Jahrzehntelang gab die Kuschana-Schrift der Linguistik Rätsel auf. Doch nun konnten drei Nachwuchsforscher aus Köln entziffern, was vor ihnen noch niemandem gelang.
UniversitätWie es drei Kölnern gelang, das Rätsel um eine antike Schrift zu lösen
Was machen Linguisten, wenn sie das entscheidende Puzzle-Stück finden, um eine bisher unbekannte Sprache zu entschlüsseln, die zwischen 200 vor und 700 nach Christus gesprochen wurde? Die Antwort ist simpel: „Wir sind komplett durchgedreht“, sagt Natalie Korobzow.
Mit ihren Kollegen Svenja Bonmann und Jakob Halfmann, die auch an der Universität zu Köln forschen, versuchte sie zwei Jahre lang, ein Rätsel zu lösen, an dem sich seit den 1950er Jahren Linguisten die Zähne ausbeißen und von dem die meisten Menschen noch nie etwas gehört haben.
Die Kuschana-Schrift ist ein Schriftsystem, das in Teilen Zentralasiens in Gebrauch war und sowohl mit frühen Nomadenvölkern der eurasischen Steppe als auch mit der Herrscherdynastie der Kuschana in Verbindung gebracht werden kann. Deren Reich befand sich im Zentrum der antiken Welt zwischen dem Römischen Reich und China. Heute liegt der größte Teil des ehemaligen Reiches in Afghanistan, aber auch in Teilen Tadschikistans und Usbekistans sowie Pakistans, Nordindiens und des westlichen Chinas.
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Das Kuschana-Reich gehörte zu den mächtigsten Reichen der Antike
Die religiöse Kultur der Kuschana war von einem Zusammenwirken hellenistischer, hinduistischer und altiranischer Einflüssen geprägt, daneben waren sie auch maßgeblich für die Verbreitung des Buddhismus in Zentralasien und China verantwortlich. Die Kuschana entsandten Botschafter ins Sassaniden-Reich, ins Kaiserreich China und nach Rom. Damit gehörte ihr Staat zu den mächtigsten Reichen der antiken Welt.
Doch Schriftfunde auf Schalen und Tontöpfen und vor allem ein dreisprachiger Text, der in den 1960er Jahren im afghanischen Hochgebirge auf einem Felsen etwa 100 Kilometer südwestlich von Kabul gefunden wurde, konnten jahrzehntelang nicht entziffert werden.
2021 gab die heute 33 Jahre alte Svenja Bonmann an der Universität zu Köln einen Einführungskurs in mitteliranischen Sprachen. Und irgendwann sprach Kursteilnehmer Jakob Halfmann sie auf die unbekannte Schrift an. „Er sagte zu mir: ‚Wollen wir uns das mal zusammen anschauen? Das Rätsel muss doch lösbar sein.‘ Und dann haben wir uns da reingesteigert“, erinnert sich Bonmann. Sie holten Natalie Korobzow, eine Expertin für semitische Schriften, ins Team. Gemeinsam beherrschen die Nachwuchswissenschaftler einige Dutzend antike Sprachen.
Das war auch dringend nötig, denn am vielversprechendsten erschien ihnen der dreisprachige Fund aus Afghanistan. Dessen Paralleltexte sind in Gandhari, Baktrisch und in der Kuschana-Sprache verfasst.
Bonmann, Halfmann und Korobzow bestimmten anhand der Paralleltexte die wahrscheinliche Schreib- und Leserichtung, die Anzahl und Natur einzelner Schriftzeichen und Vokalzeichen sowie den wahrscheinlichen Schrifttyp der unbekannten Sprache. Sie erstellten ein Zeicheninventar und suchten nach wiederkehrenden Sequenzen von Zeichen. Doch die Qualität der Fotos, die ihnen vorlagen, war zu schlecht. Vieles ließ sich nicht entschlüsseln.
Das entscheidende Puzzle-Stück fehlte ihnen noch. Dieses tauchte im Jahr 2022 auf. In der Almosi-Schlucht im Nordwesten Tadschikistans fand der Archäologe Bobomullo Bobomulloev einen kurzen zweisprachigen Text, der auf einen Felsen geritzt war. Fotos von diesem verbreiteten sich auf Twitter. Und in Köln entdeckte Jakob Halfmann mitten in der Nacht den Tweet und informierte seine Kolleginnen.
Bei der Entschlüsselung gingen die drei Forscher ähnlich vor, wie es Jean-François Champollion vor genau 200 Jahren tat, als er die ägyptischen Hieroglyphen mittels des Steins von Rosetta entzifferte, der ebenfalls Paralleltexte in drei Sprachen enthält.
