Als junger Politiker stieg Hendrik Wüst rasant auf und stürzte jäh.
Nach fünf Monaten als Regierungschef in NRW ist die Fallhöhe vor der Landtagswahl im Mai noch größer
Eine Zwischenbilanz
Düsseldorf – Der Krieg in der Ukraine hat alles verändert. Auch für Hendrik Wüst. Knapp zweieinhalb Monate vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen spielen plötzlich landespolitische Themen so gut wie keine Rolle mehr. Die verstörenden, alles beherrschenden Bilder von Putins Angriffskrieg und vom Leid der Menschen in Kiew oder Charkiw – sie drücken auch die bisher in NRW dominierenden Krisenthemen Corona und Schule an den Rand.
Hendrik Wüst weiß um die Macht der Bilder, im Schlechten wie im Guten. Am Tag seiner Wahl zum NRW-Ministerpräsidenten ließ er sich von begeisterten Fotografen vor dem Landtag ablichten, wie er an der Seite von Ehefrau Katharina den Kinderwagen seiner Tochter Philippa schob. Die Botschaft lautete: Von wegen konservativer westfälischer Knochen – hier zeigt sich der neue Landeschef als moderner Familienmensch und Metropolenbewohner.
Mit nur wenigen Anlaufschwierigkeiten fand Wüst sich in den ersten Wochen des neuen Jahres in die Rolle des anpackenden Corona-Krisenmanagers ein. Ähnlich ruckelfrei gibt er nun angesichts des Ukraine-Kriegs mit seinen Folgen den Kümmerer: So dringt Wüst als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) auf Sonderzüge der Bahn, um in Berlin ankommende Geflüchtete schneller auf alle Bundesländer verteilen zu können. Oder er fordert, die Auswirkungen von Putins Krieg zum zentralen Thema des nächsten Bund-Länder-Treffens zu machen. Dringend müsse über die Versorgungssicherheit und die steigenden Energiepreise in Deutschland gesprochen werden – und zwar ohne das Ziel aufzugeben, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen.
Zum Thema Hilfe für die Flüchtenden aus der Ukraine zitiert Hendrik Wüst im Landtag Angela Merkels berühmten Satz: „Wir schaffen das.“ Die drei kurzen Wörter, an denen man sich auch schwer verheben kann, sind Wüst beileibe nicht einfach so rausgerutscht. Er weiß, dass er mit dieser Anleihe maximale Aufmerksamkeit erzielt.
Wüsts Auftreten wirkt immer planvoll, oft wie von langer Hand vorbereitet. Das liegt auch an seiner Ausdrucksweise. Wüst spricht gern langsam, lässt Pausen zwischen den Wörtern. Seine Erklärungen sollen präzise und verständlich sein. Anders als bei Armin Laschet, dessen Reden öfter mal etwas „Erratisches“ gehabt hätten, sagen sie in der CDU.
Die Vorbehalte: Zu wertkonservativ, zu aggressiv
Nicht wenige in der NRW-CDU waren im Herbst 2021 skeptisch, ob Wüst wirklich der Richtige für die erste Reihe sein würde. In der Frauenunion gab es Vorbehalte, der Westfale aus der Provinz sei zu wertkonservativ. Andere wärmten gern die Erinnerungen an Wüsts unselige Rolle bei der Wahlniederlage von Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers im Jahr 2010 auf. Damals zog Wüst als Generalsekretär die NRW-CDU mit einem aggressiven, pannenbehafteten Wahlkampf in einen Abwärtsstrudel.
Knapp fünf Monate nach Wüsts Amtsantritt als Partei- und Regierungschef ist die interne Kritik fast gänzlich verstummt. Wüst mache seinen Job gut, sagen selbst frühere Bedenkenträger in der Landesregierung. Der „Scharfmacher“ von einst habe aus seinen Fehlern gelernt, sein Politikansatz sei gereift, pragmatischer geworden.
