Der Suchtforscher Daniel Deimel und Thomas Kleefuß von der IG Neumarkt streiten über Lösungen für die Drogenszene am Neumarkt.
Streitgespräch„Warum kommen immer mehr schwer drogensüchtige Menschen zum Kölner Neumarkt?“
Streit ist ein Wesen der Demokratie. Über den Austausch von Argumenten entstehen neue Einsichten, politische Entscheidungen, Perspektiven. In der neuen Folge unserer Serie „Wir müssen streiten“ sprechen der Suchtforscher Daniel Deimel und der Unternehmer Thomas Kleefuß von der Interessensgemeinschaft Neumarkt über die Drogenszene am Neumarkt. Wie hat sie sich verändert? Warum scheint sich das Problem trotz vieler Bemühungen immer weiter zu verschärfen? Und was kann Köln von anderen Städten lernen?
Herr Kleefuß, Sie wohnen am Neumarkt und engagieren sich seit vielen Jahren bei der IG Neumarkt. Wie hat sich die dortige Drogenszene aus Ihrer Sicht entwickelt?
Thomas Kleefuß: Ich kenne die Situation am Neumarkt seit vielen Jahrzehnten. 1988 ist unsere Apotheke, die mein Vater und mein Großvater dort betrieben haben, von einem Suchtkranken überfallen worden – ich war unmittelbar beteiligt, das war eine fast traumatische Erfahrung. Die Szene ist in den vergangenen drei bis fünf Jahren massiv gewachsen. Das macht uns als Immobilienbesitzern und den Geschäftsleuten große Sorgen – es gibt Menschen, die in Aufzügen und Hauseingängen ihr Geschäft verrichten und Drogen konsumieren, die aggressiv sind und den Menschen Angst machen, das ist untragbar.
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Drogenszene am Neumarkt: „Wir stellen fest, dass immer mehr Zugezogene kommen.“
Heißt: Das Elend hat zugenommen, vor allem gibt es mehr Menschen, mit denen sich auch nicht mehr vernünftig reden lässt?
Kleefuß: Ja. Es gibt immer mehr Menschen, die echte Härtefälle sind und meiner Ansicht nach nicht geschäftsfähig sind, die man dringend in einer Einrichtung unterbringen müsste. Wir stellen auch fest, dass immer mehr Zugezogene kommen. Da stellt sich natürlich die Frage, ob es eine Sogwirkung gibt: Warum kommen immer mehr schwer drogensüchtige Menschen zum Neumarkt und in die Innenstadt?
Daniel Deimel: Ich glaube nicht, dass man von einer Sogwirkung sprechen kann. Ein zentraler Punkt ist, dass seit 2016 Europa mit Kokain überschwemmt wird, es wird in breiten Teilen der Gesellschaft konsumiert. In der offenen Szene wird das Kokain zu Crack weiterverarbeitet. Die Dynamik ist bei Crack eine völlig andere als bei Heroin. Bei Heroin wird über den Tag verteilt vier- bis fünfmal konsumiert, es hat eher sedierende Wirkung. Die Leute sind eher in der Lage, einen Tagesrhythmus aufrechtzuerhalten. Bei Crack konsumieren die Leute zehn, 15, 20-mal am Tag, dadurch auch öfter im öffentlichen Raum, es ist stimulierend, es gibt mehr Aggressionen.
Am Neumarkt wird seit einigen Jahren viel Crack konsumiert. Das verschlimmert also die Situation?
Deimel: Die meisten Suchthilfeeinrichtungen sind auf Heroinkonsumenten ausgerichtet – und können die Crackkonsumenten aufgrund der Substanzwirkung nicht so gut erreichen. Das hat die Dynamiken verändert: Die Crackkonsumenten nehmen weniger Notschlafstellen in Anspruch, sie schlafen auf der Straße. Dadurch nimmt die Verelendung zu, ja.
Kleefuß: Oft wird Crack mit Alkohol, Marihuana und anderen Drogen kombiniert, oder? So stellt es sich zumindest im Straßenbild dar. Das ist sehr erschreckend – die Hugo-Passage ist an vielen Tagen nicht mehr zu betreten, das Wartehäuschen der KVB ist von Abhängigen belagert, vor dem Gesundheitsamt wird die Security der Menschen nicht mehr Herr.
Deimel: Die meisten Menschen konsumieren polyvalent, das stimmt. Für Crackkonsumenten ist oft auch Heroin ein Thema. Anders als beim Heroin gibt es keinen Ersatzstoff für Crack.
Kleefuß: Nochmal zum Thema Sogwirkung: Man kann das sicher medizinisch-psychologisch begründen, über Verfügbarkeit und den Crack-Trend, aber wenn wir über Maßnahmen diskutieren, geht es auch um die Frage: Warum gibt es am Neumarkt so viele Drogensüchtige? Warum gibt es in der Kölner Innenstadt so viele? Aus den Gesprächen mit den Sozialarbeitern stelle ich fest, dass sich die Zahl der Obdachlosen und Drogensüchtigen in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt hat. Man spricht von ungefähr 500.
