwerbebriefe aus LeverkusenHarsche Kritik am Steuerparadies vom Rhein

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Seit Januar 2020 wird im Leverkusener Rathaus versucht, mit Niedrigsteuern Unternehmen anzulocken.

Leverkusen – „Wie Sie wissen, ist ein Umzug mit dem ganzen Betrieb nicht erforderlich, um in den Genuss der günstigen Gewerbesteuer zu kommen“, schrieb der Leverkusener Stadtkämmerer Markus Märtens vor einigen Wochen an Firmen im Ruhrgebiet. Je nach Aufbau der Unternehmen sei es ohne weiteres möglich, „Teile des Gewerbesteueraufkommens zu verlagern, ohne den operativen Betrieb zu berühren“. Anders gesagt: Es reicht, nur ein paar Büros an den Rhein zu verlegen, um in den Genuss der niedrigen Gewerbesteuer zu kommen, die Leverkusen im Januar 2020 eingeführt hat.

Eine Offerte, die für Wirbel sorgt. Die Oberbürgermeister in den krisengeplagten Städten Dortmund und Herne, Thomas Westphal und Frank Dudda (beide SPD), finden den Abwerbeversuch gar nicht lustig. Der Versuch, „Unternehmen durch gezielte Briefe zu einem Standortwechsel zu bewegen, sind nicht der Stil, den wir innerhalb der kommunalen Familie pflegen sollten“, sagte Hernes OB Dudda dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Er setze lieber auf eine „klimafreundlichen Neuausrichtung unserer Industrie“ als auf „die Kannibalisierung unter Nachbarregionen“. Thomas Westphal aus Dortmund höhnte zuvor in der „WAZ“: „Die Aktion der Stadt Leverkusen spricht für die Ratlosigkeit, die dort ausgebrochen zu sein scheint.“

„Kannibalisierung unter Nachbarregionen“

Der Groll richtet sich vor allem gegen Kämmerer Markus Märtens, seit knapp einem Jahr auch Chef der Wirtschaftsförderung in Leverkusen. Das Pfund, mit dem er wuchern kann: Mit dem 1. Januar 2020 sank in der Chemie-Stadt der Gewerbesteuer-Hebesatz von eher spitzenmäßigen 475 auf den NRW-Niedrigwert von 250 Punkten.

Alles zum Thema Ina Scharrenbach

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Leverkusens Stadtkämmerer Markus Märtens leitet derzeit auch die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Stadt.

Das sind real 8,75 Prozent, so wenig wie das benachbarte Monheim schon länger von den Unternehmen verlangt – und damit in der Vergangenheit eine Menge Firmen anlockte. Unter anderem die steuerstarke Patent-Abteilung der Bayer AG. Der Pharma- und Agrochemie-Konzern hatte zuvor schon einen großen Standort in Monheim. Da war es nicht kompliziert, eine personell kleine Abteilung umzusiedeln, in der aber viel Geld bewegt wird. Die Steuerersparnis war beträchtlich.

Neidische Blicke nach Monheim

Über viele Jahre, in denen Leverkusen unter einem schwachen Gewerbesteuer-Aufkommen litt, schaute man mit einer Mischung aus Neid und Verachtung auf das nur 44.000 Einwohner zählende Nachbarstädtchen im Norden. Dass der junge Bürgermeister Daniel Zimmermann – als Vertreter der Jugend-Partei Peto von keinerlei Ideologie belastet – dort seit zwölf Jahren an einem Steuerparadies mit dem niedrigsten Hebesatz in ganz Nordrhein-Westfalen bastelte, wurde gelegentlich als „kommunaler Kannibalismus“ kritisiert.

Aber schon im Herbst 2016 hatte der damalige Leverkusener Kämmerer und heutige Bergisch Gladbacher Bürgermeister Frank Stein (SPD) bei der Bayer AG das Feld bereiten wollen und ebenfalls eine deutliche Steuersenkung angeboten. Im Konzern fällten damals die Vorstände von Bayer und seiner Kunststoff-Ausgliederung Covestro die strategischen Entscheidungen – und beschieden den Stadtkämmerer, so hörte man es damals, dass er zehn Jahre zu spät komme mit seiner Niedrigsteuer-Offerte.

Zehn Bayer-Töchter firmieren wieder in Leverkusen

Trotzdem blieb die Idee in den Hinterköpfen, und drei Jahre später bahnte sich ihre Verwirklichung an, und zwar radikal. Eine erdrückende Mehrheit im Stadtrat erteilte dem „Projekt 250 Punkte“ seinen Segen.

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Mit einem Schlag zog Leverkusen mit Monheim gleich. Erleichtert wurde das durch lose Zusagen aus dem Bayer-Kosmos, die eine oder andere steuerstarke Filiale wieder nach Leverkusen zurückzuholen. Die Versprechen wurden eingehalten: Zehn Töchter, die im ebenfalls steuergünstigen brandenburgischen Schönefeld angesiedelt waren, firmieren neuerdings wieder am Rhein. Man habe die gesenkte Gewerbesteuer in Leverkusen „bei aktuellen Restrukturierungen berücksichtigt“, resümierte am Dienstag Wolfgang Nickl, Bayers Finanzvorstand, auf eine entsprechende Frage in der Hauptversammlung.

