Nico Raddatz liebte den Karneval, die Feuerwehr und seine Oldtimer. Seinen Mitmenschen half er gern, doch selbst Hilfe anzunehmen, fiel ihm schwer.
Nachruf auf Nico RaddatzKölner Feuerwehrmann half den anderen und gab sich selber auf
Irgendwo am Rand oder einen halben Schritt hinter den anderen, möglichst unauffällig jedenfalls, steht er da, dieser blonde, braungebrannte Mittzwanziger. Als fühle er sich nicht zugehörig. Als sei irgendetwas ungesagt. Wie nach seinem ersten Einsatz in jener Nacht auf den 9. Januar 2020 vor dem Kölner Dom.
Dunkle Wolken umwehen die Turmspitzen, die halbe Kölner Feuerwehr wird alarmiert. Doch der Rauch entpuppt sich als tief sitzender Nebel. Entwarnung. Zum Andenken an den großen Schreck stellt sich die Löschgruppe Lövenich auf zum Gruppenbild. Ein Dutzend Kameradinnen und Kameraden strahlt in die Kamera. Ganz links und etwas nach hinten versetzt: Nico Raddatz. Mit Mühe lässt sich ein Lächeln in sein Gesicht interpretieren.
Im Rückblick, sagt Felix Harnischmacher, Leiter der Löschgruppe Lövenich und guter Freund der Familie Raddatz, hätten solche Bilder ein Signal sein können, eine Mahnung.
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Dabei war „der Nico“, wie Harnischmacher sagt, auch ein Draufgänger, der sich nichts anmerken ließ. Seine frühe mentale Reife, sein Erwachsensein ließen ihn zum Stufensprecher werden. Schon mit 18 fuhr er seinen ersten Oldtimer, einen Kadett. Kurz danach kam der zweite dazu, wieder ein Opel, diesmal ein Manta in ockergelb. „Autos waren sein Ein und Alles“, sagt Nemo Buschmann, Nicos bester Freund. „Als seine Mitschüler vor der Konsole hingen, saß Nico am Steuer.“
Manchmal, wenn ihm alles irgendwie zu viel wurde, fuhr Nico aus Lövenich heraus, an Brauweiler vorbei, irgendwo entlang der Felder, scheinbar ziellos der Sonne entgegen. Dann setze er die Sonnenbrille auf, drehte die Fenster runter, schob Alben von Bob Dylan und Bruce Springsteen in den CD-Schlitz und fing den Wind mit den Haaren ein. Dann war er allein in der Welt. Dann fühlte er sich frei.
Nico Raddatz war ein Kölner mit Leib und Seele
Nico liebte es aber auch, unter Leuten zu sein, im Karneval, bei Festen im Veedel, bei der Feuerwehr, in seiner Stammkneipe „Im Höfchen“. Mit seiner Familie, den Freunden und Kameraden verbrachte er Tage, Abende, Nächte. Eines Nachts, alles hatte schon zu und Höfchen-Wirt Christian Baggeler kam gerade nach Haus, da waren Nico und ein paar Freunde noch unterwegs und hatten Durst. Also rief Nico seinen Lieblingswirt an und fragte nach einem Fässchen Kölsch.
Baggeler machte sich umgehend auf den Rückweg und gab ein Pittermännchen heraus, das Nico und die Jungs zu Hause anzapften. „Nico kannte aber genau seine Grenzen. Er wusste, wann er genug getrunken hatte und wie er nach Hause kommt“, erinnert sich Baggeler. Irgendwann ließ Corona all das nicht mehr zu, von einem Tag auf den anderen. Alles, wofür er lebte, brach so schnell in sich zusammen. Die Online-Übungen der Feuerwehr behagten ihm nicht, am Ende schaltete er sich kaum noch ein.
An ihren Jacken tragen sie eine Lederschleife mit Nicos Initialen und der Zahl 30, der Nummer seines Spindes, in dem bis heute seine Sachen hängen. „Er hat eine riesige Lücke in die Truppe gerissen. Hätte Nico geahnt, was er uns antut, hätte er es nicht gemacht“, glaubt Harnischmacher.
Nico Raddatz hat eine riesige Lücke in die Kölner Feuerwehr gerissen
In den Besprechungsraum haben sie Nicos Helm an die Wand gehängt und darunter ein großes Foto von ihm. Das Bild zeigt ihn beim Lövenicher Veedelszug. Da ging er mit Feuerwehruniform aus dem 19. Jahrhundert mit Pickelhaube und dunkelblauem Jackett und verteilte Strüßjer.
Nico war Kölner mit Leib und Seele. Er kannte das halbe kölsche Liedgut auswendig, Bap, Brings, Bläck Fööss, aber auch die neuen Lieder. Ihren Mercedes-Bus fuhren er und sein bester Freund Nemo oft raus in die Welt, am liebsten zum 24-Stunden-Rennen am Nürburgring. Sie lackierten ihn rot und weiß, den Farben der Stadt und ihrer Feuerwehr. Und sie ließen ihn Trude heißen, so wie Trude Herr, die einst den Drang nach Freiheit besang und die Tränen des Abschieds. Und dass irgendwas für immer bleibt.
