Eltern starben in der Flut in Altenahr„Ich habe geweint, ich habe gefleht, ich habe geschimpft“
Als in der Nacht der Flut die Giebelwand seines Hauses einstürzt, sitzt Oberst a.D. Georg Villinger (83) auf dem Sessel im Gästezimmer, erster Stock, seine Frau Patricia (63) auf der Bettkante gegenüber. Sie halten sich an den Händen. Die Flut tost, verschluckt Hilfeschreie und das Rufen der Tochter, die vom Gebäude gegenüber wie in ein Puppenhaus in ihr früheres Heim hineinsehen kann. Die vergeblich versucht, Hilfe zu holen und schließlich mitansehen muss, wie ihr Elternhaus und mit ihm Mutter und Vater von den Wassermassen weggerissen werden. Verschwinden. Im Gebrüll eines Stroms, der wenige Stunden zuvor noch das beschauliche Flüsschen Ahr gewesen ist.
Um 1.20 Uhr knarzt das Gemäuer, das über hundert Jahre lang in Altenahr ein Zuhause für die Familie war, ein letztes Mal. Dann gibt es auf. „Und auf einmal war das Haus nicht mehr da. Auf einen Schlag weg, untergegangen“, erzählt Jessica Kay knapp drei Wochen nach der Katastrophe.
Jessica Kay, die gemeinsam mit ihrem Mann Julian im Haus gegenüber ihrer Eltern lebte, ist nicht nur Augenzeugin, sie leidet in dieser Nacht ebenfalls Todesangst. Sie können sich vor den tödlichen Wassermassen durch eine Flucht über das Dach retten. Mit Glück, sagen sie. Ihre Vorwürfe gegen die Behörden wiegen schwer: Das Katastrophenmanagement in der Flutnacht sei miserabel gewesen, sagt Kay, und jetzt würden die Verantwortlichen alle Schuld von sich weisen.
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„Wir sind tagsüber weder richtig gewarnt worden, noch wurden wir in der Nacht irgendwie unterstützt“, sagt Julian Kay. Die Mitarbeiter der Leitstelle hätten zunehmend überfordert und zeitweise sogar genervt gewirkt. Eine Anzeige gegen Unbekannt wegen unterlassener Hilfeleistung, die Jessica Kays Bruder gestellt hat, habe bis heute kein Aktenzeichen.
„Die Staatsanwaltschaft hat die Daten der Rettungsleitstelle sichern lassen, damit diese dauerhaft für eine Auswertung zur Verfügung stehen“, erklärte der Koblenzer Leitende Oberstaatsanwalt Harald Kruse auf Anfrage. Sollte es zu einer Aufnahme von Ermittlungen im Zusammenhang mit möglicherweise verspäteten Warnungen und Evakuierungen der Bevölkerung kommen, seien Ermittlungen wegen der Strafanzeige der Familie in Teilen parallel zu führen, so Kruse weiter. Die Integrierte Leitstelle äußerte sich nicht zu den Vorwürfen.
Landkreis weist Vorwürfe zurück
Am Wochenende bereits wies der Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), Medienberichte zurück, dass die Verantwortlichen viel zu spät den Katastrophenfall ausgerufen hätten. Darin hatte es geheißen, die Kreisverwaltung habe neben online veröffentlichten Informationen im Laufe des Abends mehrere automatisierte E-Mails des zuständigen Landesamts für Umwelt erhalten, in denen auch der prognostizierte enorme Pegelstand von fast sieben Metern mitgeteilt wurde. Trotzdem habe der Kreis bis in den späten Abend nicht den Katastrophenfall ausgerufen und zunächst keine Evakuierung eingeleitet.
Einsatzleiter Heinz Wolschendorf verteidigte den Rettungseinsatz im Ahrtal ebenfalls. „Wir haben letztendlich alles, was möglich war, getan, um die Bevölkerung zu unterstützen und Rettungsaktionen durchzuführen“, sagte er. Wegen der Dimension des Einsatzes seien „gewisse Dinge“ zunächst aber nicht zu überblicken gewesen.
Die Kays wollen das so nicht gelten lassen. „Ich habe laut meiner Anrufliste erstmals um 18.34 Uhr bei der Feuerwehr angerufen. Wir sind in Altenahr Hochwasser gewohnt, aber zu dem Zeitpunkt nahm es schon Ausmaße an, die wir so nicht kannten“, erzählt Jessica Kay. Das Wasser sei nicht nur über das Ufer getreten, sondern auch über die Straße an der flussfernen Seite des Hauses gelaufen. Die Antwort der Leitstelle: Man würde sie auf eine Liste schreiben, es würden massenhaft Anrufe eingehen. „Zudem wurde uns gesagt, wir sollen ins Haus gehen, dort seien wir auf jeden Fall sicher.“ Als um 19 Uhr der Strom ausfällt und draußen Autos samt Insassen vorbeitreiben, ahnen sie: Was da vor sich geht, entwickelt sich zu einer ernsthaften Gefahr.