Auf den ersten Blick: Eine Laufbahn wie am Schnürchen
Auf den ersten Blick scheint der politische Lauf des 46-Jährigen wie am Schnürchen aufgezogen zu sein. Im Alter von 15 Jahren tritt Wüst in seinem Heimatort Rhede in die Junge Union (JU) ein. Mit 25 wird er JU-Chef in NRW, mit 30 ist er, den Jura-Abschluss in der Tasche, jüngster Landtagsabgeordneter. Im Alter von 31 Jahren macht sein Förderer Rüttgers ihn zum Generalsekretär der Landespartei. Was für ein Aufstieg!
Doch da sind auch die Einschnitte, die Brüche in Wüsts Biografie, die ihn geprägt haben. Seine Mutter starb an Krebs, kurz bevor er Abitur macht. Politisch folgt auf den Höhenflug 2010 der jähe Absturz. Erst eine Affäre um überhöhte Versicherungszuschüsse, die Wüst - wie andere Abgeordnete auch - zurückzahlen musste. Dann wird bekannt, dass ein CDU-Funktionär Sponsoren ohne Wüsts Wissen „Partnerpakete“ inklusive Einzelgespräch mit Rüttgers für 20.000 Euro angeboten hat.
Wüst übernimmt dafür am Ende die Verantwortung und tritt im Februar 2010 zurück. Überschattet wird diese Zeit wiederum familiär vom Tod des Vaters. Mit der Abwahl der Regierung Rüttgers im Mai 2010 zerschlägt sich für Wüst die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr in die Politik.
Seine echte zweite Chance bekommt Wüst von Armin Laschet
Erst 2013 geht es für Wüst nach einem Abstecher als Geschäftsführer des nordrhein-westfälischen Zeitungsverlegerverbands politisch wieder aufwärts: Er wird Landeschef der mächtigen Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Union und gilt wieder als Hoffnungsträger des konservativen Flügels in der CDU/CSU. Seine echte zweite Chance bekommt Wüst jedoch erst durch Laschet, der ihn nach dem Wahlsieg 2017 zum NRW-Verkehrsminister macht. Auch in der Absicht, einen potenziellen parteiinternen Rivalen in die Kabinettsdisziplin einzubinden.
Das Desaster der Union in der Bundestagswahl 2021 – für Wüst wird es zum entscheidenden Kick auf dem Weg nach ganz oben. Als Nachfolger Laschets, der nach seiner verheerenden Niederlage als einfacher Abgeordneter im Bundestag sitzt, regiert Wüst nun das bevölkerungsreichste Bundesland.
Fragt man ihn nach den Ursachen für die Wahlschlappe, vermeidet er eine direkte Schuldzuweisung an seinen Vorgänger. Nach 16 Jahren in der Bundesregierung sei die Union nicht in der Lage gewesen, eine gute Begründung für ihren Verbleib an der Macht zu liefern.
Was nun in der CDU zu tun sei? Da ist Wüst schnell bei seinen Lieblingsthemen: die Situation von Familien verbessern, die Versöhnung von Klimaschutz und Industrie herbeiführen. Ganz in der Tradition des ersten NRW-Ministerpräsidenten Karl Arnold sagt Wüst: „Die CDU muss wieder das soziale Gewissen der deutschen Parteienlandschaft sein.“
Bedürfnis nach Rückbesinnung auf alte Stärken
In seiner Partei trifft er damit offenbar einen Nerv. Auch in der eher liberalen NRW-CDU gibt es starkes Bedürfnis nach Rückbesinnung auf alte Stärken. Wüst gibt sich zwar ähnlich modern wie sein Vorgänger, aber der Fokus ist ein anderer als bei Laschet. Wüst wirbt nicht nur um die Akademiker in den Metropolen, sondern auch um die enttäuschten Stammwähler auf dem Land. Um diese anzusprechen, glauben mittlerweile viele in der Union, sei Wüst genau der Richtige.