Hilfsbereit gegenüber den Kölnern und der Stadt
Von Nico wird seine Hilfsbereitschaft bleiben, gegenüber den Menschen und der Stadt. Im Höfchen mussten sie nicht zweimal fragen, als sie jemanden suchten, der den Nubbel verbrennt. Nico sagte sofort zu. Weil er helfen konnte. „Er war immer der Erste, der angepackt hat, und der Letzte, der ging“, sagt Harnischmacher. Als für eine Strandparty zehn Tonnen Sand über das Feuerwehrgelände transportiert werden mussten, ließ er sich über Stunden die Schubkarre nicht abnehmen. „Am Ende hatte er Blasen und Schwielen an den Händen“, berichtet Harnischmacher. „Aber so war Nico immer. Er hat geschuftet ohne Ende. Wenn er anderen Menschen helfen konnte, war er glücklich.“
Selbst Hilfe anzunehmen aber, fiel ihm schwer. Vielleicht war es Selbstschutz, vielleicht das tiefe Bedürfnis, andere mit den eigenen Problemen nicht zu belästigen, vielleicht seine Angewohnheit, dort Probleme und Konflikte zu sehen, wo keine waren. Vielleicht all das zur gleichen Zeit. Wer wusste das schon, vermutlich nicht einmal er selbst. Er musste sich überwinden, nach Rat zu fragen. Und so versuchte er, Probleme allein zu lösen.
Bei Gegenständen gelang ihm das auch meist. Das schwere Gerät der Feuerwehr, die Schläuche, die Pumpen, die großen Wagen. Das faszinierte ihn, das zeigte er mit Freude dem Nachwuchs beim Kinderfest der Feuerwehr. Am liebsten hätte er alles auseinandergeschraubt, um es dann selbst wieder zu reparieren. Von Atemschutzübungen im Hitzecontainer erzählte er so begeistert wie andere vom Heimsieg des FC. „Endlich ist was los“, sagte er. „Den Piepser zu tragen, der ihn jederzeit zum Einsatz rufen konnte, war das Größte für ihn“, sagt Buschmann. Auch den blauen Feuerwehr-Parka trug Nico mit Stolz. Manchmal nahm er ihn mit nach Hause.
Kölner Feuerwehrmann Nico Raddatz hat alle psychologischen Tests mit Bravour bestanden
In der Schule wurde Nico zeitweise gemobbt, als er gerade dabei war, sich selbst zu finden. Zurückweisungen und Kränkungen mitten in der Phase der Identitätssuche stecken die einen gedankenlos weg. Bei den anderen hinterlassen sie tiefe Wunden. Nico legte großen Wert darauf, wie sein Umfeld auf ihn reagierte, dass er angenommen wird als der Mensch, der er war. Auch mit der Folge, sich manchmal selbst zu vergessen. Selbstzweifel und eine innere Zerrissenheit – auch das war Nico phasenweise, ohne dass es jemand mitbekommen hat. „Seine Kölner Heimat hat er geliebt, seine eigene, innere Heimat hat er nie gefunden“, sagt Buschmann. In der Hierarchie der Feuerwehr fand er zumindest Orientierung und Halt.
Dass er nicht mal einen Abschiedsbrief hinterließ, in jener Nacht, in der er sich plötzlich und leise entschied zu gehen, macht seinen Tod noch unbegreiflicher. Niemand weiß, was Nico antrieb. Warum er sich so verlassen gefühlt hat, wo er doch so viele Menschen um sich herum hatte. Warum er nur diesen einen Weg sah. Es muss eine Übersprungshandlung gewesen sein, eine Reaktion auf irgendeine Art von Enttäuschung. Für den nächsten Tag hatte er sich noch verabredet.
Überhaupt war Nico bis zuletzt voller Pläne. Beim Ordnungsamt hatte er gekündigt und beim Zoll am Flughafen unterschrieben. Die Pflichttests zur „persönlichen Eignung und geistigen Reife“, eine Schusswaffe mitzuführen, bestand er mit Bravour beim ersten Versuch, ebenso alle 16 Module der Feuerwehrausbildung, die er Ende 2019 abschloss.
Eine Nacht vor seinem Tod geht der Piepser noch einmal. Nicht mal Nico selbst weiß, dass es sein letzter Einsatz werden soll. Ein Auto brennt nachts in Weiden. Keine Verletzten, nichts Großes, das Feuer ist schnell aus. Wie immer trifft sich die Truppe aber noch zu einer kurzen Nachbesprechung auf der Wache. Nico dreht sich dabei eine Zigarette, wie üblich. Die Kameraden haben diesmal kaum Redebedarf, wollen zurück ins Bett. Jeder geht seiner Wege in einer dieser so traurig menschenleeren Kölner Nächte während der Ausgangssperre im Frühling 2021, in der sich Nico offenbar wie so viele in der Stadt so einsam fühlt. „Nichts hat er sich anmerken lassen, der Nico, nichts“, sagt Harnischmacher. Dabei hätten sie ihm alle geholfen, wenn sie nur irgendetwas geahnt hätten. Wenn er nur irgendetwas gesagt hätte. Ein Sterbenswort.
Nico Raddatz, geboren am 07.02.1996 in Frechen, gestorben am 06.05.2021 in Köln.
Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen
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