Der 50-Jährige will den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmen – und sich beim Sterben helfen lassen.
„So lange die Kräfte reichen“Wie sich ein todkranker Kölner Polizist seine letzten Wünsche erfüllt
Ob er es unverblümt wissen wolle, fragt der Arzt, nachdem er sich neben Mike Heßler ans Bett gesetzt hat. Er habe jetzt die Ergebnisse.
Zwei Tage hat der Kölner Kriminalpolizist im Klinikum Leverkusen neurologische Tests absolviert. Seit einer Weile hat Heßler in zwei Fingern seiner linken Hand keine Kraft mehr. Dazu diese unerklärlichen Sprachstörungen. Einzelne Wörter kommen nur noch verwaschen aus seinem Mund, vernuschelt, vor allem Wörter mit „l“. Klinikum zum Beispiel. Wenn Heßler das sagt, klingt es ein bisschen so, als sei er betrunken. Sein Neurologe hat den 50-Jährigen zur Abklärung ins Krankenhaus geschickt.
Köln: Mike Heßler will Sterbehilfe in Anspruch nehmen
„Ja“, antwortet Mike Heßler dem Arzt neben seinem Bett. Er ist auf Vieles gefasst, nur nicht auf eine tödliche Diagnose, schließlich ist er topfit. Er macht Kraftsport, fährt Ski, hat früher Fußball gespielt. Also: Ja, unverblümt bitte. „Durchschnittliche Lebenserwartung: drei bis fünf Jahre“, sagt der Arzt. Und dann sei bei ihm erstmal Ende gewesen, beschreibt Mike Heßler den Moment heute, zwei Jahre später. Aber nur kurz. „Ich dachte, vielleicht stimmt das gar nicht. Ich mache die Tests einfach nochmal, ich fühlte mich ja eigentlich gut.“
Alles zum Thema Klinikum Leverkusen
- Auswertung von Uber Leverkusen ist die Stadt, die niemals schläft
- Herzinsuffizienz Mitralklappenzentrum im Klinikum Leverkusen ausgezeichnet
- Neubau am Klinikum Leverkusens erste Kinderpalliativstation ist fertig
- COPD-Tag Leverkusener Lungenfachärztin: „NRW ist ein Raucherland“
- Ministerium rudert bei Reform zurück Klinikum Leverkusen darf weiter Hüften und Knie operieren
- Konzert für Leverkusener Kinderpalliativstation Shanty-Chöre versetzen Zuschauer an die Nordsee
- Es wird weiter gesucht Die Zahl der Pflegekräfte in Leverkusener Kliniken steigt
Der Arzt fragt: „Möchten Sie mal fünf Minuten im Park spazieren gehen?“ – „Nee, brauch ich nicht“, antwortet Heßler. Er ruft seine Frau auf der Arbeit an, bittet sie, sofort ins Krankenhaus zu kommen, mehr will er ihr am Telefon nicht sagen. „Und dann kam sie, und wir haben nur noch geheult.“
Mike Heßler hat Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, eine fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Zerstörung der Nervenzellen, die die Muskeln steuern, lässt sich mit Medikamenten verlangsamen, heilbar ist sie nicht. Nach und nach treten Lähmungserscheinungen auf, am Ende erstarrt die Atemmuskulatur. Der Astrophysiker Stephen Hawking lebte Jahrzehnte mit dieser Krankheit, bei den meisten Menschen führt sie allerdings innerhalb weniger Jahre zum Tod. Mike Heßler plant inzwischen seine eigene Beerdigung. Verbrannt werden möchte er, beigesetzt unter einem Baum im Trostwald. „Ich fände es schön, wenn alle dabei wären, die möchten.“
An einem kühlen, bewölkten Vormittag Anfang Juni sitzt Mike Heßler in einem Aufenthaltsraum des Kölner Polizeipräsidiums in einem Sessel. Die Geschichte, die er erzählt, handelt von Leid, von Schwermut und Melancholie. Aber auch von Trotz und Lebensmut. Von einer ungeheuren Kraft – und dem festen Plan, selbstbestimmt zu sterben.
