Das Coronavirus hat den Alltag vieler Menschen auf den Kopf gestellt, so auch das Leben des Kölner Erzbischofs Rainer Woelki.
Doch er sieht in dieser schwierigen Zeit auch eine Chance: „Ich hoffe, dass wir in dieser Zwangspause unsere Maßlosigkeit und unsere Verirrungen erkennen und einen neuen Ausgleich ins Auge fassen.“
Im Interview spricht Woelki darüber, was ihm derzeit am meisten fehlt, wie er die Diskussion über eine Exit-Strategie sieht und wie es sich anfühlt, im leeren Kölner Dom zu predigen.
Herr Kardinal, wann ist Ihnen ganz persönlich die Tragweite der Corona-Krise bewusst geworden?
Rainer Woelki: Spätestens an dem Samstag, als der Generalvikar mich anrief und mir die Mitteilung der Stadt überbrachte, dass die Gottesdienste so nicht mehr stattfinden könnten. Es war gegen 16 Uhr, und in vielen Gemeinden sollten dann um 17 oder 18 Uhr ja bereits die Vorabendmessen stattfinden. Das war dann schon alles sehr knapp. Bis zu diesem Moment hatte ich angenommen, dass dieses Covid-19 eine Krankheit sei, die über uns hinweggehen würde wie eine schwerere Grippe. Aber an diesem Samstag ist mir dann der Ernst, die Dramatik bewusst geworden.
Mein Alltag ist ziemlich auf den Kopf gestellt. Ich musste mich – wie so viele andere jetzt auch – an einen ganz neuen Arbeitsstil gewöhnen mit vielen Telefon- und Videokonferenzen. Was mir vor allem fehlt, ist der persönliche seelsorgliche Kontakt zu den Menschen und natürlich auch die gemeinsame Feier der Heiligen Messe.
Was bedeutet in diesen Tagen der Satz, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“?
Die Nächstenliebe fängt in diesen Zeiten bei der Selbstliebe an: Ich muss sehr gut auf mich achten, ich muss beachten, was die medizinischen Fachleute sagen, all die Vorschriften einhalten, die damit verbunden sind. Auf sich selbst zu achten, heißt aber auch, gut zu spüren, wo ich unter der Isolation leide und beginnen sollte, initiativ zu werden, Kontakte zu pflegen, andere anzurufen. Umgekehrt gilt natürlich auch, dass ich Sorge trage für meinen Nächsten – etwa indem ich zum Telefonhörer greife, Whatsapp-Nachrichten schreibe, die Sozialen Medien nutze, die es mir ermöglichen, zu anderen in Kontakt zu treten. Nächstenliebe heißt auch jetzt: Für andere da sein!
Was ist Ihre größte Sorge?
Es sind ja jetzt so viele Sorgen! Menschlich gesehen ist da zunächst die Gefahr der Ansteckung, vor allem für Alte und Kranke. Meine Sorge ist auch, ob alle Behandlungsbedürftigen einen Platz in den Krankenhäusern finden werden und ob alle gut versorgt werden können, ob zum Beispiel die Geräte, die gebraucht werden, in ausreichender Zahl vorhanden sind. Doch die Sorgen gehen ja noch viel weiter. Denken Sie an alle, die jetzt um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen. Und es ist natürlich meine große Sorge, wie es nach dieser Krise mit unserer Kirche weitergeht. Wie schaffen wir es, dass die Gottesdienste anlaufen können und wieder besucht werden? Dass wir die Menschen neu sammeln können und dass das Gemeindeleben wieder Gestalt gewinnt?
Rechnen Sie mit Abbrüchen beim Gottesdienstbesuch?
Schwer zu sagen. Es mag durchaus Menschen geben, die jetzt die Erfahrung machen, dass ihnen ohne Gottesdienst und ohne ein Gemeindeleben nicht viel fehlt. Aber umgekehrt nehme ich bei sehr vielen Menschen wahr, dass sie gerade jetzt spüren, was ihnen fehlt, dass sie sich nach dem Gottesdienst und auch auf neue Weise nach der Eucharistie sehnen und nach der Begegnung, nach dem Zusammenkommen in den Gemeinden. Es wird sich zeigen, wie stark auf der einen Seite das persönliche Glaubensleben gewesen ist und auf der anderen Seite, wie tragfähig das Gemeindeleben. Beides gehört für uns Christen zusammen. Und wo beides Menschen Halt und Beheimatung gegeben hat, da werden sie zurückkommen, davon bin ich überzeugt.
