Bonn – Wenn sich der Dirigent während der Aufführung herumdreht und die Zuhörer anspricht, sind zwei Deutungen des Vorgangs möglich: Entweder wechselt jener kurzzeitig aus der Kunst- in die Realitätsebene, oder die Publikumsadresse ist ihrerseits Bestandteil der Performance.
Seit der romantischen Komödie, seit Pirandello, seit Happening & Fluxus sind solche Vermischungen und Verwischungen der Ebenen ja in der Kunstpraxis vielfältig verwendete Mittel.
Iván Fischer am Pult des Budapest Festival Orchestra ließ es beim Eröffnungskonzert des diesjährigen Bonner Beethovenfestes freilich reizvoll in der Schwebe, wie er seine Intervention verstanden wissen wollte: Während der Aufführung von Ligetis „Mysteries of the Macabre“ (einem Auszug aus der Oper „Le Grand Macabre“) unterbrach er kurz das Dirigat und bemerkte in den Saal hinein, dass die anwesenden Ministerpräsidenten doch bitte jetzt nicht weggehen sollten, „sie verpassten sonst den Beethoven nach der Pause“.
Nun ist Ligeti zwar unstrittig Highbrow-Moderne, aber die bringt heute niemanden mehr dazu, fluchend oder Türe schlagend die Location zu verlassen – auch nicht den anwesenden NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst, der zuvor mit einer Grußadresse aufgewartet hatte, und seinen hessischen Ex-Kollegen Volker Bouffier, der dem festlichen Anlass ebenfalls die Ehre gab.
Komisch, grotesk und kurzweilig
Fischers Bemerkung war denn auch nicht zornig, sondern erkennbar augenzwinkernd-humorig intoniert, nach dem Motto: Man kann ja nie wissen. Dabei ist dieser Ligeti zwar erwartbar komplex, aber auch seinerseits komisch und grotesk und insofern auch kurzweilig: Der überforderte Chef einer Geheimen Politischen Polizei informiert seinen regierenden Fürsten über Volksaufstände und eine bevorstehende Katastrophe. Er – hier glänzend dargestellt von der Sopranistin Anna-Lena Elbert, die zunächst wie ein armes Hascherl über die Bühne geistert – tut dies in virtuos-piepsenden Koloraturarien, deren Figuren vom Orchester nachgeäfft oder konterkariert werden.
Zweifellos eine bemerkenswerte Programmwahl für die Eröffnung eines Beethoven gewidmeten Festreigens, wenn sie auch thematisch nicht ganz zum Aspekt „Heldentum“ passen wollte, der von der „Eroica“ im zweiten Teil des Abends auf den ersten gleichsam ausstrahlen sollte und wollte. Außergewöhnlich, weil sozusagen schlendernd hatte das Konzert mit Louis Andriessens stark rhythmisch fokussiertem Aufstandsstück „Workers’s Union“ begonnen:
Hier erschienen die als „Helden der Arbeit“ mit gelben Schutzhelmen bekrönten Musiker sukzessive bis zur vollen Orchesterstärke auf der Bühne – nur ganz am Schluss von Fischer animiert. So mochte mancher Zuhörer zunächst unsicher sein, ob er schon dem Konzert oder nicht eher einem Einstimmritual oder einer Probensession beiwohnte.
Auch hier also eine absichtsvolle Verschränkung von Kunst und Nicht-Kunst, die erkennbar die Handschrift des neuen Intendanten Steven Walter trägt. „Alle Menschen“ ist das (der neunten Sinfonie folgende) Motto des ersten Beethovenfestes unter seiner Ägide – womit ein Anspruch auf „Inklusion“ formuliert wird, der auch auf die Auflösung traditioneller Usancen und Formate im Klassikbetrieb zielt. Noch ist es freilich viel zu früh, über Erfolg oder Misserfolg dieses Konzepts zu befinden.
Der Neuansatz für das dreiwöchige Großereignis zeigt sich auch im – tatsächlich überfälligen – Wechsel der Standorte: Das World Conference Center hat ob seiner ertötenden Atmosphäre als zentraler Ersatzort für die Beethovenhalle endgültig ausgedient. Das Eröffnungskonzert fand in der Bonner Oper statt, und das weitere Programm verteilt sich auf unterschiedliche Locations im urbanen Raum. Akustisch ist die Oper als Konzertsaal auch nicht unproblematisch, aber allemal besser als das WCC.
Der erste originale Beethoven des Festes – eben die „Eroica“ nach der Pause – geriet übrigens respektabel, aber nicht überwältigend. Fischer ließ das Budapest Festival Orchestra bei insgesamt mäßigen Tempi die Linien breit und dicht ausziehen – was viele melodische Perlen aufleuchten ließ. Ohne Spannungsverluste, etwa in der Durchführung des ersten Satzes, war das leider nicht zu haben – wie sich überhaupt diese ungarische Spitzenformation den vitalisierenden Effekten einer Historischen Aufführungspraxis weithin zu versagen scheint.
Ein Beethoven des soliden Juste Milieu mithin, der niemanden aufregt. Die etwas vordergründige „Und jetzt alle zusammen“-Geste beim Forte in der langsamen Sektion des finalen Variationssatzes ging freilich nicht auf das Konto der Gäste – sie ist Beethovens „Volksrede an die Menschheit“ eingeschrieben. Warum aber nur setzte sie sich jetzt mal wieder so richtig aufdringlich in die Ohren?