Tatsächlich hatte sich Wüst, bevor Putin die Ukraine überfiel, schon eine gute Ausgangsposition für die bevorstehende Wahl im Mai erarbeitet. Im „NRW-Check“, einer Umfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und 38 weiterer nordrhein-westfälischer Tageszeitungen, verbesserte sich die CDU in der Sonntagsfrage von 27 Prozent im Dezember auf 29 Prozent im Februar. Wüsts überholte damit die SPD, die noch Ende Oktober, also kurz nach Laschets Niederlage im Bund, bei 31 Prozent gelegen und mit einem Neun-Punkte-Vorsprung schon wie die sichere Siegerin der Landtagswahl ausgesehen hatte.
An Wahlkampf mag gerade niemand denken
Jetzt ist Krieg in Europa. An Wahlkampf in NRW mag derzeit kaum jemand denken. Noch ist nicht im Detail messbar, wie sich das Kriegsgeschehen auf die Umfragewerte auswirkt. Da Krisensituationen grundsätzlich eher die Stunde der Exekutive sind, wäre eine negative Entwicklung für Wüst allerdings eher überraschend.
Fakt ist aber auch, dass das Rennen längst noch nicht gelaufen ist. Auch Wüsts Herausforderer, der SPD-Kandidat Thomas Kutschaty, konnte im „NRW-Check“ vom Februar seine Beliebtheitswerte leicht steigern. Was noch schwerer wiegt: Die amtierende schwarz-gelbe Regierung hat laut den Umfragen derzeit keine Mehrheit mehr. Ein möglicher Vorteil für Kutschaty, der – sollte es für Rot-Grün allein ebenfalls nicht reichen - mit Rückenwind aus Berlin eine Ampel anstreben könnte.
Wüsts Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel
Und noch eine Gratwanderung kann für Wüst in den verbleibenden neun Wochen bis zur Wahl gefährlich werden: An Rhein und Ruhr tritt er als besonnener Landesvater auf. In Berlin jedoch erwartet seine Partei von ihm, dass er attackiert. In NRW regiert Schwarz-Gelb, ein Bündnis, das Wüst auch nach dem 15. Mai gerne fortsetzen will. Gleichzeitig soll er als Chef des bedeutendsten CDU-Landesverbands das Profil seiner Partei im Bund mit Angriffen auf die Ampelparteien inklusive der Liberalen schärfen. Wüst muss höllisch aufpassen, dass er in dieser Konstellation nicht seine Glaubwürdigkeit beschädigt.
In einem neuen Imagefilm wirbt Wüst gezielt mit seiner Herkunft aus der Kleinstadt Rhede im Münsterland. Dort sieht man ihn in Freizeitkluft beim Bäcker oder an der Seite des Trainers seines früheren Handballvereins. Sein Ziel sei es, die Heimat zu bewahren und Kindern und Familien eine gute Zukunft zu ermöglichen. „Seitdem ich im letzten Jahr Vater geworden bin, ist mir dieses Thema noch viel näher“, sagt Wüst. „Ich möchte meiner Tochter eine Welt hinterlassen, in der Klimaschutz, Wohlstand und soziale Sicherheit miteinander versöhnt sind. Wenn ich die Kleine anschaue, motiviert mich das, jeden Tag alles zu geben.“
Zumindest an der CDU-Basis kommt Wüst mit diesem Hang zu emotionalem Storytelling gut an. Bei seiner Wahl zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl erhielt er in der Landesvertreterversammlung in Essen 99,1 Prozent der Stimmen, so viele wie kein Bewerber seit dem Jahr 2000.
Wüst mimt den entschlossenen Macher
Wüst will diesmal - anders als in seiner Rolle als Generalsekretär 2010 - keine aggressive Wahlschlacht führen. Mit Michael Breuer hat er einen früheren Vertrauten zum Chef seines Wahlkampfteams gemacht.In seiner Kampagne für den Landtagswahlkampf lässt Breuer Wüst als entschlossenen Macher auftreten. O-Ton Wüst im Werbefilm: „Seit meiner Jugend habe ich Handball gespielt. Da kommt es vor allem auf Teamgeist und Schnelligkeit an. Du musst dich auch mal durchsetzen können, Herausforderungen annehmen, Hindernisse überwinden und auch mal den unbequemen Weg gehen.“ Im Film springt Wüst bei diesen Worten, sein Sportrad geschultert, über einen Wassergraben. Die Macht der Bilder.
