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Heimatmusik mit Ögünc Kardelen:„Ich kann das Glück an vielen Orten finden“

Lesezeit 5 Minuten

Der türkische Sänger Öğünç Kardelen

Köln – „Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann. Und mit starren Fingern dreht er, was er kann.“ Am Ende der „Winterreise“, die der Komponist Franz Schubert 1827 vertonte, trifft der Wanderer auf den frierenden Drehorgelspieler, „barfuß auf dem Eise“, ignoriert von den Passanten. „Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an. Und die Hunde knurren um den alten Mann.“ Das Pathos der deutschen Romantik kannte Öğünç Kardelen schon lange, bevor er nach Köln kam. Lieder von der deutschen Heimat, vom Rhein, Kompositionen von Schubert oder Schumann – das gehörte zum Opern-Gesangsstudium an der Dokuz-Eylül-Universität im türkischen Izmir. Die Texte habe er „phonetisch gelernt“, sagt er. Deutsch konnte er noch nicht.

Surfer aus Deutschland

Heute, rund 15 Jahre später, ist Kardelen wieder mit über 100 Jahre alter deutscher Kultur beschäftigt. Er hat für das Stadttheater Mainz eine neue Musik zu einem der schönsten Allzeit-Klassiker der deutschen Kinderliteratur komponiert – zur wunderbaren Geschichte von Peterchens Mondfahrt. In den 15 Jahren hat sich viel getan. Wenn er heute zum Surfen nach Spanien oder Frankreich fahre und gefragt werde, woher er komme, sagt er: „Ich komme aus Deutschland.“

Lieblingsort Ehrenfeld

Einen unbefristeten Aufenthaltstitel hat er bereits, nun läuft das Einbürgerungsverfahren, an dessen Ende eine Zeremonie im Ehrenfelder Bezirksrathaus stehen wird. Wer diese kennt, weiß, dass man bei Bezirksbürgermeister Josef Wirges nicht nur Deutscher wird. Hier hängt neben der schwarz-rot-goldenen Fahne auch die Kölner und die Ehrenfelder. „Ehrenfeld ist mein Lieblingsort“, sagt der Sänger und Musiker. „Ich habe mich klar entschieden, hierzubleiben.“

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Ein Blick über die Dächer seines Lieblingsorts: Ögünç Kardelen auf seinem kleinen Balkon in Ehrenfeld.

Über die Frage, was „Heimat“ ist, denke er nicht so viel nach. „Ich kann mein Glück an vielen Orten finden. Heimat ist, wo man sich zu Hause fühlt. Das ist hier. Manchmal aber auch in Izmir.“ Ein- bis zweimal im Jahr fährt er in die türkische Stadt am Mittelmeer. „Ich kann mich auf beide Städte freuen.“

Vom Ruf der Musikhochschule angelockt

Der 38-Jährige ist einer von unzähligen Musikern, die mit ihrer Kunst die Stadt bereichern. Die Kölner Musikszene ist vielfältig, weil Menschen aus der ganzen Welt Einflüsse und Ideen mitgebracht haben. Kardelen wurde wie viele vom guten Ruf der Kölner Musikhochschule angelockt. Er wollte seine Gesangsausbildung fortsetzen, studierte außerdem Gesangspädagogik.

Der Sänger verstärkte den Kölner Opernchor, doch sein musikalisches Interesse veränderte sich. Er machte ein Musical mit Jugendlichen, arbeitete als Komponist und Bühnenmusiker für verschiedene Theater und gründete zusammen mit einem anderen Zuwanderer die Band Kent Coda.

Der Österreicher Christoph Guschlbauer forscht im Hauptberuf am Institut für Zoologie an der Kölner Uni, in der Band spielt er den Bass zu Kardelens Kompositionen. Als drittes Bandmitglied ist Sercan Özökten dazugekommen. Er trommelt auf der Darbuka. Für Kardelen hat diese arabische Trommel eine besondere Bedeutung. „Wenn ich in der Türkei geblieben wäre und dort Musik machen würde, gäbe es keine Darbuka in der Band“, ist er sich sicher.

Kraftvoller Gitarrenpop mit poetischen, türkischen Texten

Die Bechertrommel ist dort fester Bestandteil von Unterhaltungsmusik, wie man sie auf türkischen Hochzeiten oder in einem Großstadt-Taxi hören kann. „Da nervt das eher. Hier habe ich aber einen anderen Blick bekommen. Man kann etwas neu entdecken, was man schon kannte und nicht besonders mochte.“ Das orientalische Instrument begleitet nun kraftvollen Gitarrenpop mit poetischen, türkischen Texten.