Wie sehen Sie die Diskussion über den richtigen Zeitpunkt für eine Exit-Strategie?
Die Frage sollte man sehr ernst nehmen. Es steht ja auch ökonomisch viel auf dem Spiel. Für viele Menschen geht es um ihre Existenz. Deshalb sollten wir Verständnis haben für diejenigen, die jetzt fragen, wann wir zur Normalität zurückkehren können. Bei den meisten, die so fragen, hat das nichts mit Naivität oder Herzlosigkeit zu tun. Es geht ihnen um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser ungewöhnlichen Auszeit. Es ist aber gut, meine ich, die Entscheidungen darüber, wann etwa welche Maßnahmen gelockert oder aufgehoben werden können, in die Hände der Fachleute zu legen. Im Moment muss der Schutz des Lebens an erster Stelle stehen, und dafür muss alles getan werden. Wenn wir dann im nächsten Schritt schauen, wie wir verantwortungsvoll wieder in den Alltag hineinkommen, sollte das auch nicht allein aus ökonomischer Sicht bewertet werden.
Sondern?
Wachstum, Profit, das ist nicht alles. Es kann nicht einfach darum gehen, zu produzieren und zu verkaufen. Die wichtigen Fragen der Nachhaltigkeit, der Schöpfungsverantwortung und des Umweltschutzes, die wir vor dieser Krise so stark diskutiert haben, dürfen nicht unter die Räder kommen, wenn es nach Corona plötzlich darum geht, aufzuholen und verlorenen Boden wieder gut zu machen. Im Gegenteil, ich hoffe, dass wir in dieser Zwangspause die Chance nutzen, über unser wirtschaftliches Handeln gründlich nachzudenken, dass wir unsere Maßlosigkeit und unsere Verirrungen erkennen und einen neuen Ausgleich ins Auge fassen: einen gerechteren Ausgleich zwischen Arm und Reich und einen vernünftigeren Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Interessen und Umweltschutz.
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet hat für die von Ihnen angesprochenen Diskussionen über Wege aus und nach der Krise nun eine Reihe von Fachleuten in einen Expertenrat berufen. Die Kirchen sind nicht vertreten. Stört Sie das?
Soweit ich das beurteilen kann, macht unsere Landesregierung unter schwierigen Bedingungen sehr gute Arbeit. Davor habe ich großen Respekt. Wenn ich das richtig wahrgenommen habe, gehört Monika Kleine vom Sozialdienst Katholischer Frauen (SkF) zum Expertenrat. Damit ist die Kirche doch mit am Tisch.
Sind eigentlich die Arbeitsplätze im Erzbistum Köln und im Raum der katholischen Kirche sicher?
Ich denke schon. Es ist nicht daran gedacht, im Zuge dieser Krise Arbeitsplätze abzubauen. Im Gegenteil: Wir brauchen gerade jetzt all die Menschen, die im Bereich der Caritas und Diakonie arbeiten, in Kitas, Krankenhäusern, Pflegeheimen, in den Beratungsdiensten. Und Seelsorge in den Gemeinden kann es ohnehin nie genug geben.
Haben Sie das Gefühl, diese Krise zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen? Könnte die Krise auch etwas Gutes haben?
Das ist in der Tat so, dass wir uns nach den langen Jahren, in denen es immer nur aufwärts zu gehen schien, unsere Verletzlichkeit neu bewusst machen – in einer globalisierten Welt, in der wir alle voneinander abhängen, aber auch ganz persönlich: Unser Leben ist endlich, ist bedroht von Krankheit und Tod. Vielleicht kann diese Krise uns helfen, die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, nach Halt und Orientierung neu zu stellen.
Wenn Menschen in dieser Krise fragen „Wo ist Gott jetzt?“ – was antworten Sie ihnen dann?
