Die Zukunft der Virusforschung liegt unterirdisch. Und sie liegt auch in Köln. Über ein Forschungsfeld, das ohne Corona nicht denkbar wäre.
Frühwarn-System für PandemienWie die Analyse des Kölner Abwassers die Virusforschung verändert
Auch wenn Fenster und Türen geschlossen sind, müffelt es ein wenig. Andrea Poppe, ausgestattet mit Schutzbrille, weißem Kittel und blauen Einmalhandschuhen, schüttelt eine gelblich-trübe Brühe in einer verschlossenen Laborflasche. „Die SARS-CoV-2-Biomarker, also die Gensequenz des Coronavirus, die müssten hier drin sein“, sagt die Leiterin des Abwasserinstituts am Klärwerk Stammheim, wo die Hinterlassenschaften von etwa 85 Prozent der Kölner Bevölkerung sowie von zahlreichen Gewerbe- und Industriebetrieben gereinigt werden.
Die Überwachung von Abwasser gilt mittlerweile als Früh- und Entwarnsystem für die Corona-Pandemie. Und das Klärwerk Stammheim ist seit einem Jahr einer von 20 Pilotstandorten des Bundes und der EU für die systematische Überwachung von SARS-CoV-2 im Abwasser. Dass die Kölner ausgewählt wurden, war nicht überraschend. Schließlich waren die Stadtentwässerungsbetriebe einer der Pioniere der Idee, hatten die Forschung auf diesem Gebiet zuvor aus eigener Initiative und mit eigenen finanziellen Mitteln unterstützt. Schon im Mai 2020 wurden beispielsweise Abwasserproben an das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig geschickt.
Dem Kölner Gesundheitsamt fehlte bislang das Geld für Abwasser-Forschung
Ein Jahr Pilotstandort, in dem die Forschung vorangekommen ist. SARS-CoV-2 gelangt über Urin, Stuhl und Speichel ins Abwasser und kann dort nachgewiesen werden. „Voraussetzung ist, dass die Viren in ausreichend hohen Konzentrationen in den Proben vorhanden sind“, erklärt Poppe. Nachdem die Analyse im Labor bundesweit zunächst nicht funktioniert habe, seien die molekularbiologischen Messmethoden verändert worden. Vor allem sei „das Virusmaterial gezielt vervielfältigt, also kopiert“ worden.
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Die Möglichkeiten für die Abwasseranalyse bestanden längst. Aber vor der Pandemie fehlte der politische Wille, sie durchzuführen – und damit auch das Geld. Johannes Nießen, Leiter des Kölner Gesundheitsamtes und ein Vorantreiber der Abwasser-Analyse, sagt: „Corona hat das alles erst möglich gemacht, das muss man leider so sagen. Die Wissenschaft wird seit Beginn der Pandemie politisch mehr gehört, die Vorschläge werden ernster genommen.“
Gesundheitsministerium verspricht Fortsetzung der Abwasser-Analyse
Nun hat das Landesgesundheitsministerium dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ gegenüber angekündigt, das Projekt definitiv zu verlängern. „Es ist vorgesehen, das Abwassermonitoring an den nordrhein-westfälischen Standorten über das Frühjahr 2023 hinaus fortzusetzen“, heißt es. Auch eine Finanzierung über den Bund sei weiterhin denkbar.
Eine Investition, die sich lohnen könnte. Würde man das Abwasser der 235 größten Kläranlagen in Deutschland auf Coronaviren untersuchen, wäre die Hälfte der Gesamtbevölkerung erfasst. Die Kosten lägen bei rund 14 Millionen Euro pro Jahr. Zuletzt zahlte der Bund monatlich eine Milliarde Euro für Schnelltests.
Auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) ist optimistisch. „Es ist gut, dass das Abwassermonitoring als ergänzender Indikator zu Verfügung steht, denn mit einer breiteren Datenbasis kann die Infektionslage differenzierter bewertet werden“, so der Minister. Es müsse aber immer klar sein, dass sich das Abwassermonitoring nach wie vor in der wissenschaftlichen Pilotphase befinde.
Die Daten der Analyse, die für Köln in einem Karlsruher Speziallabor durchgeführt wird, erlauben nun Rückschlüsse zum Trend der Infektionsdynamik. Belegt ist demnach zumindest die Vermutung, dass die tatsächlichen Corona-Infektionszahlen in Deutschland häufig weit höher als die offizielle 7-Tage-Inzidenz sind. Als Anhaltspunkt dafür dient die Virenmenge, die in den Proben identifiziert wird.
Eine hohe Dunkelziffer bei Corona-Infektionen in der Bevölkerung beweisen auch Abwasseranalysen in anderen deutschen Kommunen – sowie in den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, Italien und Kanada. Die an- oder absteigenden Infektionswellen können im Abwasser zudem auch früher als durch großflächige Antigentests identifiziert werden. „Bei der Delta-Variante war das zehn Tage früher, bei Omikron fünf“, berichtet Poppe.
Der deutsche Verband der Amtsärzte hat deshalb bereits flächendeckende Abwassertests gefordert. Weil die Zahl der täglichen Corona-Tests stark sinkt, ist der Inzidenzwert inzwischen kaum noch relevant: Laut Nießen werden in Köln nicht einmal mehr 1000 PCR-Tests pro Tag durchgeführt. „Und es werden immer weniger.“
Während die positiven PCR-Tests inzwischen in einem Meer aus nicht erfassten Infektionen untergehen und die zahlenmäßige Erhebung der Pandemie defacto nicht mehr möglich ist, liefern die Abwasserdaten Aufschluss über die lokale Entwicklung. Nießen und Poppe sind bemüht, Missverständnisse dringend zu vermeiden. Denn eine Abwasser-Messung ist für sich genommen vollkommen nutzlos: Ob 80, 800 oder 8000 Biomarker, also Gensequenzen des Virus, pro Milliliter gefunden werden, ist nicht relevant. Die Werte schwanken je nach Wasserkonzentration und Methodik des jeweiligen Klärwerks.
