Henning Borggräfes Berufung zum Leiter des Kölner NS-Dokumentationszentrums war eine Hängepartie. Im Interview spricht er über Antisemitismus, politisches Engagement als zweites Standbein des NS-DOK und seine Pläne für das Haus.
NS-DOKDas hat Henning Borggräfe mit dem Kölner Museum vor
Herr Borggräfe, ihre Berufung glich einer Hängepartie, weil Teile des Kölner Stadtrats prüfen wollten, ob es mögliche Synergieeffekte zwischen dem NS-Dokumentationszentrum und anderen Kölner Museen gibt. Offenbar konnten Sie gute Argumente dafür vorbringen, dass ihr Haus keine Unterabteilung des Stadtmuseums oder des Jüdischen Museums wird.
Henning Borggräfe: Diese Frage spielte in meinen Bewerbungsgesprächen gar keine Rolle. Aber es ist natürlich sinnvoll, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie wir mit den anderen historischen Museen enger zusammenarbeiten können. Nach meinem Eindruck ist das ein Prozess, der noch im frühen Ideenzustand ist, zumal die Direktion des Stadtmuseums gerade neu besetzt wird.
Aber Sie gehen schon davon aus, dass das NS-DOK eigenständig bleibt?
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Im Moment ja. Das NS-DOK ist eines der großen Kölner Museen und mit der Gedenkstätte sowie seiner politischen Bildungsarbeit zugleich besonders. Und es funktioniert so sehr gut.
Das NS-DOK wurde relativ spät 1979 auf Initiative der Stadtgesellschaft gegründet, davor war die Geschichte des EL-DE-Hauses als Gestapo-Hauptquartier weitgehend verschüttet. Wie bewerten Sie die Gründungshistorie des Museums?
Das NS-DOK ist ein typisches Beispiel für erfolgreiches zivilgesellschaftliches Engagement. Im bundesweiten Vergleich kam das NS-DOK übrigens gar nicht so spät, im großstädtischen Raum gehört es als Gedenkstätte, die zugleich eine Dokumentationsstätte ist, eher zu den Pionieren. Aber natürlich ist die deutsche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen kein geradliniger Weg, das Kölner NS-DOK steht für diese wechselvolle Geschichte. Es brauchte einige Anläufe sowie Nachdruck aus der Stadtgesellschaft, bis die Idee, ein Dokumentationszentrum in der Stadt zu integrieren, umgesetzt wurde. In den letzten Jahren wurde das NS-DOK dann aber gerade auch auf Wunsch der Stadtspitze zunehmend ausgebaut und erweitert.
Das NS-DOK ist auch eine Forschungsstelle. Gibt es noch weiße Flecken in der Kölner NS-Zeit?
Die gibt es sicherlich. Man kann das Puzzle immer noch weiter komplettieren. Eine große Leerstelle ist eigentümlicherweise die Geschichte der Gestapo, die ja eng mit unserem Haus verbunden ist. Daran wird im NS-DOK gerade gearbeitet. Vordringlicher scheint mir aber zu sein, den immensen Schatz an Daten, der in den letzten 30 Jahren hier angehäuft wurde, der Öffentlichkeit stärker zugänglich zu machen. Wir wollen mit digitalen Forschungsmethoden neue Perspektiven auf die Kölner NS-Geschichte ermöglichen.
Wie sähe das aus?
Ich kann ihnen ein Beispiel aus meiner vorherigen Arbeit bei den Arolsen Archives geben. Dort habe ich zuletzt eine Fallstudie zur Dynamik der Deportationen aus Berlin erstellt. Ich habe dafür anhand der letzten Wohnadressen von 42.000 Jüdinnen und Juden die Verlaufsdynamik der Deportationen analysiert, um die Handlungsmuster der Gestapo besser zu verstehen und daraus abzuleiten, was dies für die Betroffenen bedeutete.
Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen?
Es gab überhaupt kein erkennbares Muster im Handeln der Gestapo. Wir stellen uns das sehr planvoll, mächtig und durchgreifend vor, aber tatsächlich war es sehr chaotisch und situativ. In Berlin gab es kein stringentes räumliches Muster für die Deportationen. Für die jüdischen Bürger ergab sich dadurch eine extreme Unsicherheit über einen langen Zeitraum hinweg. Ich könnte mir vorstellen, dass es in Köln ähnlich gewesen ist.
Sehen Sie das NS-DOK in der Pflicht, politisch zu wirken?