Im Corona-Jahr Steuern gestundet

Das verbessert die Bilanz der städtischen Finanzen offenbar ganz erheblich. Denn nach einer Modellrechnung hätte Leverkusen durch die Reduzierung des Hebesatzes rund 60 Millionen Euro weniger eingenommen - wenn keine Firmen hinzugewonnen worden wären. Da dies gelungen ist, sank das Aufkommen „nur“ um 35 auf 100 Millionen Euro.

Frank Dudda

Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda (links) bei einer Pressekonferenz mit und Ordnungsdezernent Johannes Chudziak (r)

Und 2020 war zudem das erste Corona-Jahr, da sind Vergleiche mit den Vorjahren extrem schwierig: Die Stadt stundete Steuern oder senkte den Satz übergangsweise weiter, um Unternehmen durch die Krise zu helfen. Längerfristig soll sich der niedrige Steuersatz nicht nur für die Firmen auszahlen, sondern auch für die Stadt. Prognosen für die kommenden Jahre sehen stetig steigende Einnahmen vor, festlegen will sich der Kämmerer angesichts der Pandemie-Unsicherheiten allerdings nicht. Dabei setzt Leverkusens Wirtschaftsförderung vor allem auf „Weiße-Kragen-Jobs“.

Auch darin wird sie politisch unterstützt: Kürzlich stimmte der Stadtrat einem gut 27 Millionen Euro schweren Immobilien-Deal zu. In Wiesdorf übernimmt die Stadt 17.500 Quadratmeter Bürofläche; allein 7000 sind für das „Projekt 250 Punkte“, also neue Firmen reserviert. Verkäufer des Komplexes unweit des Rheins: Bayer.

„Unterbietungswettkampf führt zu Negativspirale“

Ein paar Kilometer rheinaufwärts aber scheint das niemanden zu beunruhigen. Als größte Stadt in Nordrhein-Westfalen könne es für Köln keine Strategie sein, „auf Kosten der anderen Kommunen zu leben“, betont Dr. Manfred Janssen, Geschäftsführer der städtischen Wirtschaftsförderung. Ein Unterbietungswettkampf beim Hebesatz, der in Köln bei 475 Punkten liegt, führe zu einer Negativspirale.

Das ist die Gewerbesteuer

Von Städten und Gemeinden wird die Gewerbesteuer erhoben – ihre wichtigste Einnahmequelle. Die Höhe ist davon abhängig, wie viel Gewinn ein Unternehmen pro Jahr macht. Die Gewerbesteuer beträgt bundesweit 3,5 Prozent. Die Kommune bestimmt den Hebesatz, mit dem die tatsächlich zu zahlende Steuer ermittelt wird. Dieser beträgt mindestens 200 Prozent. In Leverkusen beträgt er 250 Prozent, in Köln 475 Prozent. Rechenbeispiel Fallen 100 000 Euro Gewinn an, rechnet man in Köln: 100 000 x 3,5 % x 475 % = 16 625 Euro. In Leverkusen rechnet man analog: 100 000 x 3,5 % x 250 % = 8750 Euro. (Freibetrag nicht berücksichtigt) (tb)

„Nur wenige Kommunen werden dabei gewinnen, während Firmen fortwährend zum nächstgünstigerem Standort weiterziehen“, so Janssen. Die Wirtschaftsmetropole Köln versuche, Unternehmen durch ihre „attraktive Infrastruktur, dem Fachkräftepotenzial oder der persönlichen Beratung“ zu überzeugen.

„Ausgemachte Ferkelei“

Von Leverkusener Abwerbeversuchen wie im Ruhrpott sei in Köln nichts bekannt, sagt Janssen. Die Briefe aber haben auch im nordrhein-westfälischen Landtag für reichlich Wirbel gesorgt. Der Gladbecker SPD-Landtagsabgeordnete Michael Hübner, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, nennt die Schreiben „eine ausgemachte Ferkelei“. Die Haltung der Landesregierung in dieser Frage halte er zudem für „absolut unglaubwürdig“.

Auf eine schriftliche Anfrage des Sozialdemokraten zum „Fall Leverkusen“ hatte Kommunalministerin Ina Scharrenbach (CDU) im Namen der Landesregierung betont, „das politische Ziel“ könne „nicht darin bestehen, Kommunen daran zu hindern, ihr grundgesetzlich verbürgtes Hebesatzrecht wahrzunehmen“. Die Leverkusener Senkung auf 250 Punkte sei von ihrem Ministerium zudem genehmigt worden.

Kritik der Ministerin

Trotzdem kritisierte die Ministerin die Leverkusener Schreiben. In einem Brief an Oberbürgermeister Uwe Richrath (SPD) appellierte sie, die Aktion einzustellen. Diese sei „unsolidarisch“. In Leverkusen habe man die Botschaft verstanden, die Aktion sei einmalig gewesen und beendet, sagte am Dienstag die Sprecherin der Leverkusener Wirtschaftsförderung. Für eine Bilanz, ob die Abwerbe-Aktion ein Erfolg war, sei es noch zu früh.