„Bei meinen Eltern stand das Wasser bereits bis zur Haustür, auf diesem Weg konnten sie schon gar nicht mehr raus.“ Und auch bei den Kays spitzt sich die Lage zu. „Innerhalb von 20 Minuten waren zwei Drittel unseres Hauses plötzlich überflutet. Das Wasser kam von überall. Durch die Haustür, aus sämtlichen Rohren.“ Gemeinsam mit Hund und Kater flüchten Jessica und Julian Kay auf den Dachboden.
„Wie sollten meine Eltern bitte aufs Dach kommen?“
„Ich habe daraufhin mehrfach den Notruf gewählt und sowohl unsere als auch die Notlage der Eltern geschildert. Erst wurde uns mitgeteilt, dass uns jemand holen kommen würde. Kurze Zeit später hieß es dann, wir sollten auf das Dach klettern und dort warten. Wie lange, konnte uns niemand sagen“, erzählt Kay. „Und wie sollten meine Eltern bitte aufs Dach kommen?“
Kay kauert schon auf dem Dachboden, als sie ihrem Kölner Bruder* um 0:41 Uhr eine verzweifelte Nachricht schickt: „Wir sind in der Hölle. Hochwasser überall! Sind aus dem Dach geflohen. Die Eltern sind in ihrem Haus. Das ist zur Hälfte eingerissen. Niemand kommt. Keine Feuerwehr. Niemand. Kein THW! Keine Bundeswehr! Keiner hilft!!“ Als sie durch eine Luke beobachtet, wie unter ihr die Möbel durch die Zimmer schwimmen, gerät sie in Panik. Sie schreit.
Was sich als Glücksfall herausstellt. Im benachbarten Hotel Royal Santana reagiert man sofort. Die Inhaber heben eine Tür aus den Angeln und legen diese als Planke zum Dachgeschoss der Kays. Jessica und Julian Kay packen die Haustiere und balancieren hinüber zum rettenden Balkon. „Unter mir war so viel Wasser. Ich hatte wahnsinnige Angst da oben. Wirklich richtige Todesangst.“
Ins Haus sehen wie in ein Puppenhaus
Zeitgleich prallen die Wassermassen der Ahr unerbittlich gegen die Hauswände ihres Elternhauses, sie umspülen das Gemäuer, reißen eine der Außenwände mit sich. „Wir konnten plötzlich in das Haus sehen, als wäre es ein Puppenhaus. Meine Eltern tigerten durch das Obergeschoss und riefen um Hilfe.“ Durch lautes Schreien mit den Eltern Kontakt zu halten, sei fast unmöglich gewesen. „Das Rauschen des Wassers war ohrenbetäubend.“
Schnell ist klar, dass das Haus der Gewalt der Fluten nicht mehr lange standhalten wird. „Wieder und wieder haben wir in der Leitstelle angerufen. Ich habe geweint, ich habe gefleht, ich habe geschimpft. Sie mögen doch bitte einen Hubschrauber schicken.“ Es kommt niemand. Zwar wird um 23 Uhr vom Landkreis dann doch der Katastrophenfall ausgerufen und eine Teil-Evakuierung angeordnet.
Doch für Georg und Patricia Villinger kommt diese Entscheidung zu spät. Gemeinsam mit dem Haus verschwindet das Paar in den Fluten. Ihre Leichen werden erst einige Tage später einige Kilometer flussabwärts in Mayschoß gefunden.
Rückkehr ist ungewiss
Jessica und Julian Kay sind vorerst beim Bruder in Köln untergekommen, ihr eigenes Haus ist unbewohnbar. Ob sie nach Altenahr zurückkehren werden? Jessica Kay zweifelt. „Natürlich würden wir das gerne, schließlich ist es unsere Heimat. Aber es ist auch das Grab meiner Eltern.“
*Anmerkung der Redaktion: Der Bruder von Jessica Kay ist ein Mitarbeiter dieser Zeitung
Dieser Artikel stammt aus unserem Archiv und wurde erstmalig am 3. August 2021 veröffentlicht. Die Redaktion erinnert zum zweiten Jahrestag der Flutkatastrophe an die Opfer.