Die Ausbreitung des Coronavirus hat eine enorme Auswirkung auf das öffentliche Leben in Köln.
Schulen und Kitas sind geschlossen, ebenso wie Bars, Restaurants und Museen. Auch Gottesdienste dürfen nicht mehr stattfinden.
Wir haben mit Pfarrer Frings über Kontrollverlust, die Rückkehr der Menschlichkeit in Zeiten von Corona und wie man die Zeit in der lahmgelegten Stadt sinnvoll nutzen kann gesprochen.
Herr Frings, Corona schafft, was selbst der Krieg nicht geschafft hat: Kirchen schließen, Gottesdienste fallen ebenso weg wie Kommunionfeiern. Wenn Menschen sterben, stehen nur noch die engsten Angehörigen am Grab. Wie empfinden Sie als Priester die Situation?
Mir kommt das gerade vor wie ein langer Karfreitag. Dieser einzige Tag im Jahr, an dem alles geschlossen ist und jegliches Unterhaltungsprogramm wegfällt, er dehnt sich jetzt unendlich in die Länge. Die Stimmung, die jetzt über der Stadt liegt, hat für mich etwas quasi Religiöses. In dem Sinne, was die Definition von Religion ist: Die Unterbrechung aller Abläufe und Verlangsamung. Das ist für die jetzige Situation sehr treffend und das versteht jeder sofort.
Wir machen derzeit eine Erfahrung, die für den Menschen nicht vorgesehen ist. Der Mensch, der gerade in der Not die Rückversicherung in der Gemeinschaft sucht – gerade auch in den Kirchen – wird in die Vereinzelung und damit auf sich selbst zurückgeworfen. Wie schafft man es, diese zutiefst soziale Prägung für ein Frühjahr einfach außer Kraft zu setzen?
Wir sind jetzt in die Vereinzelung gezwungen. Wichtig ist, diese vorgegebene Entscheidung als Haltung mitzutragen und zu gestalten. Diese große Krise fällt nun ausgerechnet in die Fastenzeit. Es ist quasi eine gemeinsame Fastenzeit, in die wir allesamt gefallen sind und die wir für uns umdeuten können. Weil jetzt durch den erzwungenen Verzicht ganz viele Dinge wegfallen und ich ganz viel Zeit habe, stellen sich plötzlich neue, wesentliche Fragen, die sonst überdeckt sind: Woraus lebe ich, wenn ganz viel wegfällt, und wofür lebe ich?
Also ist es der uralte Auftrag des Lyrikers Angelus Silsius: „Mensch, werde wesentlich.“
Wenn ich sage, wir stehen vor der Frage nach dem Sinn des Lebens, dann hört sich das so groß an. Und ich will das überhaupt nicht klerikal übertrieben geistlich aufladen. Man kann das aber glaube ich einfach so stehen lassen.
Zurückgeworfen auf uns selbst, reagieren wir mit den gelernten Mechanismen: Wir planen, wie wir die Zeit sinnvoll nutzen können mit To-Do-Listen: Fotos sortieren, Steuererklärung, Keller ausmisten, Fahrrad putzen. Haben Sie andere Ideen, diese Zeit sinnvoll zu nutzen?
Mein Rat ist, jetzt nicht hektisch ins Abarbeiten von To-Do-Listen zu verfallen: Ruft doch einfach mal Leute an, die ihr lange nicht mehr angerufen habt. Menschen kontaktieren über Social Media und direkt am Telefon. Oder schreibt wieder Briefe oder eine lange Mail. Darüber hinaus rate ich, sich einfach mal hinzusetzen, innezuhalten und die Leere auszuhalten, statt sie sofort wieder mit Aktion zu füllen.
Also quasi das Ganze auch als von außen auferlegtes Selbstexperiment zu nutzen?
Ja. Einfach mal zu gucken, was da kommt aus der Stille. Jetzt hast du die Zeit nachzudenken, wofür du lebst und woraus. Es ist quasi eine große Exerzitienzeit für die Gesellschaft und den einzelnen. Ich mache selber einmal im Jahr Exerzitien. Es ist ein Innehalten, bei dem man sich jedes Jahr dem stellt, was von innen kommt. Das ist leider – das weiß ich aus eigener Erfahrung – oft nicht angenehm, aber es ist notwendig. Weil der Alltag sonst vieles überdeckt. Ich würde mal sagen, es ist aufmerksames Passivsein.
Zur Person
Pfarrer Thomas Frings (59) ist Priester in der Großpfarrei Innenstadt. 2015 legte der Großneffe von Kardinal Joseph Frings sein Amt als Pfarrer in einer Münsteraner City-Pfarrei nieder und begründete den Schritt in dem Bestseller „Aus, Amen, Ende? So kann ich nicht mehr Pfarrer sein“. Nach einer Auszeit in einem Kloster kam er 2018 ins Erzbistum Köln. (ari)
Man hat den Eindruck, dass die Menschen unter dieser Bedrohungserfahrung durchlässiger werden. Durchlässiger und ansprechbarer für Existenzielles. Liegt darin eine Chance?
Ich meine: Ja. Wir erleben dadurch eine Renaissance der Menschlichkeit durch die Verlangsamung. Die Jungen haben Mitleid mit den Alten und Kranken. Mit denen, die jetzt vielleicht alleine in einem Heim sterben müssen. Menschen erkennen etwas Wesentliches, das man nicht kaufen kann: das Soziale, die Begegnung. In dem Moment, wo das wegfällt. In dem Moment der Sorge, der Angst und der Einsamkeit wird deutlich, wie sehr wir daraus leben. Wir merken, was wir vermissen, wenn es nicht mehr da ist. Hate Speech, also die ganzen Hassreden, sind auf einmal weg. Plötzlich gibt es positive Themen wie Gemeinschaft, Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit.
