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Exklusiv

Angela Merkel
„Ich wollte diesen Krieg verhindern, habe es aber nicht geschafft“

Lesezeit 9 Minuten
Angela Merkel, Bundes­kanzlerin a.D., beim Interview mit dem Redaktions­Netzwerk Deutschland. Thomas Imo

Angela Merkel, Bundes­kanzlerin a.D., beim Interview mit dem Redaktions­ Netzwerk Deutschland (RND).

Angela Merkel hat mit ihrer langjährigen Vertrauten Beate Baumann ihr Leben aufgeschrieben. Im Exklusiv-Interview spricht die Bundeskanzlerin a.D. über ihren viel kritisierten Satz „Wir schaffen das“ in der Flüchtlings­politik, ihre Haltung zu Putin und Trump – und darüber, dass sie die Sorge vieler Ostdeutscher verstehen kann, mit dem Land gehe es bergab wie 1989 mit der DDR.

Unten auf dem Klingelschild ist „teaMBook“ zu lesen – das große M steht für Merkel, das B für Baumann. Hier, in einer Altbauwohnung in Berlin-Mitte, treffen wir beide zum Gespräch über ihr Buch „Freiheit“ (Kiepenheuer & Witsch), das heute weltweit erscheint. Angela Merkel stellt ihre Entscheidungen nicht infrage, sagt aber, woran sie gescheitert ist.

Frau Bundes­kanzlerin, in Ihrem Buch üben Sie Selbstkritik, dass Sie als Politikerin oft verklausuliert gesprochen haben. Nun ermuntern Sie jüngere Generationen zu Klartext. Aber haben Sie als Kanzlerin nicht oft bewusst Ihre Meinung im Ungefähren gelassen, um sich alle Wege offenzuhalten?

Ja. Es gab Zeiten, da wollte ich mich nicht festlegen. Ich rate jüngeren Politikern auch nicht, alles zu sagen, was ihr Herz bewegt. Das geht in der Politik gar nicht. Aber die Sprache darf nicht formelhaft werden. Dann erreicht man die Menschen nicht.

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Dann dürfen wir in diesem Interview ja auf besondere Präzision hoffen. Ihnen werden vor allem vier Vorwürfe gemacht. Sie waren zu freundlich zu Russlands Staatschef Putin, und Deutschland war zu abhängig von seinem Gas, Ihre Flüchtlings­politik und der Reformstau bei Bahn, Digitalisierung und Verkehrs­projekten und die Corona-Lockdown-Politik. Nehmen Sie die Kritik an?

Ich nehme sie zur Kenntnis. Aber ich mache keinen Rückzieher von meinen Entscheidungen. Ich bin manchmal betrübt, dass oft der Wille fehlt, sich in die Zeit zurückzuversetzen. Der jetzt zerbrochenen Regierung ist es beeindruckend gelungen, sehr schnell Ersatz für russisches Gas zu schaffen. Der Preis sind deutlich höhere Energiekosten, was gravierende Auswirkungen auf unsere Wirtschaftskraft hat. Das wäre damals genauso gewesen. Deshalb habe ich Interessen der Wirtschaft im Auge gehabt.

Das heißt, Unternehmen haben Sie zu billigem Gas aus Russland gedrängt?

Sie hätten einen Verzicht auf billiges Gas aus Russland damals nicht akzeptiert, aber mir war außerdem wichtig, neben den politischen Kontakten auch die wirtschaftlichen Verbindungen nicht zu kappen. In dieser Retrospektive würde ich sagen: Ich stelle meine Entscheidungen nicht infrage. Ich kann aber gut verstehen, dass Menschen, die sehen, was Putin in der Ukraine anrichtet, mir Fehler vorhalten. Damit muss ich leben.

Angela Merkel: „Ich bin hart mit Putin umgegangen“

Sie beschreiben im Buch, wie Sie Putin durchschaut haben. Wenn Sie wussten, wie gefährlich er ist, warum sind Sie nach seiner Annexion der Krim nicht härter mit ihm umgegangen?

