Köln – „Kulturelle Veranstaltungen sind“, führte die Bundeskanzlerin in ihrem „Corona und Kultur“-Podcast am 9. Mai vergangenen Jahres aus, „für unser Leben von allergrößter Wichtigkeit. Und vielleicht wird uns erst in dieser Zeit bewusst, was wir vermissen. Denn in der Interaktion von Künstlern und Publikum ergeben sich völlig neue Perspektiven, auf unser eigenes Leben zu blicken.“
Das klingt hehr, aber auch recht allgemein, um nicht zu sagen: nach einer sprechblasenhaften Pflichtübung. Über Angela Merkels Verhältnis zur Kultursphäre lässt sich da wenig bis nichts ermitteln. Dem breiten Publikum werden beim Stichwort „Merkel und Kultur“ wohl vor allem ihre alljährlichen und in wechselnd-spektakulären Roben absolvierten Gastauftritte bei den Bayreuther Festspielen einfallen. Und das hat sehr wohl etwas zu sagen: Vier, fünf Stunden Wagner in fränkischer Sommerhitze – das tut man sich nicht Jahr für Jahr an, wenn da nicht wirklich eine Passion brennt.
Willy Brandt mochte Böll und Grass
Unsere Bundeskanzler und die Kultur – ein weites Feld. Über die einschlägigen Interessen der ersten drei Unionskanzler verlautete nicht allzu viel, mutmaßlich waren sie nicht sehr ausgeprägt. Das änderte sich mit Willy Brandt, dem ersten SPD-Regierungschef der Bonner Republik. Der Visionär scharte bereits als Berliner Regierender Bürgermeister Schriftsteller und Künstler – all die Böll und Grass und Jens – und um sich, die dann auch mit Unterstützung im Wahlkampf dankten.
Beim verantwortungsethischen Pragmatiker Helmut Schmidt, der Klavier spielte und Bach liebte, wurde das wechselseitige Verhältnis wieder distanziert, und das änderte sich im wesentlichen auch unter Helmut Kohl und Schröder nicht. Kohl hielt es mit risikoloser Traditionskultur und wagte mit seiner Sympathie für Ernst Jünger sogar den Trip ins politisch Anrüchige; Schröder schätzte den Maler Jörg Immendorff.
Kulturverständnis der DDR
Das unambitionierte bis gleichgültige Verhältnis der Politik zu Kunst und Kultur hat immer wieder Kritik und Häme beflügelt. Dabei ist desinteressierte Koexistenz vielleicht gar nicht mal zu verachten. In der DDR zum Beispiel erfreute sich die Kultur von offizieller Seite größter Aufmerksamkeit. Hat es ihr und ihren Repräsentanten etwa zum Vorteil gereicht?
Nein, Kritik und Häme in diesem Kontext hat Angela Merkel kaum je provoziert. Was die Kulturinstitutionen anbelangt, so lag das auch daran, dass sie den Förderinitiativen ihrer Kultur-Staatssekretärin zumindest keine Knüppel zwischen die Beine geworfen hat. Aber auch als Politikerin in einem allgemeinen Verständnis zog sie nie jene hasserfüllte Ablehnung seitens der Kulturszene auf sich, wie sie weiland Kohl und Strauss zuteil wurde.
Sauers Einfluss
Bayreuth also, dessen Festspiele Merkel meist zusammen mit ihrem Ehemann Joachim Sauer zu Beginn ihrer Sommerferien traditionell besucht. Sauer soll sie noch zu DDR-Zeiten zu Wagner bekehrt haben: Nach der Wende sei man dann auf der Suche nach „Dingen gewesen, die man machen könnte und die man vorher nicht machen konnte“. In Bayreuth sei das Erbe von Wagner wach und lebendig: „Bewahren, ohne zu erstarren: Das wünsch ich mir auch für Deutschland.“
Dezidiertere Urteile über Inszenierungen lässt sie sich kaum abringen, da bleibt es meistens bei einem pauschalen: „Wunderbar“. Das ist klug genug, sie möchte dem Spott der Experten keine Zielscheibe liefern. Merkel in Bayreuth – die Medien interessiert eh meist anderes als das, worum es hier geht oder doch gehen sollte. Ihnen geht es um Abendkleider und Gesellschaftstratsch. Im Herzen von Merkels Bayreuth-Besuchen klafft – für die Außenstehenden – ein schwarzes Loch.
Trotzdem darf die Frage gestellt werden: Warum ausgerechnet Wagner? Er sei so emotional und berührend und gleichzeitig so katastrophal tragisch – zu dieser Einschätzung immerhin ließ sich die Kanzlerin einmal herbei. Lässt sich von dort eine Linie zu ihrer Auffassung des Politischen ziehen? Wohl kaum: Politik als die Arena (und sei es scheiternder) rationaler Entscheidung und der Problemlösung auf Sichtweite – ein „untragischeres“ Verständnis lässt sich kaum denken. Nein, für Angela Merkel führt erkennbar kein Weg aus der Kunst in ihr professionelles Metier. Die Ästhetisierung der Politik ist nicht ihr Ding – und ein weiblicher Rienzi oder Lohengrin oder Siegfried will sie schon gar nicht sein.
Lesen als Lebenselixier
Liest Angela Merkel auch „schöne“ Literatur? Also keine Akten und politischen Ratgeber? In ihrem wöchentlichen Video-Podcast aus dem Kanzleramt betonte sie einmal, dass Lesen für sie ein „Lebenselixier“ sei. Anlässlich der Leipziger Buchmesse von 2018 offenbarte sie ihre Zuneigung zu Erich Kästner und Wilhelm Busch – und zu russischen Klassikern wie „Krieg und Frieden“. Aktuell habe sie sich mit Büchern über den 30-jährigen Krieg befasst.
Zum Thema „Merkel und die Kultur“ gehört auch der Aspekt, dass die Bundeskanzlerin selbst bereits mehrfach in sehr unterschiedlichen Metiers Gegenstand kultureller Befassung wurde. Hier nur eine kleine Auswahl – abseits der Merkel’schen Raute, die bereits zur Popikone geriet: 2015 übertrug Boris Preckwitz in seiner Tragödie „Niobe. Raum im Ausnahmezustand“ den antiken Mythos auf Merkels Kanzlerschaft und ihre Krisenbewältigungspolitik. 2020 erschien sie in Andreas Veiels Film-Thriller „Ökozid“ (ARD) als Zeugin in einem Klimakrisen-Prozess.
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Schließlich Sibylle Lewitscharoffs 2019 erschienener Roman „Von oben“. Dort schaut jemand, eine Art „Engel über Berlin“, Angela Merkel über die Schulter, genauer: Er beobachtet sie in ihrem Privatdomizil in der Straße „Am Kupfergraben“ gegenüber dem Eingang zum Pergamonmuseum, wie sie dort nächtens „in einem karierten Bademantel in der Küche“ am Tisch Akten wälzt.
Alles schläft, nur eine wacht? Ein bisschen ist es so, die scheidende Kanzlerin dürfte jedenfalls gegen dieses Fremdbild wenig einzuwenden haben.