Köln – Umso unerbittlicher uns die Wirklichkeit in der Krise vor allem über Zahlen erreicht, die Zahlen der Toten und der Intensivbetten und der Inzidenzen und der Abstandsmeter und der Bazooka-Milliarden, umso wichtiger ist es, dass die Menschen dahinter sichtbar werden. Die 92-jährige Gertrud Vogel gab der Corona-Pandemie am Sonntag ein Gesicht, das hoffnungsvoller stimmt als die meisten, die in den vergangenen Monaten zu sehen waren: Am Sonntag wurde die Bewohnerin der Riehler Heimstätten als offiziell erste Kölnerin gegen das Coronavirus geimpft.
Vor dem Haus 1 der Heimstätten hat sich um kurz vor eins eine derart große Traube an Journalisten, Heim-Bediensteten und Amtsträgern angesammelt, dass eine Sprecherin der Stadt sich verpflichtet fühlt, zu sagen: „Bitte halten sie die Abstandsregeln ein, sonst wird die Polizei sie durchsetzen.“ Es ist ein Satz, an den man sich gewöhnt hat in diesem Jahr, obwohl er bis heute befremdlich daherkommt, und der auch dank des winzigen Fläschchens mit dem Vakzin, das die Ärztin Irene Spiertz-Schmidt in die wie Repetiergewehre schießenden Kameras hält, hoffentlich bald der Vergangenheit angehört.
OB hofft auf Rückkehr zur Normalität
Gertrud Vogel wartet mit einem leisen Lächeln hinter der Maske in ihrem Rollstuhl, derweil Oberbürgermeisterin Henriette Reker vom „schönsten verspäteten Weihnachtsgeschenk, das wir uns vorstellen können“, spricht. „Wir werden mit den Impfungen die Pandemie bekämpfen und zu unserem Leben zurückkehren, das wir sehr vermissen.“ Reker erinnert daran, dass die Krankenhäuser „an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit“ seien und appelliert an die „Rücksicht der Bürgerinnen und Bürger“.
Von einem „guten Tag für das Land und für Köln“ spricht Frank Bergmann, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein. „Die Krankenhäuser sind voll. Bald ist die 1000er Marke bei den Menschen erreicht, die in NRW nach einer Covid-Infektion beatmet werden müssen. Wir sind sehr erleichtert, heute mit den Impfungen beginnen zu können. Vor uns liegt ein langer Marathon: Wir werden Monate für die Immunisierung brauchen.“ Gabriele Patzke, Geschäftsführerin der Sozial-Betriebe, erinnert an „fast täglich neue Verordnungen in den vergangenen Monaten“, das für viele Bewohner schwer zu ertragende Besuchsverbot, die eilig eingerichteten Schnelltestzentren und die enorme Belastung für Pflegerinnen und Pfleger. „Mit den Impfungen können wir hoffentlich bald in eine neue Normalität zurückkehren.“
Am Sonntag wurden 130 Bewohnerinnen und Bewohner der Sozial-Betriebe sowie 50 Pflegekräfte geimpft. Schon Mitte Februar könnten die Bewohner der Kölner Pflegeheime durchgeimpft sein.
Kölns erster Impfling hatte keine Angst
Obwohl das Virus sich in den Heimen weiter verbreitet – am Sonntag waren 346 Bewohner und 279 Mitarbeitende aus Kölner Heimen als infiziert registriert – hatte Gertrud Vogel nie Sorge vor einer Ansteckung. Dafür hat sie in ihrem Leben zu viele andere Tragödien erlebt: Zwei ihrer drei Kinder sind verstorben, das dritte psychisch schwer krank; sie hat den Krieg erlebt und als Trümmerfrau geholfen beim Wiederaufbau; sie hat Stolpersteine für die von den Nazis Deportierten und Ermordeten geputzt und im Bekanntenkreis immer wieder vor Nationalismus und Intoleranz gewarnt; sie sitzt im Rollstuhl und ist fast blind.
