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Missbrauchsprozess in KölnWeitere Zeuginnen melden sich – Priester in Bedrängnis

Lesezeit 7 Minuten
Priester Köln Ue

Der angeklagte katholische Priester Hans Ue. (M.) beim Prozess in Köln

Köln – Kurz vor der Verhandlungspause am Mittag wird Richter Christoph Kaufmann deutlich: „Es wird verdammt eng“, sagt er und wendet sich direkt an den Angeklagten Hans Ue. Der 70 Jahre alte katholische Priester steht wegen vielfachen sexuellen Missbrauchs seiner drei minderjährigen Nichten und eines weiteren Mädchens im Alter von elf Jahren vor Gericht. „Die Dinge überholen sich.“ Vielleicht, so der Richter zu Ue., habe er in der Corona-Krise ja schon einmal davon gehört, dass es darum gehe, „vor die Lage zu kommen“. Er empfehle ihm dringend, bald einen entsprechenden Versuch zu unternehmen.

Weitere Opfer melden sich beim Gericht

Was der Richter mit „vor die Lage kommen“ meint, wird gleich zu Beginn dieses Verhandlungstags deutlich, als Kaufmann von Telefonaten und Korrespondenzen aus dieser Woche berichtet. Bei ihm und der Staatsanwaltschaft hätten sich neue Zeuginnen gemeldet: Auch sie seien von Ue. missbraucht worden, und auch sie seien jetzt – unter dem Eindruck der Berichte über den Fall – bereit, vor Gericht auszusagen. Damit verdichtet sich die Mutmaßung, dass es sich bei Ue. um einen Serientäter handelt, dem über den Kreis der vier Nebenklägerinnen hinaus zahlreiche Mädchen zum Opfer gefallen sein könnten.

Immer neue Beschuldigungen

Tatsächlich hat Kaufmann als Vorsitzender Richter der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Köln schon bisher in den Zeugenaussagen wiederholt neue Beschuldigungen zu hören bekommen. Es ist, als ob er in seiner ruhigen, hoch aufmerksamen und präzisen Art die Befragten nur anzutippen bräuchte – und diese dann ihren Erfahrungen und Geschichten gleich freien Lauf ließen.

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In der vorigen Woche schilderte die Pflegetochter des Angeklagten schwersten Missbrauch bis hin zum vollzogenen Geschlechtsverkehr, der in zwei Fällen zu ungewollten Schwangerschaften führte. Der Angeklagte hatte sie als junger Kaplan mit einer Sondererlaubnis des damaligen Kölner Erzbischofs, Kardinal Joseph Höffner, Ende der 1970er Jahre zu sich genommen.

Mutter der drei Nichten sagt aus

An diesem Freitagnachmittag sagt die Mutter der drei Nichten von Ue., die von ihrem Onkel in den 1990er Jahren in Gummersbach über Jahre missbraucht worden sein sollen, als Zeugin aus. Im öffentlichen Teil der Sitzung beschreibt sie, wie ihre Töchter sich ihr Ende der 1990er Jahre offenbart hätten. Sie habe ihnen sofort geglaubt, ihren Schwager, den Bruder ihres Ex-Mannes, am folgenden Tag umstandslos „rausgeschmissen“ und den direkten Kontakt abgebrochen.

Bis dahin sei Ue. ein enger Vertrauter und eine Art Vater-Ersatz für die Kinder gewesen, nachdem Ue.s Bruder seine Frau und seine fünf Kinder neun Tage nach der Geburt des jüngsten Sohns verlassen hatte.

„Größter Fehler meines Lebens“

Auf eine Strafanzeige, so die Mutter, habe sie wegen des Drängens ihrer damals 13 Jahre alten Tochter und deren ein Jahr jüngeren Zwillingsschwestern verzichtet. Die Mädchen hätten „wahnsinnige Angst“ um ihre Großeltern gehabt, die eine solche Nachricht ihrer Meinung nach nicht verkraftet hätten.

Als den größten Fehler ihres Lebens bezeichnet es die Mutter, frühe Signale ihrer Ältesten nicht erkannt zu haben. Diese habe auf einmal an den Wochenenden nicht mehr zu ihrem Onkel gehen und dort übernachten wollen. Andererseits, so die heute 65-Jährige, habe sie auch nie etwas Verdächtiges im Verhalten ihres Ex-Schwagers wahrgenommen oder auch nur gerüchteweise von Übergriffigkeiten gehört. „Im Leben nicht, sonst hätte ich meine Kinder doch da nicht hingegeben.“

Hinweise auf Missbrauch schon in Gummersbach

Eine Zeugin, die in Ue.s Zeit als Seelsorger in Gummersbach Messdienerin und KJG-Gruppenleiterin war, berichtet hingegen sehr konkret über verschiedene Hinweise auf Missbrauch.

Ue. sei in ihrer Familie über Jahre ein und aus gegangen. Zwar seien weder sie noch ihre drei Schwestern unmittelbar von sexueller Gewalt betroffen gewesen. Aber eine Freundin ihrer Schwester sollte als Messdienerin eines Morgens ein weiteres Mädchen, das zum Dienst am Altar eingeteilt war, aus dem Pfarrhaus holen und habe es im Bett des Pfarrers vorgefunden. In einem anderen Fall habe ein Mädchen erzählt, dass Ue. mit ihrer älteren Schwester gebadet habe.

Mutter von Zeugin untersagte Kontakt zu Priester

Ihre eigene Mutter, so die Zeugin, habe sich daraufhin ein Herz gefasst, Ue. zur Rede gestellt und ihm den weiteren näheren Kontakt zu ihren Kindern untersagt. „Ich weiß noch, wie aufgeregt meine Mutter war.“ Nach diesem Gespräch sei es mit der jahrelangen Freundschaft zwischen Ue. und der Familie vorbei gewesen.