Seinen linken Arm kann er nicht mehr bewegen, der sei schon „kaputt“, sagt Heßler. Er schlägt die Beine übereinander. Seit kurzem machen auch sein linkes Bein und der Fuß Probleme. Mike Heßler humpelt leicht, er ist schon ein paarmal gestürzt und hat sich die Stirn aufgeschlagen. Sein rechter Arm funktioniere noch zu 90 Prozent, sagt er. „Sobald der auch ausfällt, sage ich: Das war’s. Ein Leben ohne Arme und Beine ist für mich kein Leben. Ich will kein Pflegefall werden.“ Auch seiner Familie wolle er das nicht zumuten.
Mike Heßler möchte sich beim Sterben helfen lassen. Sorgsam hat er in den vergangenen Monaten alles vorbereitet. Er ist Mitglied geworden im Verein Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Hat die erforderlichen Atteste vom Arzt beigebracht, bereits fast alle vorgeschriebenen Gespräche mit Juristen, Psychologen und Medizinern geführt, seine Freiwilligkeit erklärt und einen schriftlichen Antrag auf Vermittlung einer rechtssicheren, ärztlichen Freitodbegleitung gestellt. Seine Frau und die Töchter unterstützen ihn, sagt er. „Wenn es so weit ist“, sagt Mike Heßler, „rufe ich bei der DGHS an, und dann machen wir einen Termin.“ Alles ist entschieden. Nur wann es soweit ist, weiß er noch nicht. „Ich plane im Moment nicht mehr als drei Monate voraus.“
Zwei Tage pro Woche ist der 50-Jährige noch im Polizeipräsidium in Köln-Kalk, bearbeitet Strafanzeigen, tippt Vermerke mit der rechten Hand. Den Rest der Arbeit erledigt er im Homeoffice. Außeneinsätze darf er nicht mehr wahrnehmen, er kann die Dienstwaffe nicht mehr halten. Weil er zunehmend Probleme beim Sprechen hat, übernehmen Kollegen seine Vernehmungen. Der Chef habe zu ihm gesagt: „Mike, mach so viel, wie du schaffst. Hauptsache, du bist da.“
Zwei bis drei Menschen von 100.000 erkranken jedes Jahr an ALS
Nach der Diagnose hatte Heßler ein halbes Jahr mit dem Job ausgesetzt. Den Schock verarbeitet, eine Psychotherapie begonnen. Zeit mit seiner Frau und den Töchtern verbracht, den Hund spazieren geführt, das Haus in Ordnung gehalten und Sport getrieben, um die Krankheit aufzuhalten. Dann wollte er wieder arbeiten. „Ich habe die sozialen Kontakte vermisst.“ Und er wolle auch nicht nur zu Hause herumsitzen. „Ich möchte mein Geld noch verdienen. Ich habe ja auch Verpflichtungen. Wir zahlen ein Haus ab. Ich habe Familie, Kinder, die studieren und die wir unterstützen möchten.“ Seine Töchter sind 20 und 22 Jahre alt.
Zwei bis drei von 100.000 Menschen weltweit erkranken jedes Jahr neu an ALS. Vieles ist noch unerforscht, vor allem der genaue Grund, warum manche erkranken, aber die meisten nicht. Gegenwärtig geht die Forschung von Zufall aus. Mike Heßler ist einer von knapp 9000 ALS-Patienten in Deutschland, und jeder geht anders mit der Krankheit um. Heßler hat sich entschieden, alles mitzunehmen, was noch geht. So lange seine Kräfte reichen.
