Herr Professor Sellmann, wie erklären Sie den absehbaren Kirchenaustrittsrekord im Erzbistum Köln?
Matthias Sellmann: Diese Zahlen, die paradoxerweise ja auch wieder die evangelische Kirche mit treffen werden, sind nur so zu erklären, dass die Menschen ihre Stadt beschädigt sehen und sich selbst gleich mit.
Der Kölner an sich ist doch gut gutwillig und katholisch, auch wenn er oder sie gar nicht katholisch getauft ist. Aber gegenwärtig löst es Irritationen aus, wenn man sagt, man komme aus Köln - und sei womöglich auch noch katholisch. Ohne es zu wollen, wird man in seinem Nahbereich rechtfertigungspflichtig. Das erleben Menschen als etwas ganz Unangenehmes. Ich stelle mir das so vor wie bei FC-Fans, wenn ihr Verein am laufenden Band verliert.
Aber der Trend macht nicht an den Kölner Grenzen Halt. Die Ausstrahlung auf die evangelische Kirche nannten Sie eben selbst.
Ich vermute trotzdem, dass die Kurve im katholischen Köln besonders drastisch ausfällt. Zum einen gibt es hier offenkundig Empörung über das Agieren des Erzbischofs. Dazu kommt gerade wohl auch eine Art Franziskus-Effekt.
Was ist das?
Damit meine ich die Enttäuschung vieler Katholikinnen und Katholiken, dass der Papst die angebotenen Rücktritte von Bischöfen aus Köln, aber auch aus München und Hamburg nicht angenommen hat. Für viele lässt der Papst die Reformverheißung unerfüllt, die man mit ihm verbunden hat.
Halten Sie eine Trendumkehr für möglich?
Aus der Pastoralsoziologie wissen wir, dass es zwei entscheidende Quellen gibt, aus denen sich Sympathie oder eben auch Antipathie für die Kirche speist: die Naherfahrung, also das unmittelbare Erleben von Kirche vor Ort, und das Erscheinungsbild der Kirche im Großen und Ganzen. Positive Erlebnisse in und mit der eigenen Gemeinde haben starke Bindungskraft. Etwa wenn man würdige Begräbnisse erlebt, inspirierende Predigten oder feierliche Erstkommunionen. Erscheinen solche positiven Erlebnisse aber in der Wahrnehmung der kirchlichen Großwetterlage als Ausnahme von der Regel, dann wird das Bleiben zu einer Frage des Goodwills, der Beharrlichkeit oder der Widerständigkeit gegen die Fliehkräfte, die einen aus der Kirche heraustreiben. Wer ohnehin eher lose mit der Kirche verkoppelt ist, will sich nicht bei Nachbarn, Freunden und Kollegen für sie rechtfertigen müssen.
Das Problem der Kirche ist, dass die Menschen immer weniger der genannten Naherfahrungen machen – und wenn, dann mitunter auch noch negative. Die Strategie müsste es deshalb sein, das zu ändern und bessere Erlebnisse zu vermitteln.
Und wie?
Durch hohes Qualitätsbewusstsein, überraschende neue Formate, auch durch andere Formen der Ansprache, verstärkte Präsenz auch in den neuen Medien. Und zwar so, dass deutlich würde: „Es hat Sinn, was Kirche tut. Die können etwas, was wichtig ist. Gut, dass es sie gibt.“ Aber all dieser Einsatz in der Nähe nützt natürlich nur dann etwas, wenn man zugleich die großen Negativposten beseitigt, die eine Dauerirritation für jeden darstellen, der auch nur die ganz normalen bürgerlichen Standards von Recht und Moral anlegt. Der „Synodale Weg“ der deutschen Kirche ist auch deshalb wichtig, weil er zumindest als Versuch einer Aufräumaktion wahrgenommen wird.
Für die Kölner Bistumsleitung spielt der Synodale Weg aber erklärtermaßen keine Rolle. Sie erwähnt lieber den weltweiten synodalen Prozess, den der Papst ausgerufen hat.
Beide Prozesse sind sehr wichtig und sollten ineinandergreifen. Für Menschen, die kurz vor dem Kirchenaustritt stehen, wird es aber am Ende nur um eines gehen: um die Glaubwürdigkeit der handelnden Personen, gedeckt von der Glaubwürdigkeit der Institution dahinter.
Zur Person
Matthias Sellmann, geb. 1966, ist Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum. Er leitet das Zentrum für Angewandte Pastoraltheologie (ZAP) und ist Berater des Synodalen Wegs, eines Reformprozesses der katholischen Kirche in Deutschland.