Viele furchtvolle Kindergesichter in Bad Sassendorf im Jahr 1956.
Copyright: Thomale-Friesenhahn
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Köln – Manchmal sind da wieder die Bilder im Kopf. Dann sieht Dorothee Köhl das Mädchen gegenüber am Tisch im Speisesaal: Sie isst den Haferschleim, den die Kinder zum Frühstück serviert bekommen, kann ihn nicht herunterbekommen und übergibt sich. Sofort ist eine Aufseherin bei ihr und zwingt sie, das Erbrochene wieder in sich hineinzuschaufeln, immer wieder, bis es im Körper bleibt. Dorothee Köhl war ein Verschickungskind.
Lange dachte Köhl, dass sie sich diese Erinnerung nur eingebildet hat, als ob sich ihre Fantasie einen schlechten Film zusammen spinnt, den sie sich selbst als ihr eigenes Erlebnis verkaufen möchte. Die Erinnerungssequenz stammt aus der Zeit, als sie neun Jahre alt war und zu einer sechswöchigen Kur in ein Heim nach Brilon ins Sauerland verschickt wurde – wie es damals oft geschah.
8 bis 12 Millionen Verschickungskinder
Von den 50ern bis in die 90er-Jahre machten laut Schätzungen der Initiative Verschickungskinder acht bis zwölf Millionen Kinder diese Art von Zwangsurlaub. Kinderärzte und die Krankenkassen empfahlen das den Eltern, wenn Kinder kränkelten oder zu dünn waren. Bei der geborenen
Dorothea Köhl auf dem Platz der Kinderrechte in Sülz.
Copyright: Susanne Esch
Lindenthalerin Dorothee Köhl, die in Rodenkirchen aufwuchs und deren drei älteren Geschwister schon vor ihr auf die gleiche Reise gegangen waren, war wohl schlicht die Familientradition der Grund dafür, dass sie mit anderen fremden Kindern in den Zug gesteckt und für sechs Wochen verschickt wurde, ins Nirgendwo, aus der Sicht des kleinen Mädchens. Als erwachsene Frau lebte Köhl einige Zeit in den USA, wo sie Wohnaccessoires entworfen und hergestellt hat. Seit ihrer Rückkehr unterstützt sie langzeitarbeitslose Menschen in einer Kreativwerkstatt. Seit einigen Jahren wohnt sie Hennef.
Drill, Angst, Demütigung: Kinder im Zwangsurlaub
Von den sechs Wochen im Sauerland sind ihr Gedächtnisinseln geblieben: Bilder, Klänge, Gefühle, der furchtbare Ton der Stimmen, der Drill, der Morgenappell, die Angst, die sie dazu brachte, nachts ins Bett zu machen, die Demütigung: „Wer eingenässt hatte, wurde vorgeführt“, erzählt Köhl, „fertig gemacht vor allen anderen.“ In der Folge fürchtete sie sich davor einzuschlafen.
Die Schlafprobleme hat sie lange überwunden, doch die Zweifel an die eigene Wahrnehmung blieben. Erst seitdem sie über die Initiative „Verschickungskinder“, die von einer anderen Betroffenen, Anja Röhl, ins Leben gerufen wurde und mittlerweile viele regionale Untergruppen hat, andere Leidensgenossen und -genossinnen getroffen hat, weiß die heute 61-Jährige, dass sie sich die Geschichten nicht ausgedacht hat. Der menschenverachtende Umgang war Standard in den Kurheimen.
Verschickungskinder auf Juist im Jahr 1972.
Copyright: Barbara Seppi
Eine Nacht auf der Pritsche, eingesperrt im Holzverschlag
Der Widdersdorfer Herbert Newen bestätigt die schlimmen Erfahrungen: Weil sein Vater Asthmatiker war, wurde der heute 63-Jährige auf Anraten seines Kinderarztes vorsorglich als Drei- und als Fünfjähriger, mutterseelenalleine in die Kur geschickt, erst nach Borkum und dann nach Bad Reichenhall. Dort versuchten die „Frolleins“ das lebhafte Kind zu bändige – auf ihre Art: Als leises Getuschel die strenge Bettruhe im Schlafsaal störte, wurde Newen als Rädelsführer ausgemacht, aus seinem Bett gerissen und barfüßig in einen kalten, stockdunklen Dachspeicher gebracht. Dort verbrachte er die Nacht auf einer Pritsche, eingesperrt in einem engen Holzverschlag.
