Jahrestag Einsturz StadtarchivJosefine Borcilo, die wunde Seele vom Waidmarkt
Köln – Kurz nach dem Einsturz des Stadtarchivs saß Josefine Borcilo mit den anderen Evakuierten im Hotel Mercure an der Severinstraße und sagte in die Diktiergeräte und Mikrofone: „Ich will positiv in die Zukunft schauen.“ Sie sprach offenbar gern mit Journalisten. Ihre sorgfältig aufgetragene Schminke, die blondierten und toupierten Haare, die Kleider, der Nerzmantel, Borcilos ganze Erscheinung erzählte die Geschichte, die sie auch jedem erzählte, der es wissen wollte: Ich trage mein Schicksal mit Würde. Oder, wie sie es formulierte: „Ich habe das Drama überlebt. In Wirklichkeit bin ich ein Glückskind. Ich bin glücklich, am Karl-Berbuer-Platz so schnell eine neue Wohnung vermittelt bekommen zu haben. Mein Wunsch, im Severinsviertel zu bleiben, hat sich erfüllt. Ich gucke nach vorn. Was hab’ ich davon, jetzt zu trauern?“
Keine zwei Wochen später war Josefine Borcilo tot. In ihre neue Wohnung am Karl-Berbuer-Platz, 54 Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche, Balkon, zog sie nicht mehr ein. Sie starb im Hotelbett, an einer Überdosis Schlaftabletten. Aus einem Abschiedsbrief ging nicht klar hervor, warum sie den Freitod gewählt hatte; allerdings beschrieb sie darin, was sie nicht gern gesagt hatte: dass ihr alles zu viel war, sie mit der Katastrophe überfordert war.
Ein Knall und sie verfiel in eine Schockstarre
Nur einmal, drei Tage nach dem Einsturz, stand sie mit einem Journalisten vor ihrem Haus und weinte. Sie besitze nur noch ihre Kleider, die sie anhabe, und ihr Portemonnaie, sagte sie da. Sie habe an ein Erdbeben gedacht, als sie das Grollen hörte, und sei schockstarr in der Wohnung geblieben. Als alle anderen Bewohner schon auf der Straße waren, habe die Polizei sie herausgeholt. Sämtliche Erinnerungen – Fotos, Schmuck, Bücher, Briefe, Devotionalien – waren in der Wohnung geblieben.
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Am Tag des Einsturzes war sie um 13.50 Uhr vom Einkaufen nach Hause gekommen. Sie wollte gerade lüften, da hörte sie einen Knall. Die Wände wackelten, sie dachte an ein Erdbeben. Dann guckte sie aus dem Fenster und sah eine riesige weiße Wolke, wie eine Lawine. Der zweite Donner kam von der Tür, ein Mann in Uniform packte sie am Arm und rief „Raus! Raus! Raus!“
Dem „Express“ sagte Josefine Borcilo einige Tage vor ihrem Tod: „Natürlich bleibe ich Optimistin. Obwohl es natürlich sein kann, dass ich in ein, zwei Wochen in ein Depressionsloch falle.“
Josefine Borcilo sprach lieber über die Vergangenheit als über die Zukunft. Sie war 84. Ihr Leben war vor allem das, was war. Bis zur Rente arbeitete sie als leitende Kassenprüferin in der Galeria Kaufhof. Für den Job war sie aus Aachen nach Köln gezogen. Sie sei sehr akkurat gewesen, in ihrer Wohnung habe sich nie ein Staubkorn befunden, so eine Nachbarin. „Es war sehr wichtig für sie, dass Ordnung herrschte. Ohne äußere Ordnung keine innere Ordnung, so hat sie es mir einmal gesagt.“
Die vergessene Frau vom Waidmarkt
Am Kiosk kaufte Frau Borcilo jeden Tag zur gleichen Zeit Presseerzeugnisse. In kurzen Intervallen ging sie zum Friseur. „Sie hatte für alles ihre Zeiten und Abläufe“, sagt die Nachbarin. „Sie wirkte sehr selbstbewusst und organisiert“, sagt eine Verkäuferin.
„Sie ließ sich von niemanden etwas vormachen. So, ohne ihre Erinnerungen, ohne die gewohnte Umgebung, ohne ihren kleinen Balkon, auf dem sie saß und Kaffee trank, wollte sie nicht mehr leben.“ Am Jahrestag des Einsturzes stellt die Kioskbesitzerin immer drei Kerzen auf, an Totensonntag steckt sie drei Rosen an den Baustellenzaun zur Einsturzstelle. „Sie ist ja von fast allen einfach vergessen worden“, sagt sie. „Das habe ich nie verstanden.“
Einige Zeitungen schrieben nach Borcilos Tod über eine 84-jährige Frau, die 24 Jahre am Waidmarkt direkt neben der Einsturzstelle gelebt und Suizid begangen hatte. Die meisten, auch der „Kölner Stadt-Anzeiger“, hielten sich zurück. Über Selbstmord zu schreiben, ist heikel – Opferhilfevereine warnen davor, weil sich immer wieder Nachahmer finden. Was tun, wenn nicht genau zu ergründen ist, warum sich ein Mensch das Leben genommen hat? Lieber schweigen?