Deimel: Wir wissen nicht, wie viele Opioidabhängige es in der Stadt gibt – Frankfurt am Main ist die einzige Stadt, die regelmäßig Szenebefragungen durchführt und so versucht, die Situation abzubilden. Zahlen zu nennen ist daher nicht seriös. Ich stimme Ihnen aber zu, dass es tendenziell mehr geworden sind.
Kleefuß: Die Sozialarbeiter sprechen offen über die Zahlen. Wenn man die Menschen übrigens fragt, warum sie nach Köln kommen, antworten sie: Die Drogenpreise seien hier sehr niedrig, die rechtliche Verfolgung sei eher lasch – und es gebe ein gutes soziales Angebot. So viel zum Thema Sogwirkung.
Sie sprechen von immer mehr Menschen, die nicht geschäftsfähig seien, Herr Kleefuß. Wie sollte man Ihnen begegnen?
Kleefuß: Die Härtefälle, die extrem den öffentlichen Raum belasten, das sind am Neumarkt etwa 20 bis 30 Menschen, die aus meiner Sicht dringend in einer Klinik behandelt werden müssten.
Und wie ließe sich das aus Ihrer Sicht durchsetzen?
Kleefuß: Die brauchen Hilfe in Einrichtungen, die sich um sie kümmern. Das Gegenargument lautet immer: Das wäre Freiheitsberaubung. Das hatten wir vor 80 Jahren schonmal. Ich halte dem entgegen: Meine Mutter war auch schwer krank und konnte nicht mehr frei entscheiden, dass sie nach einem Klinikaufenthalt nicht mehr nach Hause sondern ins Pflegeheim kam. Diese Menschen sind zumindest temporär nicht geschäftsfähig. Ich glaube, wenn wir diese Menschen humanitär versorgt bekommen, entspannt sich die Lage für den Neumarkt schon enorm.
Deimel: Es gab Zeiten, da war es relativ leicht, Menschen in die Psychiatrie zu bringen – das hat man Gott sei Dank aufgelöst und man hat Zwangsbehandlungen den Riegel vorgeschoben, weil es auch missbräuchlich genutzt wurde. Die Nazis haben das ganz massiv betrieben – die dauerhafte Unterbringung vieler Menschen in großen Kliniken hat man zum Glück in den 1970er Jahren aufgelöst. Die Frage, wer in der Stadt sein darf und wer nicht, ist ethisch eine ganz sensible Fragestellung: Wo zieht man Grenzen?
Da geht es auch um die Frage: Wem gehört die Stadt? Und?
Deimel: Die Stadt ist für alle Menschen da. Natürlich ist die Situation am Neumarkt und in einigen anderen Bereichen der Innenstadt schwer erträglich – ich kann Ihre Klagen verstehen, Herr Kleefuß. Das Kernproblem wird sich aber niemals lösen, wenn wir weiter repressiv vorgehen und den Kleinhandel nicht irgendwann tolerieren. Man kann die Leute nicht einfach verbannen und in eine Einrichtung stecken. Wo sollen die Leute hin? An diesen Plätzen fehlt es ja in Köln.
Kleefuß: Es müssen Angebote in der Peripherie vom Neumarkt geschaffen werden. Der Neumarkt ist das Eingangstor zu den Geschäftsstraßen – und gibt ein verheerendes Bild ab. Wir setzen uns schon seit Jahren für eine Umgestaltung des Platzes ein. Uns schwebt ein hochwertiger Marktplatz mit festen Ständen vor, ähnlich wie der Karslplatz in Düsseldorf oder der Viktualienmarkt in München. Darüber hinaus haben wir vor drei Jahren mit dem Stadtplaner Professor Braunfelds ein Konzept zur ganzheitlichen Gestaltung des Platzes und seiner Verkehrsführung erarbeitet – unabhängig davon, ob die KVB künftig oberirdisch oder unterirdisch fahren soll. Frau Reker hat dieses Konzept offiziell in Empfang genommen – und dann ist es in irgendeiner Schublade verschwunden, passiert ist in dieser Hinsicht nichts.
Das würde auch die Verdrängung der Drogenszene bedeuten…
Deimel: Mit Verdrängung verlagert man das Problem nur. Je nach Repressionslage sitzen die Menschen dann nicht am Neumarkt, sondern am Friesenplatz oder in Kalk. Und: Wo fängt die Peripherie des Neumarkts aus Ihrer Sicht an?
Kleefuß: Zwei drei, Kilometer entfernt, das reicht ja.
Deimel: Im Wohngebiet, oder wo stellen Sie sich das vor?
Kleefuß: Nehmen Sie die Nord-Süd-Fahrt, das Gelände der Kaufhof-Zentrale. Die Stadt zahlt jeden Monat circa 800.000 Euro für die leerstehende Kaufhofzentrale. Seit drei Jahren! Warum entsteht da nicht eine Anlaufstelle für Drogensüchtige? Warum wird es stattdessen seit vielen Jahren toleriert, dass in der City bei laufenden Kameras mit Drogen gedealt wird?