Wir sind ja auf dem Weg auf Ostern hin. Ostern ist nicht ohne den Karfreitag zu denken. Wir haben als Christen einen „inkarnatorischen“ Glauben. Das heißt, dass Gott selbst Mensch geworden ist. Neben der Göttlichkeit Jesu müssen wir auch sein Menschsein ernst nehmen. Das schließt das Wissen ein, dass Gott in seinem Sohn alle menschlichen Tiefen – außer der Sünde – selbst durchschritten hat. Was Flucht ist, was Verachtung, üble Nachrede, Spott und Hohn ist, was Angst, Schmerz und Leiden ist – all das hat Jesus erfahren und ans Kreuz getragen. Die große Perspektive der Hoffnung und des Glaubens besteht darin, dass all dies von Ostern her überwunden ist. Matthias Grünewald, der große Maler, hat seinen Isenheimer Altar vor 500 Jahren für ein Spital geschaffen, in dem Pestkranke lagen. Der Gekreuzigte ist bei Grünewald deshalb übersät von Pestwunden, um den Erkrankten in ihrem Leiden deutlich zu machen: „Ihr seid nicht allein! Gott steht an eurer Seite und ist gewissermaßen selber zum Pestkranken geworden. Und Gottes Nähe reicht über den Tod hinaus.“ So erscheint dann, wenn man die Altarflügel mit der Kreuzigungsszene zuklappt, dieses wunderbare Bild der Auferstehung.
Was wird nach der Verlängerung der Maßnahmen gegen das Coronavirus nun aus den Ostergottesdiensten im Erzbistum?
Da die Beschränkung des öffentlichen Lebens verlängert worden ist, werden auch wir uns daran orientieren. Das heißt, dass wir auch für das Osterfest und darüber hinaus die „Notlösungen“ praktizieren, die wir mit Gottesdienstübertragungen und Live-Streaming im Internet etabliert haben. Ich persönlich feiere die Gottesdienste vor allem mit dem Gedanken der Stellvertretung, der im Christentum einen hohen Stellenwert hat.
Wie fühlt sich das eigentlich an, im leeren Kölner Dom Gottesdienste zu zelebrieren?
Das ist schon ein sehr komisches Gefühl. Ich habe mir während der Heiligen Messe vorgestellt, der Dom wäre gefüllt, und es wären die vielen, die virtuell mitfeiern, auch physisch anwesend. Und ich habe versucht, immer konkret ein Gegenüber anzusprechen.
Es gab den Vorwurf, die Kirchen hätten allzu geschäftig auf das Verbot öffentlicher Gottesdienste reagiert.
Wir sind gebunden an die Vorgaben der staatlichen Behörden. Wir haben aber unsere Seelsorger aufgefordert, die Kirchen geöffnet zu halten. Auch die Kapellen in unseren Krankenhäusern und Senioreneinrichtungen sollen geöffnet sein, damit die Menschen dort zum persönlichen Gebet hinkommen oder ein Kerzchen aufstellen können. Wir laden unsere Seelsorger auch ein, verstärkt in den Kirchen als Ansprechpartner präsent zu sein.
Eine Zeit ohne Gottesdienste gab es nicht einmal im Krieg.
Das haben wir sehr wohl beklagt, und wir leiden auch darunter. Sie haben recht: In Kriegszeiten waren die Kirchen für die Menschen geöffnet. Aber damals hatten sie andere – schlimme – Herausforderungen und Gefahren für das Leben zu bestehen. Jetzt ist es ja so, dass eine Zusammenkunft in den Kirchen selbst zur Gefahr würde, wenn Teilnehmer andere mit dem Coronavirus infizieren. Darin liegt der wesentliche Unterschied.
Was halten Sie von seelsorglichen Aktionen wie in Bonn, wo den Gläubigen eine „Seelenspeisung“ angeboten wurde, also eine Art Kommunionempfang „To go“ (zum Mitnehmen)?