Die Frage habe ich mir oft gestellt, denn ich bin hart mit ihm umgegangen. Ich sehe aber auch im Rückblick nicht, dass die Kappung aller Wirtschafts­verbindungen sein Denken verändert hätte. Er hat die Ukraine überfallen, ohne dass die Ostsee­pipeline Nord Stream 2 in Betrieb war. Ich wollte diesen Krieg verhindern, habe es aber nicht geschafft.

Warum nicht?

Meiner Ansicht nach hat die Corona-Zeit maßgeblich dazu beigetragen, in der es keine persönlichen Begegnungen mehr mit Putin und anderen geben konnte. Der einzige Vorwurf, den ich mir mache, ist, dass es mir trotz aller Anstrengungen nicht gelungen ist, die abschreckenden militärischen Fähigkeiten schnell genug aufzubauen.

Ihre Koalitionen haben das Ziel der Nato, 2 Prozent des jeweiligen Brutto­inlands­produkts für Verteidigung aufzuwenden, nie erreicht. Nun sagen Sie, Deutschland müsse mehr Geld ausgeben. Das hatte auch der damalige US-Präsident Barack Obama schon von Ihnen verlangt.

Wir haben dann auch mehr gemacht.

Aber nicht viel.

Nicht schnell genug. Wir wollten auch, dass nicht nur der Verteidigungsetat steigt, sondern ebenso die Entwicklungshilfe. Auch sie dient der Sicherheit und dem Frieden. Man kann nicht allein Geld in den Verteidigungsetat schieben und glauben, dass die Welt dann in Ordnung ist. Wir hatten zum Beispiel nach der Flüchtlings­bewegung 2015 zu Recht entschieden, dass wir den Menschen in Syrien, Jordanien, im Libanon sowie im Jemen und im Sudan direkt helfen.

Ich halte Donald Trump für einen schwierigen Präsidenten
Angela Merkel

Halten Sie den kommenden US-Präsidenten Donald Trump für eine Bedrohung für die Welt?

Ich halte Donald Trump für einen schwierigen Präsidenten, weil er nichts von multilateraler Zusammenarbeit hält. Dennoch glaube ich, dass er sehr klar Kräfte­verhältnisse einschätzen kann. Er muss wissen, dass sich die geostrategische Situation der USA verschlechtert, wenn Europa als ihr Partner ausfällt. Dann wäre China ein viel schärferer Gegner und Wettbewerber für Washington. Das beruhigt mich mit Blick auf Europa ein wenig.

Sie schreiben, nicht allein die Ukraine könne entscheiden, wann der Moment für Frieden gekommen sei, sondern auch ihre Unterstützer. Wo ist die Grenze zu einem „Diktatfrieden“, vor dem Bundeskanzler Olaf Scholz warnt?

Es gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen einem unter allen Partnern diskutierten Friedens­prozess und einem Diktatfrieden, mit dem die Partner die Ukraine unter Druck setzen würden. Das möchte ich unter keinen Umständen. Aber wenn man gemeinsam einen Kampf führt – wie wir ja auch an den Auswirkungen auf unser Leben sehen –, dann müssen wir auch gemeinsam über Lösungen diskutieren.

Zu Ihrer Flüchtlingspolitik. „Wir schaffen das“ – viele Menschen waren durch Ihre Haltung überfordert. Tut Ihnen das leid?

Wir haben viel geschafft, weil so viele Menschen geholfen haben. Doch natürlich weiß ich, dass sich manche überfordert fühlten. Ich konnte mit den Flüchtlingen aber nicht umgehen, wie es Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban getan hat: von einem Zug zum anderen hin- und herjagen. Gegen alle Werte, die wir in Europa untereinander vereinbart haben. Zugleich war mir klar, dass wir nicht jeden Tag 10.000 Flüchtlinge aufnehmen können. Deshalb habe ich mich um das EU-Türkei-Abkommen bemüht.