Haben Sie die Hoffnung, dass sich durch diese in ihrer Art einzigartigen Krise nachhaltig etwas verändert?
Ich bin da nicht naiv. Aber meine Hoffnung ist, dass diese Krise eine Gesellschaft hervorbringt, die sich kollektiv erinnert hat. Und zwar an ihre wesentlichen Werte. Mehr erwarte ich nicht. Nach jedem Krieg rufen die Menschen „Nie wieder Krieg“ und es gibt ihn doch wieder. Aber wenn die Erinnerung zumindest eine Zeit lang bliebe, das wäre doch eine Veränderung zum Guten.
Bleibt die Frage, ob das eine Rückbesinnung auf individueller Ebene bleibt oder ob das auf die gesellschaftspolitische Ebene ausgreift?
Ich glaube, die Frage stellt sich gerade auch gesellschaftspolitisch. Wir stellen jetzt ja fest, dass viele Medikamente aus China kommen. Wir stellen fest, dass wir abhängig sind, nur weil das Produzieren dort billiger ist. Die Kernfrage unseres Systems lautet: Was ist das billigste? Jetzt ist die Frage, ob wir uns mit der Erfahrung dieser Krise umorientieren. Ob der Preis in unserem System das Hauptkriterium sein darf oder ob wir da etwas ändern wollen.
Wir erleben ja derzeit neben dem Zurückgeworfensein auf uns und die Entschleunigung noch ein drittes Phänomen, das in der durchoptimierten Hight-Tech-Gesellschaft nicht vorgesehen ist: einen massiven Kontrollverlust. Wie empfinden Sie das?
Das ist eine einschneidende, für uns unbekannte Erfahrung: Wir können auf einmal nicht mehr planen, wo wir doch sonst über Monate weg Urlaube, Konferenzen etc. planen. Es wird uns etwas genommen. Außerdem sind wir eine Gesellschaft, die sich gegen alles versichern kann. Und wenn das nicht greift, kommt der Sozialstaat. Mein Bruder lebt in West-Afrika, wo es das alles nicht gibt, und ich besuche ihn dort oft. Dort gibt es viel weniger Sicherheiten. Das ist die Situation, die wir jetzt erleben und so gar nicht kennen. Da sind wir Lernende. Für den größten Teil der Menschheit ist das eine alltägliche Erfahrung ihres gesamten Lebens.
Kontrolle ist eine Illusion und das Morgen ist nicht sicher. Ist das die Lektion?
Das ist jetzt die kollektive Erfahrung. Die macht man nicht freiwillig, aber sie ist wertvoll. Und glauben Sie mir, in West-Afrika blicke ich in mehr lachende Gesichter als bei uns. Kontrollverlust und fehlende Sicherheiten bedeuten nicht automatisch Unglück. Wir sehen dort, wie Menschen aus dem Moment heraus leben. In der Freude an dem heutigen Tag. Wobei ich überhaupt nicht beschönigen will, dass die Situation jetzt für viele Menschen nicht nur gesundheitlich, sondern auch wirtschaftlich existenziell gefährdet sind.
Ich finde es wichtig, dass wir diese wirtschaftlich Gefährdeten nicht aus den Augen verlieren und den Fokus nicht nur auf die großen Player richten, sondern auf die Kleinen: Die Selbstständigen, Künstler, Musiker, Restaurantbetreiber. Ich habe gerade eine Petition unterschrieben, in der gefordert wird, dass sie alle sechs Monate Mindestlohn bekommen. Das finde ich eine gute Idee.
Als Seelsorger wären sie jetzt so notwendig wie nie und haben plötzlich kein Sprachrohr mehr. Wie wollen Sie die Menschen erreichen, von denen Sie doch gerade jetzt viele – vor allem alte Menschen – so dringend bräuchten?
Es ist wichtig zu sagen: Wir evangelischen und katholischen Seelsorger und Seelsorgerinnen stehen jederzeit zur Verfügung. Am Telefon oder auch per Mail. Es gibt Gottesdienste, die wir im Domradio oder im Internet übertragen.
Aber so ein Gottesdienst im Radio ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Gibt es noch andere, kreative Ideen?
Um auch die Jüngeren zu erreichen, haben wir jetzt die neue Initiative „Aktion Licht-Zeichen“ auf Facebook gestartet. Jeden Abend stellen wir – das Seelsorgeteam der Innenstadt – da eine Kerze ein, geben einen Impuls und halten zehn Minuten inne. Wer nicht auf Facebook ist, kann sich das auf Youtube anschauen.
Und der Dom ist ja auch noch offen...
Diese riesige Kathedrale ist jetzt abgesperrt und nur noch für das Gebet geöffnet. Der Dom, den sonst bis zu 30.000 Touristen mit Handykameras durchstreifen: Er kehrt in dieser Krise wieder an seinen ersten, ursprünglichen Sinn zurück. Er wird wieder ein Haus des Gebets.
Werden Sie selbst Ostern in diesem Jahr anders erleben?
Mit Sicherheit. Es ist jetzt schon anders. Ich lebe ja im Kloster der Benediktinerinnen in Raderberg. Dort feiern wir weiter täglich die Eucharistie und beten. Jetzt hinter verschlossenen Türen. Ich habe das deutliche Gefühl und Bewusstsein, dass wir das jetzt an diesem Ort stellvertretend tun für ganz viele. Das fühlt sich sehr anders an. Wir sind getragen von der Hoffnung, dass wir bald Ostern feiern dürfen. Ein Ostern, das sich, wenn das Schlimmste überstanden ist, ganz anders anfühlen wird, als die Ostern zuvor.