Neben der Kuschana-Schrift enthält die deutlich besser erhaltene zweisprachige Inschrift einen Abschnitt in der bereits bekannten baktrischen Sprache. Dort stehen der Königsname Vema Takhtu und der Titel „König der Könige“. Diesen Namen galt es nun, in der Parallelschrift zu finden. „Als wir die Zeichensequenz identifiziert hatten, die vermutlich den Königsnamen und den Titel ‚König der Könige‘ enthielt, konnten wir versuchsweise Lautwerte für einzelne Zeichen einsetzen. Da wir wussten, wie viele Zeichen das sind, konnte man darauf schließen, wie viele Silben ‚König der Könige‘ in der unbekannten Sprache enthielt“, so Bonmann.
Von jedem weiteren Wort konnten sie dann neue Zeichen deuten. „Man fängt klein an, versucht ein oder zwei Wörter zu lesen und dann setzt man die bereits bestimmten Lautwerte versuchsweise in neue Zeichensequenzen ein. Und wenn man Glück hat, ergibt sich eine plausible Lesung und man kann weitermachen. Je mehr Wörter man auf diese Weise plausibel lesen kann, desto unwahrscheinlicher wird ein Zufall. Wir haben uns von Wort zu Wort vorgearbeitet, und die Lesungen ergaben Sinn. So wurde es immer wahrscheinlicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“
Von 25 bis 30 Zeichen, die diese Schrift enthält, können sie so 15 sicher lesen und bei weiteren haben sie starke Vermutungen. Sie hoffen nun, dass weitere Schriftstücke gefunden werden. Das ist aber nicht so leicht, weil der Fundort in 3000 Metern Höhe liegt und nur im Sommer zu erreichen ist. Im Laufe der Jahre sind Steine abgebrochen und liegen wie ein weiteres großes Puzzle herum.
Der in Tadschikistan gefundene Text gab zwar die entscheidenden Hinweise, doch viel mehr als die Namen enthält er nicht. Bei dem Fund aus Afghanistan sind sie dem Inhalt des Textes nun auf der Spur. „Wir vermuten, dass es um ein Ritual geht und Götter erwähnt werden. Es ist wohl etwas Religiöses, das legt auch der Fundort nahe. Es ist ein Ort, der eine weite Ebene überblickt. Es ist nicht praktisch, da eine Inschrift anzubringen“, so der 28 Jahre alte Halfmann. Sie hoffen, dass es weitere Funde gibt, die mehr über das Leben und die Kultur der Menschen in diesem antiken Reich aussagen.
Sie hoffen, dass ihr Fund dazu beiträgt, die Kulturgeschichte Zentralasiens besser zu verstehen
Aber warum gelang drei Nachwuchswissenschaftlern aus Köln der Durchbruch, den andere Forscher bisher nicht erreichten? „Die meisten Menschen gehen nicht so methodisch-durchdacht vor wie wir“, vermutet Svenja Bonmann. „Wir sind hier in Köln geprägt worden durch unseren Doktorvater Eugen Hill, methodisch sehr rigoros vorzugehen. Wir sind da sehr streng und vielleicht auch sehr deutsch. Das haben wir bis zum Exzess getrieben. Und es hat funktioniert.“
Und woher kommt die Faszination für Sprachen, die heute niemand mehr spricht? „Man kann fremde Welten entdecken, die noch niemand gesehen hat, weil man lesen kann, wie die Menschen aus diesen Welten zu uns sprechen durch Zeichen, die sie irgendwohin gemalt haben. Sie wollten gar nicht zu uns sprechen, aber wir schaffen es, dass sie bei uns ankommen“, sagt Halfmann. Korobzow (32) zieht Parallelen zu Fächern, die vielen Menschen näher sind: „Ich finde es hilfreich, das mit Geschichte und Archäologie zu vergleichen. Wir machen das Gleiche, es ist sozusagen Sprach-Archäologie.“
Und dieser haben sie sich mit Leidenschaft verschrieben. „Für mich ist das eine Sucht. Ich habe mit Latein und Mittelhochdeutsch angefangen, dann habe ich Gotisch, Altenglisch und Altnordisch gelernt. Dann lernt man Altgriechisch, und auch das älteste Griechische, das sogenannte Mykenische, und dann Hethitisch und steigert sich immer weiter“, sagt Bonmann. „Ich bin tatsächlich schon nachts aufgewacht und habe noch halb im Traum Khotan-Sakisch gesprochen, eine Sprache, die entlang der Seidenstraße gesprochen wurde. Und irgendwann ist man bei drei Dutzend Sprachen und denkt sich, man sollte vielleicht doch mehr unter Menschen gehen.“
Der Vorsatz ist vernünftig, aber es gibt noch viel zu tun für die drei. Sie wollen die fehlenden Zeichen entschlüsseln und nach Tadschikistan reisen und vor Ort forschen. Sie hoffen, dass ihr Fund dazu beiträgt, die Sprach- und Kulturgeschichte Zentralasiens besser zu verstehen. Und das nächste Sprachrätsel ist sicher auch nicht weit.