Jenseits dieser etwas bemühten, aber auch geschickten Inszenierung ist Wüst auch ein kühler Mechaniker der Macht. Anders als der oft joviale Rheinländer Laschet, überlässt der nüchterne Westfale auch die Details nicht dem Zufall, ist stets penibel vorbereitet, bis zur Wortwahl in Interviews.
Dazu passt, dass Wüst sich in der Pandemie beim „Team Vorsicht“ eingereiht hat. Mit Corona gewinne man keine Beliebtheitspreise. Da ist sich Wüst sicher. Und der größte Fehler sei es, die Leute mit einem Zickzack-Kurs „wuschig zu machen“. Es braucht nicht viel Dechiffrierungskunst, um das als Lernerfahrung aus Laschets Corona-Politik zu deuten. Freilich kann sein Nachfolger auch von Glück sagen, dass er als Ministerpräsident erst in einer späten Phase der Pandemie das Ruder übernommen hat.
Wüst gibt sich betont selbstbewusst
Apropos glückliche Fügungen: Der Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz, der ihm turnusmäßig mit Amtsbeginn zufiel, ist für Wüst von unschätzbarem Wert. Diese Funktion habe er „geschickt genutzt“, um sich in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, sagt der Kölner Politik-Professor Thomas Jäger. Wüsts Rolle als MPK-Chef sei „Chance und Risiko zugleich“, gibt Volker Kronenberg, Politik-Professor an der Uni Bonn, zu bedenken. „Einerseits darf Wüst nicht allzu markante Positionen einnehmen. Andererseits hat er nur ein extrem schmales Zeitfenster, um sich bekannt machen und profilieren zu können.“
Als MPK-Chef gibt sich Wüst betont selbstbewusst. Damit zog er bereits den Unmut von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf sich. Der soll nach dem Treffen der Regierungschefs und -chefinnen im Januar laut „Spiegel“ gespottet haben, der Laschet-Nachfolger in NRW sei ein „Amateur im Ministerpräsidenten-Kostüm“. Ein Angriff des politischen Gegners, der Wüst in seiner Wählerklientel eher genutzt als geschadet haben dürfte.
Sollte es nach der Landtagswahl für ein Zweierbündnis mit Grünen oder FDP nicht reichen, muss Wüst alles auf ein Jamaika-Bündnis setzen. „Wir sind in NRW nicht die verlängerte Werkbank von Berlin“, darin sei man sich mit den Liberalen im Land einig, betont Wüst.
Schwarz-grün-gelb als Gegenmodell zu Berlin
Der Bonner Politologe Volker Kronenberg hält ein schwarz-grün-gelbes Bündnis im Land als Gegenmodell zum Bund „nicht für ausgeschlossen. Vertrauen zwischen CDU und FDP, insbesondere bei den Spitzenakteuren, gibt es ist seit Jahren. Auch zu den Grünen habe die CDU schon seit Rüttgers‘ Zeiten stabile Gesprächskanäle gelegt, die bis heute intakt sind“.
Wohl kaum ein Politiker, der so früh wie Wüst gestrauchelt ist, hat es bei der zweiten Chance so schnell an die Macht geschafft. Entsprechend groß ist jetzt auch die Fallhöhe: Gewinnt Wüst die Landtagswahl im Mai, gehört er nicht nur endgültig zur ersten Riege in seiner Partei, sondern katapultiert sich „ohne Zweifel in eine Kronprinzenrolle“, so Kronenberg. Womöglich, mutmaßte bereits die „FAZ“, gäbe es nach einem Wahlsieg schnell erste Stimmen in der Partei, die sich Wüst als nächsten Kanzlerkandidaten wünschen - statt des zwanzig Jahre älteren Partei- und Fraktionschefs Friedrich Merz.
Verliert Wüst hingegen im Mai die Wahl und sein Amt, schlägt er hart auf dem Boden der Landespolitik auf. Der Hoffnungsträger wäre entzaubert. Gescheitert – zum zweiten Mal.