Der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke wirft dem Kölner Kardinal Rainer Woelki im Prozess um Schmerzensgeld für ein Missbrauchsopfer Sabotage vor.
Schmerzensgeldprozess in Köln„Unverfroren, dass Woelki eine solche Trickserei vortragen lässt“
Melanie F., Pflegetochter und Missbrauchsopfer des 2022 zu zwölf Jahren Haft verurteilten ehemaligen Priesters Hans Ue., klagt auf Schmerzensgeld gegen das Erzbistum Köln. Sie sieht die Kirche in Amtshaftung für die Verbrechen des Geistlichen. Das Erzbistum argumentiert, die Taten seien in der Wohnung des Priesters ohne einen ersichtlichen „Zusammenhang mit (kirchlichen) Dienstpflichten“ begangen worden. Dazu hat Klägerinnen-Anwalt Eberhard Luetjohann den emeritierten Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten. Die für den 4. Juni angesetzte Verhandlung vor dem Landgericht Köln ist wegen Urlaubs der Bistumsvertreterin auf den 2. Juli verschoben worden.
Herr Professor Lüdecke, kann man Kardinal Rainer Woelki oder seine Vorgänger allen Ernstes in Haftung nehmen wollen für alles, was ein Geistlicher tut oder lässt? Oder gar eine Rundumkontrolle erwarten?
Wenn Sie so anfangen, führt das direkt auf eine völlig falsche Spur. Der australische Kardinal George Pell hat zur kirchlichen Haftung für Missbrauchstaten von Priestern mal etwas Ähnliches vorgetragen: Wenn ein Fernfahrer eine Anhalterin mitnehme und sie vergewaltige, hafte dafür auch nicht der Spediteur. Das klingt auf Anhieb plausibel, ist aber ein perfides Scheinargument.
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Warum?
Weil ein x-beliebiger Arbeitgeber natürlich nicht verpflichtet ist, das Privatleben seiner Belegschaft zu kontrollieren oder dafür gerade zu stehen. Ein Priester ist aber kein Angestellter mit Bürozeiten von neun bis fünf. Vielmehr gehört er von der Weihe an einem eigenen Stand an, dem Klerus. Als Kleriker und vorgängig zu irgendeinem konkreten Kirchenamt übernimmt der Priester unwiderruflich, unteilbar und ununterbrochen bestimmte Standespflichten, die ihn umfänglich binden, rund um die Uhr, ausnahmslos.
Aber auch Priester haben ihren freien Tag. Sie nehmen Urlaub. Sie kaufen ein, besuchen Freunde, gehen ins Fitness-Studio, ins Theater oder ins Kino. Das sind doch keine Dienstzeiten.
Doch, das sind sie sehr wohl. Ein Pfarrer hat Urlaub, aber als Priester bleibt er im Dienst. Und diesen Dienst übt er selbstverständlich auch aus, wenn er in der Eisdiele sitzt oder im Freibad Bahnen schwimmt. Auch diese scheinbar privaten Tätigkeiten verrichtet er ja als Kleriker. Das ist gerade der Clou des katholischen Verständnisses von der Berufung in den Klerikerstand: Priester zu sein ist eine Lebensform, ist permanenter Dienst, völlige Verfügbarkeit. So werden die Priester erzogen, darauf werden sie in ihrer Ausbildung jahrelang geeicht. Und auch sie selbst beschreiben ihre „Berufung“ gerne so. Der kirchenamtliche Signalbegriff dafür lautet „Ganzhingabe“. Eben deshalb ist auch der Zölibat als Standespflicht nicht nur der Verzicht auf gelebte Sexualität, sondern eben auch auf Ehe und Familie. Zudem soll der Priester durch die verpflichtende Standeskleidung in der Öffentlichkeit jederzeit erkennbar sein.
Selbst wenn die Kirche das so sieht. Warum sollte sich ein staatliches Gericht dieser Amtsvorstellung anschließen?
Es kann gar nicht anders. Die Kirche hat – vom Grundgesetz verbrieft – das Recht zur selbstbestimmten Regelung ihrer internen Angelegenheiten. Dazu gehört ganz gewiss die Ausgestaltung ihrer Ämter. Der Staat darf da nicht hineinreden, er kann aber auch nicht davon absehen. Im Zweifel muss sich ein Gericht erkundigen, welche Auffassung vom sogenannten geistlichen Amt oder dem „Amtspriestertum“ die Kirche selbst hat. Wenn für sie die totale Verfügbarkeit den Priester ausmacht, dann hat das Gericht genau dies zum Maßstab zu nehmen.
Aber die Anwälte des Erzbistums selbst argumentieren im Fall des Serientäters Ue., der Priester habe die Missbrauchstaten in seiner Freizeit begangen
Es ist geradezu unverfroren, dass Kardinal Woelki eine solche Trickserei in seinem Namen vortragen lässt. Mag sein, dass seinen Anwälten die theologische und kirchenrechtliche Expertise fehlt. Aber wenn der Erzbischof ihnen so etwas durchgehen lässt, ist das faktisch eine Irreführung des Gerichts. Damit wird vor den Schranken der weltlichen Justiz die Flucht der Kirche vor ihrer Verantwortung im Missbrauchsskandal fortgesetzt.
Jetzt holen Sie aber mit der ganz großen Keule aus.