Nach seiner Rückkehr nach Hause nässte er wieder ein und entwickelte einen Sprachfehler, der ihn bis heute begleitet. Seine Erlebnisse hatten auch psychische Folgen. „Einen gewissen Mangel an Vertrauen in die Verlässlichkeit und das Gehörtwerden von Personen kann ich heute noch bei mir feststellen“, sagt Newen, der als Heilpraktiker für Psychotherapie arbeitet.
Detlef Lichtrauter, Landeskoordinator der Initiative Verschickungskinder NRW, die sich im Januar gebildet hat, kennt unzählige ähnliche Berichte Betroffener. Im Kern geht es stets um Misshandlung. Die Spielarten waren vielfältig: Beleidigungen, Bestrafungen, Vernachlässigungen, hungern und dursten lassen oder Essenszwang, Toilettenverbot, Strafestehen, Schlafentzug in eisiger Kälte, Abspritzen mit kaltem Wasser, Ans-Bett-Fesseln von Kleinkindern. Traurige Briefe an die Eltern wurden zensiert, wenn diese vor Ort nach ihren Kindern sehen wollten, ließ man sie nicht herein.
Nationalsozialistisches Gedankengut
Die Methoden tiefschwarzer Pädagogik stammen aus einem Gedankengut, das sich in den abgeriegelten Heimen der Kinderverschickung gehalten hat, zum großen Teil in fester Tradition der Kinderlandverschickung (KLV), die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten stattfand. „Die Umgangsformen und Erziehungsmethoden der Betreuerinnen sind nachweislich an nationalsozialistisches Gedankengut angelehnt“, sagt Lichtrauter. „Sie beruhen auf den Prinzipien der Abhärtung, des absoluten Gehorsams, des Brechens des Kinderwillens und der Kinderseele.“ Sie hatten System: „Es gab in den 60er-Jahren den Ratgeber von Sepp Folberth namens Kinderheime-Kinderheilstätten, in denen dem Heimpersonal diese Behandlungsmethoden empfohlen wurden“, so Lichtrauter. Er weiß, welchen Schaden die Opfer genommen haben: „Viele berichten auch nach Jahrzehnten von posttraumatischen Belastungsstörungen, Bindungs-, Angst- und Essstörungen.“
Landtag NRW fordert Aufklärung und Aufarbeitung
Mittlerweile nimmt die Aufarbeitung an Fahrt auf. Der Landtag möchte in diesem Jahr das Leid der Verschickungskinder und das Versagen der staatlichen Kontrolle anerkennen und fordern, dass Staat, Träger und Selbstverwaltungsorgane sich ihrer Verantwortung stellen und die Aufarbeitung vorantreiben. Lichtrauter lobt auch die Arbeit der Landesregierung: „Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Karl-Josef Laumann, hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die uns sehr engagiert bei der Formulierung eines Förderantrags und weiteren Projekten der Aufarbeitung unterstützt.“
Kölner wünscht sich ein Mehr an Achtsamkeit Kindern gegenüber
Herbert Newen wünscht sich noch mehr als das: „Ein Mehr an Achtsamkeit, an Verständnis und Einbeziehung im kindgerechten Sinne, wäre meines Erachtens notwendig. Auch, dass sich das Handeln von uns Erwachsenen an den individuellen Bedürfnissen der Kinder ausrichtet, und nicht an unseren eigenen Sichtweisen und Interessen, beispielsweise wenn wir sie dabei begleiten, ein Hobby oder einen Beruf zu finden.“ Der Botschaft in der Erziehung sollte schlicht die eine sein: „Ich sehe Dich, wie Du wirklich bist.“