Eine Kölner Ausstellung legt Zeichnungen unters Mikroskop und bringt Verblüffendes zutage. Etwa eine „Fotografie“ von 1460.
Wallraf-Richartz-MuseumWer hat Peter Paul Rubens das blaue Auge gehauen?
Wer das Christuskind besucht, hat besser Gold, Weihrauch oder Myrrhe dabei, schließlich wissen auch Heilige, was sich gehört. Auf einem Bild, das Rogier van der Weyden um 1460 malte, halten sich die Besucher hingegen mit Gaben auffällig zurück: Petrus hält einen Schlüssel in der Hand, Johannes ein Buch und die beiden Ärzte Cosmas und Damian einen Geldbeutel, einen Salbenspatel sowie ein Urinal; es ist kein Wunder, dass der Jesusknabe lieber an der Brust der Mutter saugt.
Die Mediziner mitsamt Attributen finden sich auch auf einer Zeichnung, die jetzt im Graphischen Kabinett des Kölner Wallraf-Richartz-Museums hängt. Auf ihr hat ein Mitarbeiter van der Weydens die rechte Seite des für die Familie Medici entstandenen Gemäldes festgehalten, vermutlich um den Ausschnitt für eine spätere Verwendung zu archivieren. Ungewöhnlicher als ein Urinal im Angesicht des heiligen Knaben ist der Stift, mit der die Zeichnung angefertigt wurde. Er bestand aus reinem Silber, also einem Material, mit dem man eigentlich nicht zeichnen kann.
Allein mit Stilvergleichen lässt sich heutzutage kein Meister mehr aufs Blatt zitieren
War gerade nichts anderes zur Hand? Die Erklärung, die Kurator Thomas Klinke liefert, ist einigermaßen verblüffend. Um mit Silber zeichnen zu können, wurde das Papier zunächst mit einer aus Knochenasche und Leim bestehenden zähen Flüssigkeit beschichtet. In diese wurden das Motiv dann mehr gestrichen als gezeichnet. Der Stift glitt über das Papier, ohne tiefere Spuren zu hinterlassen, was die Arbeit erschwerte, und weil bei dieser Grundierung keine Korrekturen möglich waren, verzieh das Papier nicht mal den geringsten Fehler. Es gab aber einen guten Grund, sich dieser Marter auszusetzen: Der schweflige Leim wirkte (gemeinsam mit Kerzenrauch) für die Silberzeichnung wie ein Entwicklerbad; das Motiv stieg, beinahe wie bei der erst Jahrhunderte später erfundenen Fotografie, wie von Geisterhand gezogen aus dem Papier.
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All das sieht man dem unscheinbaren Blatt wahrlich nicht an. Aber dafür gibt es schließlich die Kunsttechnologie, der sich auch Klinkes äußerst lehrreiche Ausstellung „Zeichnung im Labor“ verdankt. Diese bildet das erste sichtbare Ergebnis eines mehrjährigen Forschungsprojekts, in dem das Wallraf seine knapp eintausend Zeichnungen aus den Niederlanden mit naturwissenschaftlicher Gründlichkeit untersucht. In einigen Jahren soll eine große Ausstellung die Ergebnisse zusammenfassen; der Auftakt ist verheißungsvoll.
Ähnliches hat das Wallraf-Richartz-Museum erst kürzlich sehr erfolgreich für die „geheimen“ Techniken der Maler vorgeführt. Aus der Welt der Zeichnung ist die Kunsttechnologie ebenfalls nicht mehr wegzudenken – sei es, um Werke fachgerecht restaurieren zu können, oder um sie ihren Schöpfern zuzuordnen. An den Anfang der Ausstellung hat Klinke daher eine Zeichnung gehängt, die das Wallraf vor 20 Jahren Peter Paul Rubens zuschreiben konnte. Entscheidende Hinweise auf den Zeichner der Laokoon-Gruppe gaben Beschaffenheit und Wasserzeichen des Papiers, dessen Herkunft sich bis zu einer italienischen Papiermühle zurückverfolgen ließ. Allein mit Stilvergleichen und klassischer Recherche lässt sich heutzutage kein Meister mehr aufs Blatt zitieren.
Die Ausstellung ist in kurze Kapitel gegliedert, in denen Klinke mal das Papier unter die Lupe nimmt, mal die Materialität von Farben und mal die Zeicheninstrumente. In dieser Ausstellung ist das wörtlich gemeint, denn jedes Werk wird von mikroskopischen Vergrößerungen (und schriftlichen Erläuterungen) begleitet. Auf diese Weise lassen sich etwa die Korrekturen sehr schön nachverfolgen, die vermutlich Rubens persönlich an einem von seinem Mitarbeiter Paulus Pontius kopierten Selbstporträt vornahm: Die Hutkrempe bekam etwas mehr Glanz und ein Auge wurde dunkler; es sieht tatsächlich so aus, als hätte sich Rubens in „Schwarz-weiß“ selbst ein blaues Auge verpasst.
Auch sonst zeigt sich, dass die Wahl einer Papiersorte oder zwischen Kreide- oder Kohlestiften immer auch ästhetische Folgen hatte, die, so darf man unterstellen, von den Künstlern mitbedacht wurden. Ob dieses Materialwissen so weit ging, wie einige Mikroskopaufnahmen nahelegen, sei einmal dahingestellt: Fünfhundertfach vergrößert wirken minimale Unebenheiten des Papiers entweder wie Stolperfallen oder wie Einladungen, mit solchen eingebauten Fehlern virtuos zu „spielen“.
Allerdings muss hier selbst die moderne Kunsttechnologie passen. Ob die unter der Lupe präsentierten Zeichnungen möglicherweise auch unter der Lupe entstanden sind, lässt sich allein mit technischen Mitteln nicht klären. Über solche Sehhilfen verfügten bereits die alten Meister, und manches kleinteilige Strichelwunder ließe sich damit vielleicht verstehen. Andererseits sind Zeichnungen eben nicht gemalt. Sie verlangen geradezu nach der Inspiration einer freien Hand.
„Zeichnung im Labor. Papier trägt Kunst“, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Obenmarspforten, Köln, Di.-So. 10-18 Uhr, bis 18. Februar 2024. Der Katalog kostet 12 Euro. Eröffnung mit Vortrag: Donnerstag, 9. November, 18 Uhr, Stiftersaal. Eintritt frei.