Ja, unbedingt. Wir sind unter den Gedenkstätten insofern außergewöhnlich, als wir etwa mit der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus intensiv in Aufklärung und Prävention investieren. Dies ist geradezu ein zweites Standbein des NS-DOK.
Was wollen Sie neu machen?
Es gibt einiges zu tun, es gibt mehrere Themen, die wir in den nächsten Jahren bearbeiten werden. Am wichtigsten ist vielleicht unsere Dauerausstellung, die im Kern noch aus den später 1990er Jahren stammt. Wenn Sie heute durchs Haus gehen, merken sie, dass sie diese Zeit auf dem Buckel hat, optisch, aber auch bei den Erzählformen. Die Darstellung ist sehr nüchtern, es wurden sehr viele Dokumente an die Wände gebracht. Ich wünsche mir ein stärkeres Erzählen über Fallgeschichten, das können einzelne Biografien oder Ereignisse sein, die für größere Kontexte stehen. Dazu gehören auch digitale Ausstellungsmedien, die die tatsächliche Dimension von Verfolgung in der Stadt zeigen und diese anschaulicher und besser begreiflich machen. Die Kölner Besucher sollen beispielsweise unmittelbar sehen können, ob es ein Zwangsarbeiterlager in ihrer Straße oder der näheren Umgebung gab.
Hat man sich bei der Aufarbeitung der NS-Zeit zu lange auf die Täter konzentriert?
Viele Experten würden sagen: genau andersherum. Gerade an den Gedenkorten standen lange die Biografien der Opfer im Fokus. Das hatte seine Berechtigung und bleibt wichtig, doch darüber sind Verfolgungsmechanismen, Tatorte und Täter mitunter in den Hintergrund getreten. Wir wollen die Geschichte in ihrer Gänze erzählen und dazu gehören beide Gruppen. Aber auch die vielen nicht aktiv beteiligten „Zuschauer“, die aber durch ihr Zuschauen Handeln ermöglicht oder unterstützt haben.
Wie haben Sie die Diskussion über den Antisemitismus auf der Documenta erlebt?
Die Documenta hat aus meiner Sicht viele Fragezeichen hinterlassen. Es gibt zwei Lager, die beide mit dem Eindruck aus der Diskussion herausgegangen sind, eine Niederlage erlitten zu haben. Auf der einen Seite der Teil der Öffentlichkeit, der auf der Documenta einen Dammbruch erlebt hat, eine bis dahin nicht vorstellbare öffentliche Zurschaustellung von Antisemitismus. Auf der anderen Seite herrschte bei vielen, gerade internationalen Künstlern der Eindruck vor, live die kolonialistische Unterdrückung zu erfahren. Diese Perspektiven stehen sich scheinbar unvereinbar gegenüber. Ich kann mir vorstellen, dass uns dieses Thema auch am NS-DOK in den nächsten Jahren beschäftigen wird.
Es gab auch eine Debatte darüber, ob es eine besondere deutsche Perspektive auf den Antisemitismus gibt, die in anderen Weltgegenden nicht geteilt wird.
Ich denke, es gibt keinen Grund anzunehmen, es gäbe in Deutschland eine andere Definition von Antisemitismus oder eigene Maßstäbe dafür. Es gibt aber sicherlich eine erhöhte Sensibilität und das finde ich auch richtig. In vielen Ländern scheint es auch in linken und linksliberalen Kreisen zum guten Ton zu gehören, ein Verhältnis zu Israel zu pflegen, in dem die Grenzen zum Antisemitismus fließend sind. Wir sehen solche Positionen auch in Deutschland, aber hier wird ihnen, so mein Eindruck, deutlicher widersprochen.
Henning Borggräfe, geb. 1981, leitet seit Anfang November das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Der promovierte Zeithistoriker arbeitet seit zwei Jahrzehnten zu Themen des Nationalsozialismus. Zuletzt leitete er die Abteilung Forschung und Bildung des International Center on Nazi Persecution im hessischen Bad Arolsen.
Das Kölner NS-Dokumentationszentrum, kurz NS-DOK, wurde 1979 von der Stadt Köln gegründet und ist im ehemaligen Gestapo-Hauptquartier, dem EL-DE-Haus am Apellhofplatz, untergebracht. Das NS-DOK ist zugleich Gedenkstätte, Lernort und Forschungsstelle, neben der Dauerausstellung gibt es regelmäßig Sonderschauen zu NS-Themen. Vor der Coronapandemie verzeichnete das NS-DOK jährlich über 90.000 Besucher.