Nach der Vorstellung des lang erwarteten Missbrauchsgutachtens in Köln hat Kardinal Woelki doppelt Wort gehalten.
Die Aussage seines Vorgängers Joachim Meisner, der sagte, von Missbrauch „nichts geahnt“ zu haben, wird durch das Gutachten als Lüge entlarvt.
Doch bei der Aufarbeitung muss es um sehr viel mehr gehen als um eine Prüfung der Verantwortlichkeiten „nach Recht und Gesetz“.
Ein Kommentar.
Köln – Die Aktenlage. Damit kommen Juristen immer gut klar. Da bewegen sie sich auf ihrem Terrain. Zum Missbrauchsskandal im Erzbistum Köln hat der von Kardinal Rainer Woelki beauftragte Gutachter Björn Gercke auf der Basis schriftlicher Unterlagen über die Jahrzehnte hinweg eine ganze Reihe von Pflichtverletzungen führender Bistumsfunktionäre festgestellt. Das hat Woelki, der persönlich von den Gutachtern ausdrücklich entlastet wurde (nach Aktenlage), ausgereicht, um seinen Weihbischof Dominikus Schwaderlapp (Generalvikar unter Kardinal Joachim Meisner) und den obersten Kirchenrichter des Erzbistums von ihren Aufgaben zu entbinden.
Damit hat Woelki doppelt Wort gehalten: Er hat versprochen, Namen von Verantwortlichen zu nennen und Konsequenzen zu ziehen. Woelki ist am Donnerstag, dem von ihm „lang ersehnten“ und zugleich „gefürchteten“ Tag der Wahrheit, noch einen Schritt weitergegangen. Er hat Distanz zwischen sich und seinen Vorgänger gebracht. Meisners infame Unschuldspose aus dem Jahr 2015 mit der Behauptung, er habe von Missbrauch „nichts geahnt“, ist spätestens mit dem 18. März als Lüge entlarvt. Und Woelki hat das ausgesprochen.
Wenn es ihm ernst ist mit der Aufklärung, darf es allerdings nicht bei einer Distanzierung von der Person Meisner bleiben. Woelki muss mit dem „System Meisner“ brechen, das geprägt ist von einem irrational überhöhten Priesterbild, unkontrollierter Machtausübung eines hierarchisch-klerikalen Herrschaftssystem, dem Beharren auf einer verqueren Sexualmoral und der Diskriminierung von Frauen in der katholischen Kirche. Ob Woelki dazu bereit ist, ist mehr als fraglich. Auf dem „Synodalen Weg“, dem Reformprozess der deutschen Kirche, ist er bislang als einer der größten Bremser und schärfsten Kritiker aufgetreten. Dabei geht dem Synodalen Weg um eben jenen grundsätzlichen Wandel in der Kirche.
Wer sagt, das alles habe doch nichts mit Missbrauch zu tun, der hat das System Kirche und die Strukturen nicht verstanden, die Missbrauch ermöglichen, begünstigen und Aufklärung verhindern. Gutachter Björn Gercke hat zu alledem fast nichts gesagt. Er hat sich – ziemlich perfekt – auf die Schuster-bleib-bei-deinen-Leisten-Rolle zurückgezogen und immer wieder die Beschränktheit der juristischen Perspektive (Aktenlage!) hervorgehoben. Sich zu den systemischen Ursachen für Missbrauch zu äußern, so Gercke, hätte in etwa die Qualität persönlicher Anmutungen über Kieferchirurgie.
Die erfrischend schnoddrige Bemerkung des Kölner Juristen zeigt die Limits des Gutachten-Projekts. Dass nach Sichtung von 236 Akten auf nicht einmal zehn Prozent die rote Markierung für „nachgewiesene Pflichtverletzungen“ klebt; dass sich die Zahl der Verfehlungen im Bereich der Opferfürsorge auf gerade einmal ein Dutzend beläuft, wovon die Hauptlast auch noch bei dem vor mehr als drei Jahrzehnten gestorbenen Kardinal Joseph Höffner und seinem ebenfalls toten Nachfolger Meisner liegt; und dass Gercke gleichwohl von einem System der Verantwortungslosigkeit und der Vertuschung spricht – all das zeigt: Es muss bei der Aufarbeitung um sehr viel mehr gehen als um eine Prüfung der Verantwortlichkeiten „nach Recht und Gesetz“. Wer sich rechtmäßig verhalten hat, muss eben längst noch nicht alles richtig gemacht haben.
Es bleibt jetzt vor allem die Frage der moralischen Verantwortung und des „kirchlichen Selbstverständnisses“, also eines Denkens, Redens und Handelns nach Maßgabe der christlichen Botschaft. Bei der Vorstellung des Gutachtens war von diesem Selbstverständnis zwar die Rede, ohne dass es dann in das Urteil über die Handelnden eingeflossen wäre. Selbst mit einem Begriff wie „Opferfürsorge“ tun sich die Gutachter schwer, weil dieser weder im deutschen Strafrecht noch im Kirchenrecht vorkomme. „Dem kirchlichen Strafprozess ist eine Beschäftigung mit dem Opfer grundsätzlich fremd", konstatieren die Gutachter mit fast entwaffnendem Gleichmut. „Opferfürsorge konnte lange (lediglich) als ein Gebot der Moral verstanden werden…“ Dass das so ist und in einem Gutachten über schwerste Verbrechen, denen Kinder zum Opfer fielen, wie nebenbei festgehalten wird, spricht für sich.
Der von Woelki beurlaubte Weihbischof Dominikus Schwaderlapp deutet immerhin ein Verständnis für die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels an und einer Erweiterung des Blicks von den Akten auf die Bibel und – vor allem – auf die Menschen. Unter dem Eindruck des Gutachtens und seiner Befunde bekundet Schwaderlapp Scham, sich nicht oder zu wenig um die Belange der Opfer gekümmert zu haben. Sein Rücktrittsangebot an den Papst ist daher konsequent. Weitere Verantwortungsträger sollten es ihm nachtun.
„Taten wiegen schwerer als Worte“
Und Woelki? Im Fall des mit ihm befreundeten Pfarrers O. ist er sich nach eigenen Worten keines Fehlverhaltens bewusst. Dass er den mutmaßlichen Täter schonte, ihm jeden Makel auf seiner priesterlichen Biografie ersparte und die Untersuchung der Vorwürfe unterließ, die auch zu einer Genugtuung dem Opfer gegenüber beigetragen – all das bleibt im Raum stehen, auch wenn Gercke den Vorwurf von Verstößen gegen kirchliche Rechtsnormen für ausgeräumt hält.
Ins Positive gewendet, muss Woelki jetzt beherzigen, was er am Donnerstag in einer ersten Reaktion auf das Gutachten bekundet hat: „Taten wiegen schwerer als Worte.“ Das gilt nicht nur für Beurlaubungen von Bistumsfunktionären.