Im Fall von Josefine Borcilo führte das Schweigen zum Beispiel dazu, dass auf der Straße getuschelt wurde. Die Frau, die ihren Namen einem lange vor ihr verstorbenen italienischen Ehemann verdankt, hatte rund um den Waidmarkt nicht nur Freunde. Vielen galt sie als exaltiert, mindestens schräg. Es war eine Frau, über die man sprach, weil sie sich extravagant kleidete und auch so auftrat. „Sie war ein kölscher Krat wie er im Buche steht“, sagt Hermann-Josef Reuther, Pfarrer von St. Georg, der direkt nach dem Einsturz mit Anwohnern sprach, obwohl er selbst unter Schock stand.
„Wenn sie sprach, inszenierte sie sich. Das war einigen unsympathisch. Dass unter der Oberfläche eine derart wunde Seele lag, haben wohl nur wenige geahnt.“ Reuther bedauert, dass an Josefine Borcilo nie öffentlich erinnert wurde. „Die Stadt hätte sie in ihre Gedenkveranstaltungen einbinden können“, sagt er.
Pfarrer gedenkt drei Opfern des Einsturzes
Und was sagt die Stadtverwaltung zum Schicksal von Josefine Borcilo? Sie hält ihr Statement allgemein – auch angesichts der Tatsache, dass die Ursache für den Freitod letztlich unklar bleibt. „Wir gedenken der beiden Toten – aber wir erinnern uns auch an die Menschen, für die der Einsturz persönlich großes Leid bedeutete, ihnen den Lebensmut nahm oder ihre Lebensverhältnisse nachhaltig veränderte. Allen Betroffenen galt und gilt unser Mitgefühl und unsere Unterstützung“, sagt Stadtsprecherin Inge Schürmann.
In Reuthers Kirche jedenfalls wird am Gedenktag jedes Jahr namentlich auch Josefine Borcilo gedacht – neben Kevin Koster, dem 17-jährigen Bäckerlehrling, und Designstudent Khali el Gaouti (24), beide Bewohner des Eckhauses in der Severinstraße 230, die im Schlaf vom Einsturz des Archivs überrascht wurden und starben. „Für mich hat es immer drei Todesopfer gegeben“, sagt Reuther.
Das Gedenken ist für ihn gleichzeitig „ein Zeichen des Protests gegen das jahrelange Verzögern der Aufklärung dieses Verbrechens“. Zur Aufklärung hätte für Reuther auch gehört, von den namenlos gebliebenen Traumatisierten zu berichten – und von Borcilo. An Gedenktagen wird der Pfarrer bis heute immer wieder nach ihr gefragt: „Es gab doch nur zwei Opfer. Wer war das denn?“
Alles Wichtige zum Einsturz des Kölner Stadtarchivs finden Sie hier.
Veranstaltungen zum Jahrestag des Archiveinsturzes
Acht Jahre nach dem Einsturz des Stadtarchivs, bei dem zwei Menschen ihr Leben verloren, organisiert die Initiative „Archiv-Komplex“ einen Gedenktag an der Unglücksstelle.
Die Veranstaltung beginnt heute um 13.15 Uhr vor dem Haus am Waidmarkt 2. Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat ihre Teilnahme ebenso angekündigt wie der neue Stadtdirektor Stephan Keller, der über den aktuellen Stand der Ermittlungen berichten wird.
Für die beiden jungen Männer, die während des Einsturzes starben, werden zwei Schweigeminuten abgehalten. Anschließend werden ein Chor und der Rapper Beck (Björn Beckers) unter Leitung des Regisseurs Andreas Herzau das Musikstück „Kölner Klagegesang“ aufführen, dessen Text der Autor und Fotograf Reinhard Matz geschrieben hat.
Den Abschluss bildet ein Gespräch mit dem Künstler Mischa Kuball über sein Kunstwerk „Einsturzstelle“, das am 3. März 2016 an der Einsturzstelle am Waidmarkt enthüllt wurde. Der Stadtrat hatte es in seiner Sitzung vom 14. Februar dieses Jahres als Geschenk von der Initiative „Archiv-Komplex“ angenommen.
„Einsturzstelle“ wurde einem touristischen Hinweisschild nachempfunden und soll als Mahnung dienen, mit dem Ort des Einsturzes sorgsam umzugehen und ihn dauerhaft der Erinnerung an das Desaster zu widmen.
Gedenkgottesdienste finden statt in St. Georg am Samstag, 4. März, 17 Uhr, und Sonntag, 5. März, 10.30 Uhr. (att, uk)