Dieser Zeitung hatte sie in einem Gespräch vor einigen Monaten gesagt: „Ich hatte keine Angst, als es hier einen Ausbruch des Virus’ gab, ich möchte im Falle einer Infektion auch nicht künstlich beatmet werden. Mein Intensivbett soll ein jüngerer Mensch haben.“ Sie habe große Sorgen wegen der Pandemie, aber nicht um sich selbst. „Corona ist eine Tragödie für die jungen Menschen. Mir tun die Kinder und Jugendlichen so leid, die für eine so lange, so wichtige Zeit nicht leben dürfen, wie sie möchten. Und die vielen, die ihren Job verloren haben, deren Existenzen durch das Virus vernichtet werden. Und die schlecht Gestellten, die Geringverdiener, die Alleinerziehenden, die es jetzt noch schwerer haben.“
Jetzt sitzt Gertrud Vogel im Foyer des Heims in sicherem Abstand vor den draußen frierenden Journalisten und sagt: „Ich fühle mich geehrt und hoffe, dass sich alle Menschen impfen lassen, der Impfstoff ist ein großes Glück für uns.“ Sie habe noch nie in ihrem Leben „so einen Bahnhof gehabt“, außer vielleicht an ihrem 90. Geburtstag, „da war ich auf dem Eiffelturm, das war auch sehr schön“. Weh getan habe die Impfung gar nicht, „ein Pieks, das war es.“ Sie freue sich, bald wieder mit einem Betreuer zusammen einkaufen zu können. „Aber ich habe mich auch die ganze Zeit ganz toll betreut gefühlt.“
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Viele stimmen am Tag nach Weihnachten in den Chor der Hoffnung fürs kommende Jahr mit ein. Margarete Wermelskirchen (85), die die Spritze kurz nach Vogel erhält, erzählt: „Eingesperrt zu sein in seinem Wohnbereich, war sehr schwierig. Für die Zukunft bin ich jetzt optimistisch. Ich bin immer Optimist.“ Anneliese May (92) sagt: „Mit dem Impfstoff können wir hoffentlich noch ein bisschen leben, ohne diese Sorge die ganze Zeit.“ Hermann Sarnow, offiziell der erste Mann, der in Köln die Impfung erhielt, freut sich, „wieder Ausflüge zu machen, Dampferfahrten zum Beispiel, und Veranstaltungen im Heim. Darauf hoffen ja alle. Man lebt ja, um etwas zu tun und zu erleben“.
Pfleger erleichtert über Impfstart
Bei Michael Frank (48), der als erster Kölner Pfleger das Vakzin erhielt, hört sich die Erleichterung so an: „Wir arbeiten seit dem Ausbruch der Pandemie mit großen Belastungen und Ängsten. Wir haben mitgelitten, als unsere Bewohner isoliert wurden und niemanden sehen durfte. Und es ist schwer, sich ständig als Gefahrenquelle zu fühlen und in der Sorge zu sein, die Menschen, für die man arbeitet, anzustecken. Wir haben ja alle auch unsere privaten Kontakte enorm eingeschränkt. Die Impfungen bedeuten einen großen Schritt zur Normalisierung.“ Heimarzt Guido Marx, der mit seiner Kollegin Irene Spiertz-Schmidt die ersten Bewohnerinnen und Bewohner impfte, sagt: „Hoffentlich gelingt es, bis zum Sommer die Menschen, die es wollen, durchzuimpfen. Das Virus wird dann seinen Schrecken verlieren.“
Gertrud Vogel hatte sich schon vor einigen Wochen gegenüber dieser Zeitung gewünscht: „Hoffentlich bringt Corona die Menschen näher zusammen. Vor allem wünsche ich mir das für die jungen Menschen – sie sollen ihr Leben nicht mit Kriegen und nicht mit einem bedrohlichen Virus verbringen müssen.“