Laut Gericht gefährdet der Lärm am Brüsseler Platz die Gesundheit. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat vor Ort mit den Menschen gesprochen.
„Viele sind schon weggezogen“Ein Abend am umstrittenen Brüsseler Platz in Köln
Als Dieter und Ruth Reichenbach im Jahr 1978 in ihre Eigentumswohnung am Brüsseler Platz gezogen sind, hatten ihre Freunde damals kein Verständnis dafür, wie das Ehepaar in diese „Oase der Ruhe“, ziehen konnte – so hatte Ruth Reichenbach den Brüsseler Platz damals laut eigener Aussage noch genannt. Aber: „Viele ehemalige Nachbarn sind wegen der Lautstärke schon weggezogen“, erklärt Ruth Reichenbach, als der „Kölner Stadt-Anzeiger“ das Ehepaar am Freitagabend besucht.
Seit 1978 hat sich einiges getan: Der Brüsseler Platz zieht seit Jahren vor allem an wärmeren Abenden teils hunderte Menschen an, die sich an der Kirche St. Michael treffen. Für sich genommen sind die einzelnen Gruppen nicht zu laut, doch insgesamt überschreiten sie die Grenzwerte der Nachtruhe. Dagegen wehrten sich einige Anwohner vor Gericht und verklagten die Stadt, auch das Ehepaar Reichenbach zählte zu den Klägern.
Richterin kritisiert Stadt Köln
Erlaubt sind nachts 45 Dezibel, im Schnitt waren es gegen Mitternacht vor dem Fenster des Ehepaars Reichenbach in der fünften Etage beispielsweise knapp 70 Dezibel, in Spitzen sogar 85 Dezibel. Auch vor dem Oberverwaltungsgericht Münster waren diese Werte Thema, Richterin Annette Kleinschnittger sagte: „Das ist weit entfernt davon, was irgendwelche Regelwerke erlauben.“
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Sie urteilte 2022, dass die Stadt mehr tun müsse, doch dagegen wehrt sich die Verwaltung vor dem Bundesverwaltungsgericht, noch steht ein rechtskräftiges Urteil aus.
Auch am Freitagabend finden sich am Brüsseler Platz verschiedenste Gruppen aus Feierlustigen, Gastronomiebesuchern und Freundeskreisen zusammen, um ihren Abend vor der Kirche zu beginnen, zu verbringen oder ausklingen zu lassen. Angeregte Gespräche und laute Musik prägen das Ambiente, auch die Außengastronomie ist gut besucht.
Die 22-jährige Lena und die 20-jährige Rieke gehörten zu ebendiesen Gastronomiebesuchern. Die beiden studieren in Köln. „Wir sind oft hier, eigentlich jede Woche“, sagt Lena – und das trotz einer Anfahrtszeit von knapp über einer halben Stunde. Rieke sagt: „Für die Stimmung am Brüssi lohnt sich der Weg. Hier ist immer sehr viel los.“
Das war nicht immer so, sagt Dieter Reichenbach: „Mit dem Weltjugendtag 2005 hat der Brüsseler Platz begonnen, sich zu verändern.“ Die Besucher versammelten sich damals auch am Brüsseler Platz.
Und in den folgenden Jahren ließen sich zunehmend Gastronomen am Brüsseler Platz nieder, ihre Sperrstunde wurde von 22 Uhr zunächst auf 24 Uhr verschoben, bevor sie letztendlich auf 23.30 Uhr festgesetzt wurde. „Jeden Abend sind hier Hunderte Menschen“, berichtet Dieter Reichenbach. „Und die Lautstärke beträgt fast immer über 62 Dezibel.“ Laut OVG Münster gelten Lautstärken in dieser Höhe als erwiesen gesundheitsgefährdend.
Mehr Unterstützung gewünscht
Das Ehepaar wünschte sich auch in Anbetracht der gerichtlichen Bestätigung ihres Problems mehr Unterstützung von der Stadt Köln, vor allem dabei, die Sperrstunden auch wirklich durchzusetzen. Hilfe sei von der Stadt allerdings seit Jahren nicht ausreichend gekommen, sagen sie.