Da sollten wir Vorsicht walten lassen. Ich halte es nicht für gut, öffentlich zum Kommunionempfang einzuladen. Wir haben es bislang so gehandhabt, dass Einzelne – etwa nach der Beichte oder dem Gespräch mit einem Seelsorger – auf Wunsch die Kommunion gereicht bekommen konnten. Dieser Einzelfall bleibt möglich. Aber wir starten keine allgemeinen Aufrufe. Dazu sind wir seitens des Landes gehalten. Wenn wir es anders täten, bekämen wir Schwierigkeiten mit dem Land und den Kommunen.
Wir werden aufklären. Nichts von dem, was wir versprochen haben, wird zurückgenommen. Wir halten auch an der Unabhängigkeit des Berichts fest. Niemand in der Diözese kennt den Inhalt vor der Veröffentlichung, selbst ich nicht. Entscheidend und leitend ist jetzt das Bemühen, noch einmal mehr Rechtssicherheit zu bekommen, weil gewisse Bedenken wegen äußerungsrechtlicher Standards und Kriterien existierten. Das wird gegenwärtig geprüft, und die von uns beauftragte Rechtsanwaltskanzlei schaut ihren Bericht unter diesem Gesichtspunkt noch einmal an.
Kann es sein, dass das dann – wie in anderen Bistümern – zur Schwärzung insbesondere von Namen führt? Oder bleibt auch Ihre Zusage bestehen, dass Fehler und Versäumnisse früherer oder heutiger Verantwortlicher in der Bistumsleitung mit Namen benannt werden?
Noch einmal: Wir werden unsere Versprechen einlösen. Namen werden genannt. Aber dafür müssen die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden.
Sie unterstreichen, dass niemand den Bericht kenne. Aber was ist mit denen, die darin vorkommen?
Natürlich sind frühere Entscheidungsträger im Lauf der Untersuchung mit Sachverhalten und Fragen konfrontiert worden, die sich aus dem Aktenstudium und aus den Befragungen durch die Kanzlei ergeben haben. Alle konnten hierzu Stellung nehmen und haben das auch getan. Und nun muss die Kanzlei die Darstellung so fassen, dass sie presserechtlich und äußerungsrechtlich wasserdicht ist.
Sind Sie auch selbst befragt worden?
Ja.
Warum riskieren Sie es nicht einfach, dass der Bericht nach der Veröffentlichung rechtlich angefochten wird? Das würde ja dann durch Personen passieren, die nach den Befunden der Kanzlei Missbrauchsfälle vertuscht, Täter gedeckt oder anderweitig Schuld auf sich geladen sind – genau jenes persönliche und institutionelle Versagen in der Kirche, das Sie aufdecken und dem Sie den Kampf ansagen wollten.
Wir wollen aufklären. Wir wollen nichts vertuschen, nichts unter den Tisch kehren. Und wir wollen – wie es vor allem die Betroffenen, aber auch die Öffentlichkeit einfordern – sowohl das institutionell-systemische als auch das persönliche Versagen benennen. Dabei können wir aber nicht in Kauf nehmen, dass wir mit einem Bericht, der dem Recht Gehör verschaffen soll, gleichzeitig die Rechte von Personen verletzen, die in dem Bericht belastet werden. Denn auch diese Personen haben Rechte, die wir achten müssen. Die Maßstäbe des Rechtsstaats gelten für alle.
Können Sie schon etwas zum Zeitpunkt der Publikation sagen?
Angesichts der Corona-Krise ist das schwierig.
Aber Sie gehen von einem Veröffentlichungstermin noch in diesem Jahr aus?
Ja! Und zwar so früh wie möglich. Aber das haben wir ja nicht selbst in der Hand. Wichtig ist jetzt: Gründlichkeit ist uns wichtiger als Schnelligkeit.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat vor wenigen Wochen beschlossen, die finanziellen Leistungen für Missbrauchsopfer deutlich zu erhöhen. Die Rede war von einer Größenordnung von 50.000 Euro. Hat das Erzbistum schon entsprechend angepasste Zahlungen geleistet?
Nein, weil das genaue Vorgehen in der Bischofskonferenz noch nicht abschließend geklärt ist. Und wir wollen Unterschiede zwischen den Bistümern vermeiden, weil darin ja auch neue Ungerechtigkeiten für die Betroffenen liegen würden.
Das Gespräch führten Carsten Fiedler und Joachim Frank