Vor ein paar Jahren versuchte ich kurz vor Heiligabend ein Zeichen am Nachthimmel zu erhaschen, mit Hilfe eines Sonderfluges. Könige und Hirten waren erfolgreicher.
Eine WeihnachtsgeschichteWie ich einmal zum Reservekometen flog
Der Boardingpass gibt als Ziel „fictitious point“ an, einen erdichteten Punkt. Ich stehe am Gate D80 des Köln-Bonner Flughafens und beiße in ein Lachs-Kanapee. Es ist halb vier Uhr morgens. Neben mir schenken sich zwei Frauen vergnügt Kaffee ein. Sie tragen Nikolausmützen. Ein kleiner Junge schnuppert an einem Schokomuffin. Ältere Herrschaften, alleinreisende Männer, ein junges Pärchen.
Könnte eine ganz gewöhnliche Reisegesellschaft sein. Wäre da nicht der Buffettisch in tiefer Nacht. Wären da nicht die neongelben Stofftaschen, die hier alle mit sich herumschwenken, als hätten sie beim gleichen All-inclusive-Anbieter ihren Kaninchenaugen-Flug in ein ummauertes Strandparadies gebucht. Aber wer um vier Uhr morgens einen fiktiven Punkt anfliegt, der sucht keine Erholung. Der sucht ein Zeichen.
Der Weihnachtskomet Ison entpuppt sich als zerplatzter Traum
Fünfzehnmal Mal heller als der Mond werde der Komet Ison am Nachthimmel leuchten, schwärmten die Gazetten und tauften den Brocken aus Staub und Eis den Weihnachtskometen. Die Astronomen schüttelten die Köpfe ob der blumigen Übertreibungen. Für sie war Ison ein schmutziger Schneeball, der sich vor rund einer Million Jahre aus der Oortschen Wolke - einer Ansammlung eisiger Objekte weit hinter Neptun - auf den Weg ins Innere unseres Sonnensystems gemacht hat. Kein Stern, der den Weg zur Krippe weist. Dafür ein kosmologisches Ereignis, ein Spektakel für kundige Himmelsgucker. Ison sollte die Sonne streifen und uns Erdlingen auf seiner Rückkehr mit bläulich leuchtendem Schweif großartig heimleuchten, just zur Weihnachtszeit.
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Ison ist unser Ziel, zwölfeinhalb Kilometer soll die Boeing 737-800 in Richtung Weltraum steigen, dem Zeichen am Firmament entgegenfliegen. Allein, es ist nicht mehr da. Ison ist ein Ikarus. Auf 2000 Grad hat sich seine Oberfläche beim Sonnensturz aufgeheizt, während im Eiskern noch 200 Grad minus herrschten. Da ist Ison zerplatzt, wie der Planet Alderaan im Schussfeld des Todessterns, zog noch kurz zwei Schweife hinter sich her, und stieg, wie es Stefan Krause ungnädig formuliert, zum Zombiekometen ab.
Krause ist Hobbyastronom und Mitbetreiber von Eclipse-Reisen, einer Bonner Agentur, die Flüge zur Beobachtung von Sonnenfinsternissen, Polarlichtern und eben Kometen anbietet. Jetzt hat ihm die Sonne die Reiseplanung durcheinandergebracht. Höhere Gewalt ist gar kein Ausdruck. Doch noch ist das Weihnachtswunder zu retten. Es gibt einen „Reservekometen“. Der hört auf den schönen Namen „Lovejoy“, Liebesglück. Nicht, weil er die frohe Botschaft brächte. Sondern schlicht, weil ihn der australische Hobbyastronom Terry Lovejoy im Jahr 2011 am Himmelszelt ausfindig machte. Hätte Stefan Krause ihn entdeckt, hieße er „Krause“.