Auf dem Platz selbst erzählt am Freitag auch Jerome (26) von seinen Beobachtungen, die sich mit denen des Ehepaars Reichenbach decken: „Ich liefere für verschiedene Restaurants Essen aus, auch vom Brüsseler Platz aus. Da wird es immer später. Teilweise werde ich auch noch nach Mitternacht gerufen, um etwas auszuliefern.“
Treffpunkt der Kulturen
Auf der anderen Seite machen genau diese verschiedenen Restaurants für viele Besucher des Brüsseler Platzes dessen Charme aus. Mara, die mit ihren Freunden am Freitag vor Ort ist, betont: „Ich finde es schön, dass hier so viele Kulturen aufeinandertreffen. Die Auswahl an Bars und Restaurants ist riesig. Das macht sich auch bei den Leuten bemerkbar.“ Sie treffe am Brüsseler Platz regelmäßig Menschen aus England, Spanien und weiteren Ländern. Dennoch blickt sie auch kritisch auf den Platz: „Auf dem Spielplatz oder in den Gebüschen liegen immer Spritzen. Das ist natürlich katastrophal.“
Und nicht nur Spritzen für den Drogengebrauch seien Standard in den Gebüschen am Brüsseler Platz. „Nach einem einzigen Wochenende hat der Querbeet-Verein, der sich ehrenamtlich um die Beete hier kümmert, mal 72 große Müllsäcke mit Unrat aus den Beeten entfernt“, erzählt Ruth Reichenbach und ihr Mann ergänzt: „Und außerdem benutzen Betrunkene sie regelmäßig als Toilette.“
Reichenbach beschwert sich über Lautstärke
Besonders problematisch sind laut Dieter Reichenbach Lärmbelästigung und Vandalismus an Veranstaltungstagen wie der „Tour Belgique“ im Mai dieses Jahres. „Wir haben Lautstärken von über 90 Dezibel gemessen. Der ganze Platz war mit 2000 Leuten dicht, die Straßen ebenso. Kein Mensch, kein Krankenwagen und schon gar keine Mutter mit Kinderwagen hätte da durch gekonnt. Es ist ein Wunder, dass sich an dem Tag kein größerer Unfall ereignet hat“, erinnert sich Dieter Reichenbach. Ähnlich sehe es an Karneval aus.
Wenn das Ehepaar in Ermanglung an städtischen Unterstützern selbst mit Lärmverursachern spreche, wird es laut eigener Aussage hart beleidigt. „Einmal wurde ich auch körperlich von einem Gastronomen angegangen“, erzählt Dieter Reichenbach. Das Ehepaar wertet den Freitagabend als einen verhältnismäßig ruhigen Abend mit entspannter Atmosphäre.
So nehmen auch der 31-jährige Tim und der 35-jährige Lukas das Ambiente wahr. Sie besuchen am Freitag den Brüsseler Platz zum ersten Mal und meinen: „Die Atmosphäre ist ausgesprochen gesellig und nett.“ Bis die Stimmung dort jedoch dauerhaft so versöhnlich ist, bleibt der Brüsseler Platz wohl zunächst auch weiter ein Ort zwischen multikulturellem Austausch und Beisammensein einerseits und Problemen für einige Anwohnerinnen und Anwohner andererseits.
Chronik Brüsseler Platz:
2005: Der katholische Weltjugendtag findet statt, manche Anwohner sehen diese Veranstaltung als Beginn für das abendliche Treffen am Brüsseler Platz. Andere berichten, dass es auch schon vorher losging.
2008: Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt: „Anwohner des Brüsseler Platzes klagen über Lärm und Dreck.“ Die Stadt erwägt ein Alkohol- und Flaschenverbot. Die Bezirksvertretung Innenstadt beschließt ein Moderationsverfahren.
2013: Anwohner und Stadt einigen sich auf einen sogenannten „modus vivendi“. Unter anderem soll das Ordnungsamt die Menschen ab 22 Uhr zum Verlassen überreden.
2015: Anwohner verklagen die Stadt Köln vor dem Verwaltungsgericht Köln, sie wollen ihre Nachtruhe.
2018: Das Verwaltungsgericht Köln verpflichtet die Stadt, die Gesundheit ihrer Bürger zwischen 22 und 6 Uhr zu schützen. Der Richter nennt unter anderem ein Verweilverbot für den Brüsseler Platz als Option. Der damalige Stadtdirektor Stephan Keller bezeichnet das als massiven Eingriff in die Grundrechte der Menschen. In der Corona-Pandemie allerdings spricht die Stadt eben jenes Verweilverbot auf dem Brüsseler Platz aus.
2018: Vor dem Oberverwaltungsgericht Münster (OVG) legt die Stadt Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts ein.
2019: Die Anwohner stellen einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Das Ziel: Sie wollen nach vier Jahren eine schnellere Entscheidung. Wenige Monate später im selben Jahr verhängt die Stadt die ersten sechs Maßnahmen, sie gelten bis zum Urteil.
2023: Das OVG urteilt, die Stadt müsse mehr tun. Die Richterin spricht ein Alkoholverbot oder ein Verweilverbot an. Und sie regte sogar einen Zaun um die Kirche St. Michael an, die im Zentrum des Platzes steht. Die Stadt geht vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig und wehrt sich gegen die Nichtzulassung der Revision. (mhe)