Während Arme und Beine schwächer werden und die Worte immer undeutlicher aus seinem Mund kommen, versucht er im Eiltempo, schöne Dinge nachzuholen, die er längst hätte machen sollen – wie er heute sagt. Mit dem rechten Zeigefinger wischt er über sein Handy. Zeigt Fotos vom Golf spielen mit seinem Freund Michael, von einem Kurztrip in die Karibik mit seiner Frau Katja. Er war mit seinem Kumpel Frank zum ersten Mal in den USA bei einem Spiel seiner Lieblings-Football-Mannschaft New England Patriots. Hat sich Fjorde in Norwegen angesehen und auf Vermittlung eines Freundes den Fußball-Nationalspieler Robert Andrich von Bayer Leverkusen getroffen. Alles in den vergangenen beiden Jahren.
Und die Bucketlist ist noch nicht abgearbeitet. Ein Fallschirmsprung steht noch darauf. Ein Hubschrauberflug. Und bald ein paar Tage Kreuzfahrt mit einem Freund. Der hatte dafür eigens eine Spendenkampagne auf dem Internetportal Gofundme unter dem Stichwort „Letzte Reise, Erinnerungen schaffen“ gestartet. Die beiden hofften, damit die Anzahlung leisten zu können. Aber inzwischen sind mehr als 16.000 Euro zusammengekommen. Mike Heßler ist überwältigt. „Ich habe unglaublich viel Freundlichkeit, Herzlichkeit und Großzügigkeit erlebt.“ Das Geld beruhige ihn, sagt er, es solle seiner Familie den Übergang erleichtern, wenn er nicht mehr da sei.
Sein vielleicht letztes großes Ziel heißt noch einmal Nordeuropa, Finnisch-Lappland vielleicht. „Ich möchte unbedingt die Polarlichter sehen und mit Huskys Schlitten fahren.“ Wenn er eine Botschaft an alle loswerden dürfe, sagt Mike Heßler, dann diese: „Lebt jetzt. Genießt das Leben. Schiebt nichts auf.“
Schlimm sei der Gedanke an den endgültigen Abschied. Schon jetzt nimmt der 50-Jährige Medikamente, die seine Emotionen hemmen. „Sonst müsste ich pausenlos heulen.“ In bestimmten Situationen reagiert er übersensibel, auch das ist eine Folge der fortschreitenden Nervenschädigung im Gehirn. Ob er am Ende nochmal alle Freunde zu einer großen Abschiedsparty einlädt? „Ich weiß nicht, ob ich das emotional schaffen würde. Ich habe noch keine Ahnung, wie ich es machen soll.“
Heßler zeigt seinen rechten Arm, er ist übersät von Tattoos. Verwandte und enge Freunde durften sich mit Symbolen, Sprüchen oder Bildern verewigen, die sie mit Mike verbinden. Das war seine Idee. Da ist ein Kussabdruck von seiner Frau, Pfoten vom Border Collie der Familie. Vater, Mutter und zwei Kinder als Strichmännchen. Zwei kleine Bierkrüge mit dem polnischen Wort „Środa“ darunter – Mittwoch; von seinem besten Freund Simon, einem Polen, mit dem Heßler sich seit 16 Jahren jeden Mittwochabend trifft. „Alles Erinnerungen“, sagt der 50-Jährige. Wenn der rechte Arm volltätowiert ist, sei Ende. „Den kaputten Arm mache ich nicht.“
Von seinen letzten Minuten hat Mike Heßler klare Vorstellungen. Ein Arzt und ein Anwalt der Gesellschaft für Humanes Sterben kommen zu ihm nach Hause. Heßler liegt in seinem Bett. Der Arzt legt ihm einen Zugang, schließt eine Kanüle mit einem Plastikschlauch an und legt ihn Mike Heßler in die rechte Hand. Dann füllt er den Schlauch mit der todbringenden Substanz. Der Schlauch ist geknickt, damit die Flüssigkeit nicht in Heßlers Körper läuft. Der Arzt verlässt das Zimmer. Mike Heßler ist jetzt alleine mit seiner Frau. Seine Töchter, sagt er, könnten frei entscheiden, ob auch sie dabei sein wollen. Dann wird er seine Hand öffnen.