Überalterte Gesellschaft? Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein überholtes Bild des Alterns. In der neuen Dynamik steckt auch Potenzial für eine gelassenere, weisere Gesellschaft – gerade in Krisen. Ein Gastbeitrag.
Reif für die ArbeitNie waren wir so lange jung und aktiv wie heute
Keiner will alt sein, aber alle wollen alt werden. In Zukunft werden wir selbst entscheiden, wie alt wir sein wollen. Die Abkehr vom Alter bedeutet Befreiung und mehr Selbstbestimmung. Das Leben im Alter ist nicht länger auf Gebrechlichkeit, Einsamkeit und Abhängigkeit beschränkt, sondern schließt Aktivität, Vitalität und Lebensqualität ein. Die Utopie heißt: alterslose Gesellschaft. Diese Entwicklung ist etwas völlig Neues, das hat es in der Menschheitsgeschichte so noch nicht gegeben.
Der demografische Wandel ist die Folge von steigendem Wohlstand, medizinischem Fortschritt, höherer Bildung und der gleichberechtigten Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Individuell gesehen ist das Phänomen der Alterung eine absolut begrüßenswerte Errungenschaft: Menschen leben im Durchschnitt länger – und vor allem verlängert sich die Lebensspanne, die sie in Gesundheit verbringen.
Hinter der Rede von der „Überalterung“ steckt ein überholtes, kaum noch zeitgemäßes Bild des Alterns. Wie wir älter werden, haben wir selbst mit in der Hand. Altwerden fängt mit der Jugend an. Unsere Biografiekompetenz entscheidet darüber, ob und wie wir erfolgreich altern. Gemeint ist die Fähigkeit, mit Risiken umzugehen und sich im Laufe des Lebens zu verändern.
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Ironischerweise sind es die nun in die Jahre kommenden Babyboomer, die sich an der Jugend und ihren Attributen orientieren, um dem Alter zu entfliehen. Es waren die Babyboomer, die das Alter erst problematisiert und ihm mit Marketingbegriffen wie „Anti-Aging“ den Kampf angesagt haben. Doch die eigentliche Kraft der zweiten Lebenshälfte kommt nicht daher, dass man sich mit 60 noch ein Skateboard oder ein Rennrad kauft. Es ist die Überwindung der Illusion der ewigen Jugend, die zur Freiheit in Bezug auf sich selbst und zur Welt führt.
Der Imperativ der Zukunft ist nicht „Anti-“, sondern „Pro-Aging“. Vor uns liegt eine Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit aus über 50-Jährigen besteht, von denen immer mehr 100 Jahre und älter werden. Allein in den vergangenen sechs Jahren hat sich die Zahl der über 100-Jährigen in Deutschland verdoppelt. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts wächst der Anteil der Generation 65 plus von heute 21 Prozent auf 28 Prozent im Jahr 2030 und auf 33 Prozent im Jahr 2060. Schon heute nimmt Deutschland mit einem Durchschnittsalter von knapp 45 Jahren einen Spitzenplatz in der Liste der ältesten Länder der Welt ein, übertroffen nur noch von Japan. Eine derartige Zusammensetzung der Gesellschaft ist ein Novum in der Geschichte.
Wer heute geboren wird, hat im Schnitt 80 Jahre vor sich. Tendenz steigend. Seit den 1870er-Jahren hat sich die Lebenserwartung der Deutschen mehr als verdoppelt. Zwei Drittel der 55- bis 69-Jährigen in Deutschland bezeichnen sich als gesund; in der Altersgruppe zwischen 70 und 85 ist es die Hälfte. Die Zahl der Lebensjahre, in denen wir krank oder gebrechlich als Pflegefälle betreut werden müssen, nimmt entgegen der weit verbreiteten Befürchtung nicht zu. Unsere Lebenserwartung steigt nicht, weil sich der Prozess des Älterwerdens verlangsamt oder verlängert, sondern weil er immer später einsetzt.
In diesem „Downaging“ liegt das eigentliche Potenzial – die Überalterung der Gesellschaft ist in Wahrheit ihre Verjüngung. Menschen über 60 sind heute fitter, gelassener und welterfahrener als je zuvor. Die Zeit, in der wir aktiv und gesund sind, verlängert sich. Laut dem Robert Koch-Institut bezeichnen drei von vier Deutschen ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut. Das gilt auch für die Älteren, wie aktuelle Daten des Statistischen Bundesamts belegen: Drei Viertel aller Personen über 75 Jahren fühlen sich fit.
Vor 16 Jahren haben die beiden Ökonomieprofessoren David G. Blanchflower und Andrew Oswald den Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und Alter in 72 Ländern untersucht. Sie fanden heraus, dass sich das Verhältnis mit einem großen U abbilden lässt, dessen Tiefpunkt im globalen Schnitt bei 46 Jahren liegt – das ist häufig die Zeit, in der die eigenen Kinder pubertieren, die Ehen kriseln, die Midlife-Crisis sich ankündigt. Danach geht die Stimmungskurve wieder bergauf.
Emotionale Stabilität
Eine älter werdende Gesellschaft hat das Potenzial, eine gelassenere, weisere Gesellschaft zu sein. Gelassenheit ist die Fähigkeit, besser mit Emotionen umgehen zu können, und emotionale Stabilität ist im Alter stärker ausgeprägt als bei Jüngeren.
Dieser demografische Wandel hat handfeste Folgen für Politik und Wirtschaft: In Zukunft werden immer mehr über 70-Jährige Spitzenfunktionen ausüben. Joe Biden und Donald Trump sind erst der Anfang. Auch für die Normalbevölkerung gilt: Wer länger arbeitet, lebt gesünder. Menschen, die im Alter erwerbstätig sind, leiden weniger an schweren Krankheiten und leben oft länger als Gleichaltrige im Ruhestand. Viele wollen länger arbeiten, weil sie den sozialen Wert ihrer Tätigkeit schätzen – insgesamt werden Faktoren wie soziale Kontakte, Teilhabe an gemeinsamen Zielen, Status und Identität von Arbeit höher bewertet. Die Quote der Erwerbstätigen über 60 hat sich in den vergangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt. Sinnstiftende Arbeit hält länger gesund.
Das heißt aber nicht, dass alle immer jünger und fitter werden. Nur zwischen 10 und 30 Prozent unserer Gesundheit sind genetisch festgelegt, schätzt der Altersforscher Sven Völpel. Der Rest hängt von unserem Verhalten ab. Die durchschnittliche Vitalität steigt in der zweiten Lebenshälfte, das zeigen etliche Studien. Vitalität besteht darin, uns auf die Welt so einzulassen, dass wir sie ändern können. Von innen wie von außen. Immer mehr Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck hängen mit dem Lebensstil zusammen. Wir haben es selbst in der Hand, individuell über unser Verhalten und gemeinsam über ein neues Gesundheitssystem diesen Lebensstil zu ändern und damit unser Leben vitaler zu leben.
„Nicht mehr die Jugend ist der Motor des Fortschritts, sondern die Reife“, schrieben Rainer Böhme, Petra und Werner Bruns in ihrem Buch „Die Altersrevolution“ bereits 2007. Die Reife einer Gesellschaft misst sich an ihrer Gelassenheit und Zuversicht im Umgang mit Krisen. Sie ist der wahre Wettbewerbsvorteil, den wir in Zukunft haben. Entscheiden wir selbst, wie alt wir sein wollen. Statt um Anti- geht es um Pro-Aging. Eine Gesellschaft des langen Lebens ist eine der Vitalität und der Lebensfreude.