Das neue Album der Band „Bir balik olsam“ ist mittlerweile in Wien aufgenommen worden und soll im kommenden März erscheinen. Am 3.März 2018 wird die Platte im Ehrenfelder Artheater live präsentiert. Übersetzt heißt der Titel etwa „Ich wünschte, ich wäre ein Fisch“ – ein Beispiel für Kardelens Sprache, deren Bedeutung sich nicht immer durch eine wortgetreue Übersetzung erschließt. Er singt über Flüchtlinge und Freiheit, über Tyrannen, Liebe und Frieden. Seine Texte sind politisch, aber nie plump und direkt, er arbeitet mit Bildern und Anspielungen und vermeidet das heikle wie triste Feld der tagespolitischen Debatten.

Dass er immer wieder auch auf die türkische Innenpolitik angesprochen werde, nerve ihn. Für viele sei er offensichtlich „der andere Türke“, so etwas wie das Gegenbild zum Klischee des schlecht integrierten, rückständigen Einwanderers. Damit komme er klar. Aber dieses Bild zeige eben auch, dass viele nur wenig über die Türkei wissen. Sein Leben in Izmir sei „ein lockeres Leben“ mit Musik, vielen Freunden und Freundinnen gewesen. „Die Türkei ist bunt.“

Gleichwohl sieht er auch, wie aus der Vielfalt immer mehr eine bedrohliche Spaltung der Gesellschaft werden kann. Seine Eltern leben weiterhin in Izmir. Die aktuelle politische Lage sei dort natürlich permanent ein Thema. Es gebe so etwas wie eine „Grundunruhe“. Die empfinde er aber auch in seiner neuen Heimat. Der Erfolg der Rechtspopulisten bei der vergangenen Bundestagswahl mache ihm zwar keine Angst, aber doch Sorgen. „So eine Entwicklung kann schlimmer werden. Das kann man in der Türkei sehen.“

Türkisch-kölsches Karnevalslied

Kardelen engagiert sich dafür, dass es nicht so kommt. Kent Coda hat bei „Birlikte“, dem großen Mülheimer Fest gegen Ausgrenzung und Rechtsextremismus, mitgemacht oder 2015 in Deutz auf der Bühne gegen den Zug rechtsradikaler Hooligans durch Köln angespielt. Mit dem Engagement im Umfeld des „Arsch huh“-Netzwerks verband sich die Möglichkeit, Kontakte in die kölsche Szene zu knüpfen.

So hat Kent Coda für das Musikprojekt „Kölsche Heimat“ zusammen mit Kasalla das erste türkisch-kölsche Karnevalslied aufgenommen.

Es ist eine Art „Heimatlied“ über einen Brauch von Einwanderern geworden, von dem die Eingeborenen bis dahin wenig wussten: Nach einer durchgefeierten und durchzechten Nacht nimmt man mit seinen Freunden in einem Lokal in der Weidengasse „et letzte Züppche“ zu sich, bevor alle getrennter Wege nach Hause gehen. „Mach mal Pause, Du Welt voller Sorgen“, singt Kardelen da auf türkisch und zusammen mit Kasalla-Sänger Basti Campmann auf Kölsch: „Mer danze, fiere, Deutsche, Kurde, Grieche, Türke!“

Das Ankommen in einer lebensfrohen Stadt

Beim „Ersten Kölner Krätzjer-Fest“ in diesem Jahr spielte Kent Coda bei der Eröffnung im Gürzenich und eroberte ein Publikum mit türkischen Geschichten, das eigentlich wegen kölscher Lieder gekommen war. Besser kann der kulturelle Brückenschlag kaum gelingen. Bei Kardelen ist das nichts Künstliches oder Konstruiertes, sondern etwas sehr Authentisches.

Durch die Verbindung verschiedener Einflüsse, veränderten Blickwinkeln auf Vergangenes und Gegenwärtiges und das Ankommen in einer lebensfrohen Stadt mit einer vielfältigen Musikszene entsteht etwas Neues. Mit Schuberts Leiermann hat die meist lebensfrohe und optimistische Heimatmusik, die Kardelen heute spielt, nichts mehr zu tun.

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