Schon vor diesen Geschehnissen im Umfeld der Gemeinde sei es ihrer Mutter merkwürdig vorgekommen, dass der Pfarrer mit den Kindern im Keller herumgetobt sei, bis diese ganz verschwitzt waren und sich halb ausgezogen hätten. Auch ständiges Umarmen der Kinder beim Hausaufgaben machen habe die Mutter als „zu viel“ empfunden. „Immer dieser Körperkontakt.“ Ue. habe das mit den Worten abgetan, er brauche das halt. „Er ist ein großer Rhetoriker“, erklärt die Zeugin. „Damit hat er meiner Mutter den Wind aus den Segeln genommen.“

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Mit tränenerstickter Stimme beschreibt die heute 36 Jahre alte Frau ihren damaligen Pfarrer als absolute Vertrauensperson, als einen „coolen“ Seelsorger, der die Gemeinde in Schwung gebracht, begeisternde Jugendarbeit gemacht und sie bleibend geprägt habe. „Es war eine wunderbare Zeit.“ Doch alles, was Ue. getan habe, stehe heute in völlig anderem Licht da. So habe er sich immer besonders um Familien gekümmert, die in irgendeiner Form hilfsbedürftig erschienen. Was sie damals bewundert habe, komme ihr heute berechnend vor. „Wenn ich die vielen Puzzleteile zusammensetze, sieht das alles so taktisch aus, so bewusst.“ Als ob Ue. speziell Familien in ihrer Schwäche ausgenutzt hätte.

Wie viel hat er für sich selbst gepredigt?

Besonders bewegt zeigt sich die Zeugin im Hinblick auf Ue.s Agieren als Seelsorger. „Er hat uns immer gesagt, dass Gott ein liebender Gott ist und alles verzeiht. Heute frage ich mich, wie viel davon hat er sich selbst gepredigt?“ Auch habe Ue. den Jugendlichen gesagt, er glaube nicht an die Existenz der Hölle. Vielmehr müsse man sich die Hölle so vorstellen, dass die Menschen nach ihrem Tod wie in einem Spiegel ihre bösen Taten vorgehalten bekämen. Dieser Gedanke, so die Zeugin, komme ihr heute wie auf den Angeklagten selbst gemünzt vor.

Sie könne nur hoffen, dass weitere Opfer den Mut fänden, sich zu offenbaren – und dass alle Angehörigen sich von der Last befreien könnten, „nichts gesehen zu haben“. Auch sie selbst, so die Zeugin, habe die Bedenken ihrer Mutter all die Jahre nicht geteilt, auch als sie von den Missbrauchsvorwürfen von Ue.s Nichten hörte, die erstmals im Jahr 2010 aufkamen.

Erzbistum Köln legte Vorwürfe schnell ad acta

Damals entschlossen sich die Nichten dann doch noch zu einer Anzeige gegen ihren Onkel, zogen diese aber bald wieder zurück. Wie es dazu kam, erklärt die Mutter mit Einwänden von verschiedener Seite. Ein Bruder der mutmaßlichen Opfer erwähnt in seiner Zeugenaussage wiederum die Sorge um die noch lebende Oma. Aus Unterlagen des Erzbistums Köln ergeben sich Hinweise auf innerfamiliären Druck. Auch soll vom Angeklagten Geld geflossen sein.

Ob sie in den folgenden Jahren nie Sorge gehabt habe, ihr Ex-Schwager könne auch anderen Kindern etwas antun, will der Richter wissen. Die Mutter der mutmaßlichen Opfer reagiert verlegen und bedrückt. „Ich war so in Angst um meine Kinder.“ Zudem habe sie mit dem Kontaktabbruch Distanz zwischen sich und Ue. bringen wollen.

Erzbistum legt Fall schnell ad acta

Im März 2011 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Ein eigenes kirchliches Verfahren wegen des Verdachts sexuellen Missbrauchs kam nicht zustande. Das Erzbistum Köln legte die Sache schnell ad acta, als das weltliche Verfahren im Sande verlief. Der damalige Kardinal Joachim Meisner hob eine zeitweilige Suspendierung auf und setzte Ue. wieder auf seiner vorherigen Stelle als Krankenhausseelsorger in Wuppertal ein.

Das Erzbistum beteiligte sich auf Drängen Ue.s sogar hälftig an seinen Anwaltskosten – wegen augenscheinlich falscher Beschuldigungen, die der Geistliche habe hinnehmen müssen.

Bistumsvertreter bringt Verfahren neu in Gang

Erst 2018 ging der damalige Interventionsbeauftragte des Erzbistums, Oliver Vogt, nach einer Sichtung der Akten erneut auf die Nichten zu. So kam das gesamte Verfahren erneut in Gang, das kirchlich mit der Entlassung Ue.s aus den Diensten des Erzbistums durch Kardinal Rainer Woelki endete. 2020 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Eine zweite Anklage, die den Missbrauchsfall einer damals Elfjährigen im Jahr 2011 betrifft, kam kurz vor Prozessbeginn hinzu.

Im Januar sollen auch hochrangige Kirchenvertreter als Zeugen gehört werden, unter ihnen der frühere Personalchef des Erzbistums und heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße. In den bisherigen Befragungen ließ Richter Kaufmann erkennen, dass es dann unter anderem um mögliche Mitwisserschaft von Kirchenmännern oder zumindest um Verdachtsmomente gehen könnte, denen kirchlicherseits möglicherweise nicht nachgegangen wurde. Das Urteil wird für Mitte Februar erwartet. Im Fall eines Schuldspruchs wegen schweren sexuellen Missbrauchs hat Ue. eine Haftstrafe von zwei bis 15 Jahren zu erwarten.