Köln – Für den deutschen Anwalt des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny, Nikolaos Gazeas, ist das Urteil über den jüngsten Strafprozess gegen seinen Mandanten, der am Dienstag in Moskau mit einem Schuldspruch endete, glasklar.
„Dass es ein reiner Schauprozess ist, der da stattfindet, wussten wir von Beginn an. Nun haben wir einen weiteren eindeutigen und belastbaren Beweis dafür“, sagt der Kölner Rechtsanwalt und Strafverteidiger. „Was in Putins Willkürstaat inzwischen geschieht, ist grotesk und schockierend zugleich.“
Richterin in der Vorwoche von Putin befördert
Der Beweis, von dem Gazeas spricht, ist eine am Dienstag in Russland veröffentlichte Erklärung des Belastungszeugen Fjodor Gorozhanko. Der ehemalige Mitarbeiter der 2011 von Nawalny gegründeten „Stiftung für Korruptionsbekämpfung“ (FBK) trat im Prozess um angebliche Veruntreuung von Geldern für die FBK und wegen Beleidigung einer Richterin in einem früheren Verfahren auf.
Richterin Margarita Kotowa, von Präsident Wladimir Putin noch vorige Woche befördert, verurteilte den 45 Jahre alten Nawalny zu insgesamt neun Jahren Straflager mit besonders harten Haftbedingungen. Nawalnys Unterstützer-Team sprach von einer Fernsteuerung durch den Kreml und präsentierte Mobilfunkdaten, die Telefonate Kotowas mit der Präsidialverwaltung in den Verhandlungstagen belegen sollen.
„Belastungszeuge“ hat Russland inzwischen verlassen
Gorozhanko, der Russland inzwischen verlassen hat und die Anklage gegen Nawalny im Nachgang als „absurd“ bezeichnet, wurde vor seiner Zeugenaussage offenbar massiv unter Druck gesetzt. Der Youtube-Kanal „Popular Politics“ veröffentlichte ein Interview mit Gorozhanko sowie Ausschnitte aus Telefonaten und heimlich aufgezeichneten Vorgesprächen mit den Ermittlern am Tag vor der Aussage im Prozess.
Man müsse sich treffen und ihm einen Teil der Anklageschrift zeigen, in der seine Aussage zusammengefasst wiedergegeben sei, „damit du sie lesen, auswendig lernen und genau dieselbe Aussage – nicht das, wozu ich dich damals auf den 20 Scheißseiten vernommen habe, sondern diese, sagen wir mal »kurze Zusammenfassung« – vor Gericht wiedergeben kannst“, sagte Ermittler Alexander Kemerow zu Gorozhanko und forderte ihn zu Wohlverhalten auf. „Fjodor, ich habe nicht vor, dir Angst einzujagen, du bist ein kleiner Junge. Aber ich erkläre es dir ganz einfach. Was willst du sein? Ein guter Zeuge bleiben oder bis zum Schluss auf die Barrikaden gehen?“ Gorozhanko könne nicht auf zwei Stühlen sitzen. „Entweder spielst du für scheiß Weiß oder für Schwarz.“
Aussage rollenspielmäßig einstudiert
Seine Aussage vor Gericht habe er dann rollenspielmäßig einstudieren müssen. Die Ermittler wiesen Gorozhanko auch an, dass er sich bei Fragen Nawalnys und seiner Anwälte in der laufenden Verhandlung jeweils an die Richterin wenden solle: „Euer Ehren, soll ich diese Frage beantworten?“ Die Richterin werde dann „alle Fragen zurückziehen, die nicht mit dem Fall zu tun haben“.
Vor der Verhandlung sprach Roman Widjukow, Ermittler für besonders wichtige Fälle, unverhohlene Drohungen gegen Gorozhanko wegen dessen Tätigkeit für Nawalnys Stiftung FBK aus. „Sie haben in einer extremistischen Gemeinschaft gearbeitet. Und ich muss mich entscheiden: Entweder sind Sie Mitglied einer extremistischen Gemeinschaft, also ein Teilnehmer, und Sie machen sich sofort strafbar, und zwar mit bis zu acht Jahren Gefängnis, oder Sie sind eine Person, die mitgearbeitet hat, aber nicht gemerkt hat und nicht versteht, was vor sich geht …“ Richterin Kotowa wertete Gorozhankos offenbar manipulierte Aussage in ihrer Urteilsbegründung als „entscheidend“.
Kölner Anwalt Gazeas: Politische Verfolgung in Reinform
Die späteren Schilderungen des „Belastungszeugen“ belegten „die politische Verfolgung Alexej Nawalnys in Reinform“, sagt sein deutscher Anwalt Gazeas. Der Jurist, der auch an der Kölner Universität lehrt, vertritt Nawalny seit 2020. Damals hatte Nawalny einen Mordanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok nur knapp überlebt und sich in Deutschland davon erholt.
Ursprünglich mandatierte Nawalny Gazeas wegen russischer Rechtshilfeersuchen an Deutschland. Nawalny sollte in Berlin zu seiner Vergiftung als Zeuge vernommen werden. „Aus diesem Mandat ist leider eine menschenrechtliche Angelegenheit geworden“, so Gazeas.
Seine Aufgabe bestehe nun auch darin, sich bei der Bundesregierung und Regierungen anderer Staaten, bei Organisationen wie dem Europarat und bei Stellen in der EU dafür mit der Forderung nach einer Freilassung Nawalnys einzusetzen. Dies müsse auf höchster politischer und diplomatischer Ebene gegenüber Russland immer wieder zur Sprache gebracht werden.
Nawalny seit 2021 im Straflager
Der Prozess gegen Nawalny, den wohl bekanntesten Gegner Putins in Russland, fand im Straflager Pokrow statt, rund 100 Kilometer von Moskau entfernt. Dort sitzt Nawalny seit 2021 ein. Unmittelbar nach seiner freiwilligen Rückkehr nach Moskau im Januar 2021 war er noch am Flughafen festgenommen worden. Die russische Justiz legte ihm unter anderem zur Last, während seiner Genesung in Deutschland gegen Meldeauflagen in Russland verstoßen zu haben. Ein Gericht wandelte eine Bewährungsstrafe aus einer früheren Verurteilung in Straflager-Haft um. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte dieses Urteil für menschenrechtswidrig.
Den jüngsten Prozess und seinen Ausgang bezeichnete Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch als weiteren Versuch, Nawalny mundtot zu machen. „Erst hat Putin versucht, Alexej zu töten. Und als das scheiterte, hat er entschieden, ihn für immer im Gefängnis zu halten.“ Präsident Putin indes weist jede Beteiligung am Giftanschlag auf Nawalny zurück. Die EU verhängte wegen des Attentats Sanktionen gegen Russland.