An einer anderen Stelle im Buch heißt es: „Jeder, der in Deutschland lebt, muss sich zu den Werten unseres Grundgesetzes bekennen.“ Haben Sie genug dafür getan, dass die fast eine Million Flüchtlinge dieses Bekenntnis auch leisten?

Viele haben sich integriert, aber natürlich ist jeder Verstoß von Menschen gegen die Werte des Grundgesetzes ein Beweis dafür, dass dieses Ziel nicht für alle erreicht wurde.

Inwieweit hat mangelnde Integration zu Attentaten von Asylbewerbern wie in Mannheim und Solingen geführt?

Das ist mehr als mangelnde Integration, weil das Kriminelle und Terroristen sind, die andere Menschen umbringen. Wir müssen diesen Terrorismus scharf bekämpfen. Und natürlich denkt man, dass das nicht passiert wäre, wenn die Täter längst aus Deutschland abgeschoben worden wären, nachdem ihr Asylantrag abgelehnt wurde.

Wäre die AfD ohne Ihre Flüchtlingspolitik so stark geworden?

Sie ist auch in diesem Zusammenhang und im Umgang mit meinen Entscheidungen wieder stark geworden. Aber wenn wir unsere Werte wirklich leben wollen, dann müssen wir auch für sie eintreten. Wenn ein Attentäter es schafft, unsere Überzeugungen infrage zu stellen, gibt das nicht den demokratischen Parteien Auftrieb, sondern der AfD.

Wird Ihre Wertebasis nicht auch erschüttert, wenn immer mehr Rechtsradikale in die Parlamente einziehen?

Natürlich, deshalb müssen die demokratischen Parteien beherzigen, dass sie solche Entwicklungen am besten stoppen können, wenn sie sich bemühen, mit Maß und Mitte Probleme wirksam und nachhaltig zu lösen.

Angela Merkel: „Als Kanzlerin bin ich zwar nicht an allem schuld, aber qua Amt für alles verantwortlich“

Während Ihrer Kanzlerschaft hat sich ein Reformstau auf vielen Gebieten ergeben. Warum haben Sie das nicht gesehen?

Als Kanzlerin bin ich zwar nicht an allem schuld, aber qua Amt für alles verantwortlich, das stimmt. Aber manchmal bin ich auch am Föderalismus gescheitert. Ich habe zum Beispiel bei der Digitalisierung so etwas wie einen kollektiven Aufbruchsgeist in der deutschen Verwaltung vermisst. Vieles ist vom Bund aus schwer zu steuern, Kindergeld, Elektro­ladesäulen, Register­modernisierungs­gesetz, Überland­leitungen.

Warum gibt es diesen kollektiven Aufbruchsgeist nicht?

Manchmal denke ich, dass wir Opfer unserer eigenen Qualität sind. Wir waren lange so vorbildlich, dass wir den Erneuerungs­geist nicht hinreichend gespürt haben. Andere Länder wie Estland, die nach dem Austritt aus der Sowjetunion bei null angefangen haben, haben aufgeholt, während wir noch vom Ruhm der Vergangenheit zehrten. Ein Minister­präsident hat einmal zu mir in Bezug auf die Digitalisierung der Grundbuch­ämter gesagt: „Warum soll ich das machen? Dann haben viele Beschäftigte dort keine Arbeit mehr. Die muss ich woanders hinsetzen, und darauf haben die keine Lust.“ Das war ernüchternd.

Viele Menschen im Osten sagen, sie haben das Gefühl, mit Deutschland geht es so bergab wie damals mit der DDR. Können Sie das nachvollziehen?

Ja. Ich kann das in gewisser Weise nachvollziehen. Natürlich leben wir nicht mehr in der DDR mit totaler Misswirtschaft und Diktatur. Aber das jetzige Grundgefühl der Irritation kann ich verstehen. Es ist in den neuen Ländern stärker verankert als in den alten, aber auch dort müssen die Alarmglocken schrillen, dass wir uns anstrengen und uns unseren Wohlstand und unseren Lebens­standard immer wieder neu erarbeiten müssen.