Beobachtet man die Zahlen an einem Standort jedoch über einen längeren Zeitraum, lassen sich eindeutige Trends feststellen – und mit Trends an anderen Standorten vergleichen. „Durch den Coronatest bei jedem Toilettengang können wir die Gesamtentwicklung tatsächlich viel aktueller und präziser abbilden als durch vergleichsweise verschwindend geringe Abstriche in den Teststellen, zumindest wenn wir es systematisch angehen.“ In ihrer Gesamtheit, meint Nießen, werde die Entwicklung so gut erfasst.
Projekt könnte bald auf die EU ausgerollt werden
Das Ziel der EU ist es, langfristig rund 70 Prozent der Bevölkerung in den lokalen Abwasser-Analysen zu erfassen, auch andere Viren sollen dann beobachtet werden. Eine entsprechende Richtlinie ist in Arbeit. In Deutschland sollen bald 175 Standorte mitmachen.
Es gibt auch erste Versuche, die Werte weiter zu konkretisieren. Der aktuelle Messwert (3. Februar) liegt bei weniger als 400 Biomarkern, Tendenz steigend. Der höchste Messwert der letzten Omikronwelle wurde am 19. Dezember vergangenen Jahres mit 896 festgestellt. Dieser Abwasser-Wert liegt deutlich über den Spitzenwerten aus der Herbstwelle, bei der Inzidenz ist es andersherum: Sie war im Herbst höher als im Winter. Die Abwasser-Werte legen im Zeitverlauf also nahe, dass es im Winter mehr Infektionen als im Herbst gab, obwohl die erfasste Inzidenz gesunken ist.
Solche Rechenspiele seien jedoch nur mit Vorsicht anzustellen, betont Institutsleiterin Poppe. Es gebe zwar viele unterschiedliche Berechnungsmodelle, die genaue Bestimmung von Inzidenzen indes sei derzeit nicht möglich. „Daran wird noch gearbeitet“, so Poppe. „Das Corona-Abwasserscreening ist ein beginnendes Forschungsprojekt in der Pilotphase, da stecken wir sozusagen in den Kinderschuhen.“
Zu viele Paramater seien derzeit noch unbekannt oder schwer zu berücksichtigen. Fraglich sei beispielsweise, wie viele Viren wie lange pro infizierte Person ausgeschieden werden, heißt es beim Robert-Koch-Institut. Die „Ausscheideraten“ seien zudem abhängig von den Virusvarianten und dem Immunstatus der einzelnen Personen. Aber auch bei der Gewinnung der Abwasserproben könne es Variablen geben. Trockenheit oder Starkregen beeinflussten die Viruslast im Abwasser.
Kölner Gesundheitsamt: „In Zukunft ist sicher denkbar, das Verfahren auszuweiten“
Für Köln jedenfalls ist klar, dass sich die Viruslast derzeit auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau befindet – obwohl eine steigende Tendenz festzustellen sei, die laut Nießen auf eine angepasste BA.2-Variante zurückzuführen ist. Ein Trend, der wohl noch vor einem Jahr zu bundespolitischen Diskussionen geführt hätte. Heute: eine Randbemerkung im Gesundheitsamt.
Woher aber stammt das Abwasser, das den Kölner Trend beschreibt? Auf dem Gelände des Klärwerks Stammheim gibt es drei Entnahme-Maschinen, eine für jeden der großen Zulaufkanäle. Überdachte Geräte, die von außen aussehen wie etwa ein mannshoher Verteilerkasten. Darin sind zwölf Kunststoffkanister, die im 24-Stunden-Takt geleert werden. Jeder der Kanister wird für jeweils zwei Stunden befüllt. Und zwar „durchflussproportional“, wie das in der Fachsprache heißt. „Alle 866 Kubikmeter pro Sekunde wird eine Probe von 90 Milliliter des noch ungeklärten Abwassers gezogen“, erklärt Poppe.
Zusammengerechnet seien das meistens etwa zwei bis zu maximal etwa fünf Liter pro Tag. Im Kölner Abwasserinstitut wird das täglich beispielsweise dafür genutzt, die Konzentration möglicher Umweltschadstoffe wie etwa Blei, Arsen oder Quecksilber zu überwachen. „Und zweimal in der Woche schicken wir dann auch einen halben Liter zum Corona-Monitoring nach Karlsruhe“, so Poppe.
Bislang ist das dortige Labor die einzige Option. „Für zwei Proben pro Woche können wir selbst keine komplizierte Analytik rentabel betreiben“, sagt sie. „Hier sind wir auf kompetente Partner angewiesen.“ Denkbar seien künftig auch landesweite Analyse-Zentren.
Johannes Nießen hat Spaß daran, das Thema weiterzudenken. „Vielleicht bekommen wir künftig im Abwasser unterirdisch frühzeitig auch Hinweise auf Krankheiten, die wir oberirdisch noch nicht festgestellt haben“, sagt er. Er denke hier beispielsweise an den Polio-Ausbruch im US-Bundesstaat New York, der im September des vergangenen Jahres dank der Abwasser-Analyse früh bemerkt wurde.
Eine frühere Erfassung solcher lokalen Trends könnte bald auch in Deutschland möglich werden. „In Zukunft ist sicher denkbar, das Verfahren auf Polio, Influenza und andere Viren auszuweiten. Das könnten wir auch jetzt schon machen, es gibt aber derzeit keine Finanzierung hierfür. Das Abwasser eröffnet ungeahnte Möglichkeiten.“