Köln – Jochen Schmauck-Langer deutet auf das großformatige Gemälde, Simon Meisters „Die Familie Werbrun“, feinster Biedermeier. „Was ist hier für eine Szene zu sehen?“, fragt er die Gruppe älterer Menschen, die sich vor ihm versammelt hat. „Ein Familienausflug?“, vermutet jemand. „Eine Geburtstagsfeier!“, sagt ein Herr bestimmt. „Stimmt“, sagt Schmauck-Langer. „Woran sehen Sie das?“ „Das habe ich gefühlt“, sagt der Herr, genauso bestimmt. „Ist das eine Familie, wie Sie sie kennen?“, fragt Schmauck-Langer weiter. „Nein, die ist größer“, sagt der Mann. „Da muss man ja nur die Kleinen zählen.“
Die Gruppe, die Jochen Schmauck-Langer an diesem Dienstagnachmittag durchs Kölner Wallraf-Richartz-Museum führt, unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von den anderen Besuchern. Gut, einige Teilnehmer brauchen einen Rollator oder Rollstuhl – aber das ist ja nichts Ungewöhnliches. Dass die meisten von Schmauck-Langers aufmerksamen Zuhörern an Demenz leiden und als Teilnehmer eines Demenzcafés des Altenzentrums Hasensprungmühle in Leichlingen hier sind, merkt nur, wer genau hinsieht. Dann fällt auf, dass sich manch einer schwer tut mit detaillierten Nachfragen. Oder dass ein Herr auf einmal auf Schmauck-Langer zugeht und ihn höflich fragt, wo er hier eigentlich sei. „Wir sind im Wallraf-Richartz-Museum“, antwortet Schmauck-Langer sachlich. „Und ich möchte Ihnen einige Bilder zeigen.“
Führungen durch Kölner Museen
Seit 2011 führt Jochen Schmauck-Langer Menschen mit Demenz durch Kölner Museen. Angefangen hat er im Kölnischen Stadtmuseum, dann kamen Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud und das Museum Kolumba dazu, ab Herbst sollen das Museum für Angewandte Kunst und das Museum Ludwig folgen. Schmauck-Langers Verein „Dementia + Art“ organisiert zudem ein Theaterprojekt, ein Mal-Atelier und Konzerte, etwa im Vorfeld des Welt-Alzheimertages, der am kommenden Samstag ist (siehe unten stehenden Kasten).
Bei all dem geht es nicht um Therapie – es geht schlicht um Gerechtigkeit: Demenzkranke sollen Kunst und Kultur genießen dürfen, so, wie sie es wollen und können. Wie jeder andere Bürger auch. „Teilhabe“, heißt das Stichwort. „Es geht nicht um einen Bildungsauftrag oder Wissensvermittlung“, sagt Jochen Schmauck-Langer. Deshalb sind die Angebote auch keine abgespeckten Varianten der normalen Führungen. Sie knüpfen an Emotionen an, oft mit musikalischen Akzenten – die Führungen durchs Kölner Stadtmuseum begleitet ein Akkordeonspieler.
Und im Museum Kolumba darf die Muttergottes von Jeremias Geisselbrunn für die Besucher schlicht eine lebendige Darstellung einer Mutter mit ihrem Kind bleiben – die Weltkugel in dessen Hand lässt sich schließlich auch als Ball sehen. Und dieses Bild stößt in den meisten Beobachtern etwas an, Erinnerungen an die eigene Familie, die Kindheit.
Wer erzählt, schafft sich selbst wieder.
An die knüpft auch Katharina Regenbrecht an: Beruflich vermittelt sie als Koordinatorin des Diakonie-Besuchsdienstes „Tandem“ Helfer für Demenzkranke, in ihrer Freizeit organisiert sie historische Führungen durch den Rheinauhafen – auch für Demenzkranke. Im verkehrsberuhigten Gebiet können sich die Teilnehmer frei bewegen, in Cafés Pausen machen – und der Rhein weckt Emotionen.Gemeinsam lässt die Gruppe die alte Badekultur wiederaufleben, Regenbrecht bringt dazu zeitgenössische Badeanzüge mit und Bilder von Badeschiffen. Bei Straßennamen wie dem Agrippina-Ufer fällt vielen Kölnern spontan das passende Karnevalslied ein. Es wird gesungen und viel erzählt – denn: „Wer erzählt, schafft sich selbst wieder“, sagt Regenbrecht.
Ganz neue Lesarten
„Kunst bietet die Chance auf Freiraum, hier gibt es kein richtig oder falsch“, sagt Sybille Kastner, Kunstvermittlerin am Duisburger Lehmbruck Museum. Bei einem guten Kunstwerk werde das, was es ausmache, auch wahrgenommen. Menschen mit Demenz brächten zudem überraschende Assoziationen ein, die zu ganz neuen Lesarten führen könnten.
Kunst bietet die Chance auf Freiraum, hier gibt es kein richtig oder falsch.
Das Lehmbruck-Museum war ab 2007 das erste in Deutschland, das Führungen für Demenzkranke anbot. Der Auslöser: Die Mutter einer Mitarbeiterin war erkrankt, genoss aber die Museumsbesuche mit ihrer Tochter. Zusammen mit der Duisburger Alzheimer-Gesellschaft entwickelten Kastner und ihre Kollegen ein Konzept, inzwischen schulen sie andere Kunstvermittler – auch Jochen Schmauck-Langer hat sich hier weitergebildet. Ein Forschungsprojekt mit der Medical School Hamburg soll nun zeigen, was die Vermittlung gelingen lässt (siehe Interview). „Unsere Aufgabe als Kunstvermittler ist, das Angebot des Museums jeglichen Zielgruppen zugänglich zu machen. Es sollte zum guten Ton gehören, die Museen für Demenzkranke zu öffnen“, sagt Kastner. Die Herausforderung für den Vermittler bestehe darin, flexibel auf die Gruppe einzugehen, zudem sollten alle Beteiligten, auch die Wächter im Museum, gut vorbereitet seien. Dann könnten die Führungen viel Zuversicht vermitteln. Sie zeigen, dass Genuss möglich ist – auch Kunstgenuss.