Bund und Länder haben mehrere Lockerungen in der Corona-Krise beschlossen. In das Leben der Kölner tritt etwas mehr Normalität ein.
Jedoch soll eine Notbremse in Kraft treten, wenn es zu viele Neuinfektionen gibt. Richtwert soll 50 neue Infektionen pro 100.000 Einwohnern pro Woche sein.
Im Interview spricht Johannes Nießen, Leiter des Gesundheitsamts, über die Lockerungen, den Notfallplan der Stadt und die Auswirkungen für die Kölner.
Herr Nießen, was halten Sie von den Lockerungen, die Bund und Länder beschlossen haben?
Ich befürworte die Lockerungen. Die Freiheit wird ein bisschen größer. Zum anderen gibt es natürlich auch die Sorge über die Folgen, die das haben könnte. Im Großen und Ganzen sind wir aber zufrieden, wie die Bevölkerung in Köln die Kontaktsperre umgesetzt hat. Leider gab es bislang 94 Verstorbene. Wenn wir aber nicht so viel und so schnell gemacht hätten, wäre es wohl schlimmer gekommen. Die Lockerungen sind fast so etwas wie eine Belohnung. Aber wir müssen weiter vorsichtig sein.
Eine Notbremse soll in Kraft treten, wenn es zu viele Neuinfektionen gibt. Richtwert soll 50 neue Infektionen pro 100.000 Einwohnern pro Woche sein. Für die Stadt Köln würden das etwa 500 Neuinfektionen pro Woche bedeuten. Richtig?
Es sind sogar 540, weil Köln ja etwas mehr als eine Million Einwohner hat. Das ist die Grenzzahl über sieben Tage. Derzeit liegen wir drunter, aber wir wissen nicht, was die Lockerungen mit sich bringen.
Es gibt derzeit knapp 2400 bekannte Corona-Fälle in Köln. Der Wert von 500 pro Woche erscheint recht großzügig.
Die Vorgabe der Bundeskanzlerin habe ich nicht zu verantworten. Wir richten uns nach dem, was vorgegeben wird. Wir sind derzeit weit drunter und sehen dieser Zahl mit einer gewissen Entspannung entgegen. Wir haben in der vergangenen Woche nicht einmal 100 neue Infektionen gehabt. 540 ist weit weg.
Zur Person
Johannes Nießen (62) ist seit 2019 Leiter des Kölner Gesundheitsamts. Zuvor war er von 1988 bis 1995 zunächst als AIDS-Fachkraft und später beim Amtsärztlichen Dienst des Gesundheitsamtes der Stadt Bonn beschäftigt. 1995 übernahm er die Leitung des Gesundheitsamtes Hamburg-Eimsbüttel, wechselte 1999 als Abteilungsleiter zur Gesundheitsbehörde Hamburg. Seit 2002 leitete er das Gesundheitsamt in Hamburg-Altona. Hier koordinierte Nießen ab 2015 die medizinische Flüchtlingsversorgung des Stadtstaates. Seine Arbeit wurde 2017 mit einem Preis des vom Bundespräsidenten unterstützen Wettbewerbs „Deutschland – Land der Ideen“ ausgezeichnet. (ris)
Was war denn der Höchstwert, den es in Köln gab?
In der Höchstzeit hatten wir 100 Fälle am Tag. Einmal sogar 143.
Kritiker monieren, beim Wert 500 pro Woche könnte das Infektionsgeschehen in einer Millionenstadt aus dem Ruder laufen. Wie sehen Sie das?
Wir hatten diese Zahlen ja in der Höchstzeit und haben es in den Griff bekommen. Dafür waren aber massive Maßnahmen notwendig. Wenn man aber nicht gegengesteuert hätte, hätte es aus dem Ruder laufen können. Man kann mit der Oberbürgermeisterin sagen: Corona hatte uns im Griff, jetzt haben wir Corona im Griff.
Falls der Wert der Notbremse doch erreicht wird, wie sieht der Notfallplan der Stadt aus?
Wir haben nun einen Gang hochgeschaltet und müssten dann wieder einen Gang runterschalten. Die Maßnahmen, die erprobt sind, müssten wieder eingeführt werden, auch das Kontaktverbot. Daher lautete mein Appell, sich an die Abstandsregeln und die Hygienemaßnahmen zu halten. Wir haben personell erheblich nachgesteuert, so dass wir alle Kontaktpersonen verfolgen können. Daher meine ich, dass wir gut vorbereitet sind, wenn die Zahlen wieder ansteigen würden.
Es sollen Teams in den Gesundheitsämtern gebildet werden, die sich um neu infizierte Menschen kümmern. Haben Sie genug Personal dafür?
Durch eine gute Zusammenarbeit mit der Universität Köln haben 237 Medizinstudierende im Gesundheitsamt ihre Arbeit aufgenommen. Zum anderen unterstützen uns 88 Ärzte aus Köln. Wir hatten einen entsprechenden Aufruf über die Ärztekammer gestartet. Die ärztlichen Kollegen helfen uns im Patientenkontakt, die richtigen Antworten zu geben. Dazu kommen 30 Kollegen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, die uns kostenlos helfen. Damit erreichen wir alle Kontaktpersonen, insgesamt 13.546 Menschen. Eine ziemliche Masse an Menschen, die jeden Tag angerufen werden müssen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat im Bundestag den 375 deutschen Gesundheitsämtern im Kampf gegen die Corona-Epidemie Hilfe zugesichert. 50 Millionen Euro sollen bereitgestellt werden. Was benötigen Sie denn dringend?
Das Personal, das wir befristet eingestellt haben, müssten wir weiter beschäftigen können. Was als erste Hilfe der Bundesregierung auf den Weg gebracht wurde, müsste man jetzt verstetigen. Durch Sparmaßnahmen wurden in den letzten zehn Jahren ein Drittel der Ärzte bundesweit eingespart. Das spürt man jetzt.
Neuinfektionen sollen von der Stadt verfolgt und auch eingegrenzt werden. Noch gibt es keine entsprechende App. Wie machen Sie das derzeit?
Die Labore melden uns die positiv gemeldeten Patienten und wir melden uns bei denen, setzen sie in häusliche Quarantäne und bitten sie gleichzeitig, uns ihre Kontaktpersonen zu nennen. Das ist das konservative Kontakttracing, das über Telefon stattfindet. Alle Kontaktpersonen werden von uns angerufen und begleitet. Wir haben ein 24-Stunden-Telefon, falls man plötzlich Beschwerden hat. Das ist ja das Fatale an der Erkrankung, dass man zunächst gar nicht merkt, dass es einem schlecht geht.
Die Zahl der Neuinfektionen lag am Mittwoch bei 14. Können Sie etwas über die Menschen sagen, die sich derzeit neu anstecken. Handelt es sich vermehrt um medizinisches Personal oder Menschen, die in Altenheimen leben?
Das durchschnittliche Alter beträgt 80 plus. Es gibt ein paar Ausreißer nach unten, beispielsweise Menschen in Heimen für Geflüchtete. Aber im Großen und Ganzen sind die Betroffenen 80 Jahre und älter und haben eine Grunderkrankung.