Überhaupt nicht. Es ist die Kirche, die ein strahlend-hehres Idealbild vom Priesteramt vorstellt, das die Kleriker zugleich mit einer Aura moralischer Integrität versehen hat. Es ist die Kirche in Person des Bischofs, die ihre Priester „von Amts wegen“ in eine Autoritätsposition gegenüber Kindern und Jugendlichen bringt. Ein Sexualtäter wie der frühere Priester Ue. konnte das ausnutzen. Aber dann geht die Kirche – hier namentlich Kardinal Woelki – her und zieht diese Pilatus-Nummer ab, indem er die Amtshaftung der Kirche bestreiten lässt mit dem Argument: „War doch alles Freizeit!“ Eine Freizeit, von der das kirchliche Lehramt sagt, dass es sie gar nicht gibt.
Der damalige Priester Ue. hatte auch das Sorgerecht für Melanie F. und einen zwei Jahre älteren Jungen bekommen. Das Erzbistum argumentiert, das war Sache des Jugendamts.
Unsinn! Als das Jugendamt dem Priester Ue. das Sorgerecht zusprach, hatte es sich am Kindeswohl zu orientieren. Nun muss man aber sehen: Das Ganze spielte Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre. Die staatliche Behörde wird damals einem „Mann der Kirche“ mit eben jenem Vertrauensvorschuss begegnet sein, den die Kirche für ihre Priester beansprucht hat. Heute wissen wir: zu Unrecht. Aber schon damals war es nicht Aufgabe des Jugendamts, zu gewährleisten, dass die Übernahme der Pflegschaft von kirchlicher Seite ausreichend gestützt und abgesichert ist. Diese Pflicht lag beim damaligen Erzbischof, Kardinal Joseph Höffner. Er hätte schauen müssen, ob die Übernahme des Sorgerechts für ein zwölfjähriges Mädchen überhaupt mit den priesterlichen Standespflichten vereinbar ist.
Und Sie würden sagen: nein?
Es liegt auf der Hand, dass das elternähnliche Zusammenleben eines Priesters mit einer Zwölfjährigen und einem weiteren minderjährigen Kind in Spannung, wenn nicht im Widerspruch zur Zölibatspflicht steht. Deshalb hat der Vatikan 2004 eigens klargestellt, dass Klerikern die Adoption von Kindern verboten ist. Dass Höffner seinerzeit die Übernahme des Sorgerechts überhaupt erlaubt hat, ist schon völlig unverständlich. Und dann sorgt er nicht einmal ansatzweise für eine angemessene Begleitung und Beaufsichtigung – das ist höchst fahrlässig.
Ende 1988 erschien im „Kölner Stadt-Anzeiger“ ein langer Artikel über Hans Ue. und die „Kinder des Kaplans“ – voll der Anerkennung und des Lobes.
Dass so etwas mit offenkundig allseitiger Billigung in der Zeitung stehen konnte, zeigt doch: Alle – die Gemeinde, die Öffentlichkeit, auch die Autorin - gingen selbstverständlich vom kirchlichen Segen für diese sehr spezielle Familienform aus. Andernfalls wäre der Artikel über „die Kinder des Kaplans“ ein Skandal-Report gewesen.
Kann man eigentlich sagen, wie es der Anwalt von Melanie F. tut, die Pflegekinder seien weniger dem Pflegevater als der Institution Kirche in Obhut gegeben worden?
Absolut. Alle Eltern, die ihre Kinder einem Priester anvertrauen, vertrauen sie der Kirche an – als der Institution, deren Repräsentanten tagtäglich Moral predigen und deshalb vielen auch als moralische Instanz gelten. Der privilegierte Zugang von Priestern zu Kindern und Jugendlichen ist somit Ergebnis einer – vermuteten – institutionellen Integrität. Die Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit, die ein Priester ausstrahlt, beruhen auf der Autorität der Institution. Schon deshalb wäre die Kirche verpflichtet, ganz genau darauf zu achten, dass ihre Strukturen nicht Anlass zu Autoritätsmissbrauch geben.
Aber das steht vor dem Kölner Landgericht nicht zur Debatte.
In der Konsequenz schon. Verantwortung ist die Grundlage jeder Aufarbeitung. Was Kardinal Woelki zurzeit betreibt, ist Aufarbeitungssabotage erster Güte. Und die übrigen deutschen Bischöfe können sich ihre ganze Rhetorik dazu sparen, wenn sie ihren Kölner Mitbruder auf dieser Schiene weiterfahren lassen. Aber bislang schweigen sie dazu beredt.
Inwiefern beredt?
Na ja, ich befürchte: Die übrigen deutschen Bischöfe lassen den „bösen Woelki“ das jetzt vor Gericht durchziehen. Und wenn er damit durchkommt, also kein Schmerzensgeld zahlen muss, dann war’s das für alle. Dann werden sich sämtliche Bischöfe auf Köln berufen und weiteren Betroffenen ebenfalls Entschädigungen verweigern.
Ob das auch mit der geforderten Höhe zu tun hat? Melanie F. klagt auf insgesamt 850.000 Euro.
Selbstverständlich. Die Bischöfe möchten gerne ungeschuldet „nett“ sein. Ihre Zahlungen „in Anerkennung des Leids“, die sie Betroffenen über eine eigene Kommission zukommen lassen, sind Nettigkeiten, gezahlt auf freiwilliger Basis. Sobald aber jemand mit Ansprüchen kommt, hohen Ansprüchen gar, dann werden die guten Hirten ganz schnell unfreundlich.
Norbert Lüdecke, geb. 1959, war von 1998 bis 2022 Professor für Kirchenrecht an der Universität Bonn.