Deimel: Mit dem Kaufhof, da sind wir uns einig, das wäre eine sehr gute Lösung. Der Kern des Problems ist aber, dass diese Menschen eine schwerwiegende Erkrankung haben und sich ihre Drogen auf dem Schwarzmarkt organisieren müssen. Wir bräuchten legale Zugangsmöglichkeiten zu Drogen in den Einrichtungen – und parallel ein Hilfesystem, dass die Menschen weg von der Straße kommen. Das sollte aber ohne die Separierung von Menschen gehen.
Wie würde die Entkriminalisierung von harten Drogen aus Ihrer Sicht helfen, Herr Deimel?
Deimel: Die härteste Droge, die wir kennen, ist Alkohol. Wenn Sie heute ein Suchtmittel in der Stärke von Alkohol entwickeln würden, würde es nirgendwo eine Zulassung als Genussmittel erhalten. Alkohol ist in der Breite viel gefährlicher als Heroin und Kokain. Es muss eine Entkriminalisierung des Konsums geben, Repression nützt gar nichts, sie verschärft Konflikte und Probleme.
Kleefuß: Ich weiß nicht, wann Entkriminalisierung von Drogen funktioniert und wann nicht. In der Kölner Innenstadt gehen die Behörden aus meiner Sicht auf jeden Fall zu lasch mit den Menschen um, die sich aggressiv und unsozial verhalten. Da bräuchte es mehr Präsenz und mehr Härte – und nicht weniger. Andere Städte wie München können das besser.
Was kann Köln von anderen Städten lernen?
Herr Deimel, Sie haben ein Projekt am Neumarkt gemacht: Süchtige sollten ihren Alltag mit einer Kamera dokumentieren. Eine Ihrer Hauptaussagen war, dass der Neumarkt auch für Drogenkonsumenten ein Angstraum ist. Woran liegt das?
Deimel: Offene Drogenszenen sind ein Risikoumfeld für Konsumenten, für tödliche Überdosierungen, Umgang mit nichtsterilem Besteck, Angst vor Strafverfolgung spielt eine Rolle und das schwierige Organisieren des Alltags. Viele Betroffene sind straßenobdachlos – und das Milieu ist gewalttätig. Die Konsumenten sagen: Wir sind nicht gern dort, müssen aber dorthin, um Drogen zu bekommen. Es ist also für Betroffene ähnlich angstbesetzt wie für Nicht-Betroffene.
Sie sagen, Obdachlose und Menschen mit Suchtproblematik gehören zur Stadt wie zur Gesellschaft. In vielen europäischen Innenstädten sieht es anders aus. In Lissabon, Wien oder Rotterdam sieht man nicht derart viel Elend wie in Köln.
Deimel: Lissabon hatte eine riesige offene Drogenszene. Sie haben den Konsum von Drogen entkriminalisiert und bieten massive Hilfen an. Die Zunahme an Straßenobdachlosigkeit ist ein strukturelles Problem, das in Köln vor allem damit zu begründen ist, dass es zu wenig günstigen Wohnraum gibt. Der andere Punkt ist: Wir haben ein etabliertes Hilfesystem in der Wohnungslosenhilfe, bei denen man bei diesen Menschen an eine Grenze kommt: Es gibt fast immer die Vorschrift, dass man in Wohnprojekten nicht konsumieren darf. Oder bis 22 Uhr in einer Notschlafstelle zu sein – das schaffen diese Menschen häufig nicht. Wir müssen Housing First deutlich ausbauen und Wohnen auch als Maßnahme zur Schadensminderung begreifen: Wenn die Menschen weg sind von der Straße, beruhigt sich die Situation.
Kleefuß: Deswegen müssen die Härtefälle von der Straße weg. Es gibt in Hessen zum Beispiel ein Modell in einem Bauernhof , wo diese Menschen versorgt werden. Für solche Projekte gäbe es sicher schnell Spender, die das unterstützen.
Deimel: Aber wer will entscheiden, ob jemand ein Härtefall ist oder gegen seinen Willen untergebracht wird? Da sind wir wieder bei der ethischen Frage, bei der wir uns nicht einigen werden.
In Zürich wird der Kleinsthandel toleriert – eine der größten Drogenszenen Europas ließ sich so einhegen. Allerdings auch mit mehreren Drogenkonsumräumen und einem sehr dichten Netz an Hilfen…
Deimel: Der Mikrohandel wird dort in den Suchthilfeeinrichtungen toleriert. Dadurch werden Sozialräume entlastet. Natürlich brauchen wir auch in Köln mehrere Einrichtungen. Aber sie müssen erreichbar sein. Wir hatten mal einen Drogenkonsumraum im Deutzer Hafen – da waren aber weniger als zehn Leute pro Tag. Zudem muss eine aufeinander abgestimmte Strategie in der Suchthilfeplanung entwickelt werden. Frankfurt hat hierfür einen eigenen Suchthilferat gebildet, in Köln liegt diese Aufgabe bei einer einzelnen Person. Und es braucht Geld, viel Geld. Wenn im Sozialbereich aber weiter gespart wird, multiplizieren sich die Probleme.
Kleefuß: Am Ende kommt die Stadt das teuer zu stehen. Weil der Handel und die Wirtschaft leidet – und damit Image von Köln.