Sie haben die Schulden­bremse eingeführt, warum plädieren Sie jetzt für eine Reform?

Damit wir angesichts der notwendigen Erhöhungen bei den Verteidigungs­ausgaben den sozialen Frieden im Land wahren und dort investieren können, wo wir technologisch hinterherhinken. Wichtig ist eine Reform, die Schulden nur für Investitionen zulässt und nicht für weitere soziale Ausgaben.

Das jetzige Grundgefühl der Irritation kann ich verstehen.
Angela Merkel

Der „Economist“ schreibt, Sie hätten das Land in ein „geopolitisches und wirtschaftliches Nickerchen“ versetzt. Haben Sie lange Entwicklungs­linien nicht im Blick gehabt?

Meine Amtszeit war gepflastert mit aufeinander­folgenden krisenhaften Entwicklungen. Ich habe von einem Nickerchen in den 16 Jahren nichts gespürt.

Was meinen Sie dann, wenn Sie schreiben, es sei Ihnen nicht immer gelungen, Politik im Sinne des „Vorsorge­prinzips“ zu machen?

Ich beschreibe das im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Sie können das aber auch für die Rentenpolitik betrachten, denken Sie an die Mütterrente oder die Rente mit 63. Der Haushalt gab beides her. Da müssen Sie sehr hart sein, um Nein zu sagen. Damit war vollkommen klar, dass wir einen Beschluss fassen, der nicht dem Vorsorge­prinzip oder dem Nachhaltigkeits­prinzip im Sinne der zukünftigen Generationen genügte.

Bei Corona wäre rückblickend die Frage, ob wir Nachsorge brauchen: Welche Lehren müssen aus der Corona-Politik gezogen werden?

Sie sollte nicht nur aus der Perspektive der gesunden Menschen aufgearbeitet werden, sondern auch derer, die unter Long Covid leiden. Vor allem aber sollten wir den Maßstab unseres damaligen Handelns nicht aus den Augen verlieren, bei dem es darum ging, dass wir unser Gesundheits­system nicht überlasten durften, und wir waren nah dran, genau das zu tun.

Merkel will zum Neujahrs­empfang der CDU in NRW kommen

Ihre Nachfolge­regierung ist zerbrochen. Werden Sie nun Wahlkampf für CDU-Chef Friedrich Merz machen?

Ich habe zugesagt, im Januar zum Neujahrs­empfang der CDU in Nordrhein-Westfalen zu kommen. Ich habe es bei meiner Geburtstags­feier öffentlich ausgesprochen: Ich wünsche ihm Erfolg. Ich weiß um die Schwierigkeit der Aufgabe. Ich will ihn ermutigen für diesen jetzt sehr kurzen Wahlkampf. Ich werde aber mit Sicherheit nicht an führender Stelle an ihm teilnehmen.

Sie haben mit Ihrer langjährigen Vertrauten und Büroleiterin Beate Baumann dieses Buch geschrieben, und Sie siezen sich immer noch. Sind Sie Freundinnen?

Beate Baumann: Nein.

Angela Merkel: Frau Baumanns besondere Rolle in meinem Leben ergibt sich daraus, dass sie vielleicht die Einzige ist, die mir immer ihre Meinung unverblümt und aufrecht gesagt hat. Nicht, um einen Vorteil zu haben. Das müssen Sie erst mal finden im politischen Betrieb.

Wie wäre Ihre Kanzlerschaft verlaufen, wenn Frau Baumann nicht da gewesen wäre?

Merkel: Das ist natürlich spekulativ, aber dass ich so lange Kanzlerin war, hat zumindest auch sehr stark mit Frau Baumann und ihrer beständigen Begleitung zu tun.

Baumann: Und was ich schön finde, ist, dass Frau Merkel nie zynisch geworden ist. Das ist nicht selbstverständlich, sondern eine große Leistung.

Frau Merkel, Sie haben immer davon geträumt, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau bis Wladiwostok zu fahren. Werden Sie das noch erleben?

Das sieht schlecht aus.