Der baut jetzt am Gate D80 eine Leinwand auf, justiert einen Beamer auf einem Kaffeetischchen und überlässt Hermann Böhnhardt das Wort. Böhnhardt beobachtet für das Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung seit 30 Jahren alles, was durch unser Sonnensystem saust und weder Mond noch Planet ist, „vom Staubkorn bis zum Pluto“. Ison habe Lovejoy in die Ecke gedrängt, referiert Böhnhardt. Unfair. Ich gehöre jetzt fest zum Team Lovejoy.
Und dann geht sie endlich los, die Fahrt zum Kometen. Ich checke ein und fühle mich wie bei Jules Verne oder wie bei Carl Sagan. Dem großen Erklärer des Kosmos, dem Cordjackets tragenden Helden meiner Kindheit, verdanke ich meinen Platz in der Maschine, zumindest indirekt. Der National Geographic Channel hat eine Neuauflage von Sagans legendärer Doku-Reihe „Unser Kosmos“ produziert, „Unser Kosmos: Die Reise geht weiter“ mit dem Astrophysiker Neil deGrasse Tyson, aktuell bei Disney+ verfügbar. Der Kometenflug soll die Serie bewerben.
Zwischen Herkules und dem Bärenhüter soll sich Lovejoy verbergen
Über uns, heißt es, tobt ein geomagnetischer Sturm. Wir steigen über die Wolken, der Kapitän kündigt an, die Kabinenlichter zu dimmen, damit wir uns schon mal an die Dunkelheit gewöhnen. Die Boeing fliegt im Zickzack-Kurs über Belgien, Sterndeuter aus dem Osten, unterwegs zum Ärmelkanal. Unter uns leuchten sattgelb die Autobahnen.
Über uns aber funkeln jetzt tausend Sonnen. Wie lange ist es her, dass ich den Sternen so nah war? Vielleicht vor 25 Jahren auf einer Wiese in den lichtarmen bayerischen Stauden. Ich werde ausgerüstet, bekomme ein Fernglas und eine schwarze Fleecedecke, Modell „Neues Wohnen“.
Dann ist es so weit. Der Komet. Ein Gefühl wie Weihnachten. Er sei ganz einfach zu entdecken, ermutigt mich Krause. Ich muss nur das Sternbild Nördliche Krone finden, ein Halbkreis zwischen dem Herkules und dem Bärenhüter, eine nach links geöffnete Sichel. Am obersten Stern schwenke man das Fernglas etwas nach links, dann habe man „Lovejoy“ im Visier.
Die Fleecedecke über mir aufgeschlagen, als wollte ich eine Daguerreotypie anfertigen, über drei Flugzeugsitze ausgestreckt, den Kopf halsbrecherisch abgewinkelt, den Feldstecher gegen das spezialgereinigte Fenster gedrückt, sehe ich - nichts. Beziehungsweise viele verwischte Punkte. Könnte der Komet sein. Könnte irgendwas sein. Hier und da erschallt ein „Oh“ und „Ah“ aus dem vorderen Teil der Maschine.
Mein Vordermann schaut über den Sitz. „Sehen sie was?“ „Nein, ich weiß nicht.“ „Ein Glück, und ich dachte schon, ich wäre der einzige Depp hier.“ Wir lachen uns an, zwei Deppen aus dem Morgenland. Enttäuschung, schreibt Philip K. Dick in „Die Göttliche Invasion“, ist ein einfacher Test dafür, dass man sich in der wirklichen Welt befindet und nicht in einer Simulation.
Dann ziehe ich mir wieder die Fleecedecke über, lege den Feldstecher weg und schaue in den frühen Tag. Sehe Jupiter und das Schwert des Orion, sehe das unfassbare All. „Für so kleine Geschöpfe wie wir es sind“, sagt Carl Sagan, „ist die unermessliche Weite nur durch die Liebe zu ertragen.“ Wir landen an keinem fiktiven Punkt, wir landen auf der Erde, in Köln, bei unseren Lieben.