Aus Sicht der Opfer muss die juristische Bilanz knapp ein Jahr nach den Exzessen der Kölner Silvesternacht beschämen. 1205 Strafanzeigen wurden insgesamt erstattet. Von den 509 Anzeigen wegen sexueller Delikte wurden bislang nur drei vor Gericht geahndet. Das sind weniger als 0,6 Prozent. Zwei Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt, eine Freiheitsstrafe wegen sexueller Nötigung und Raub verhängt. Gleich darunter beginnt das Nichts.
Die Statistik wird zum Mahnmal für Staatsversagen in Gestalt überforderter Polizisten, Einsatzleitungen und politischer Führung. Jeden gesetzestreuen Bürger muss bei solchen Zahlen das ungute Gefühl beschleichen, dass sich die Gewichte bei der Wahrung von Recht und Ordnung zu seinen Ungunsten verschoben haben.
Schon geringste Verstöße werden geahndet
Während auf der einen Seite schon geringste Verstöße gegen das Melderecht oder die Straßenverkehrsordnung umgehend und konsequent geahndet werden, bleiben brutalste Gewalt und dreiste Attacken gegen die sexuelle Integrität von Frauen strafrechtlich offenbar so gut wie folgenlos. Einerseits legt sich ein fein gesponnenes Regelwerk wie ein Fangnetz über unseren Alltag. Andererseits wird ein Mantel des Schweigens und Verdrängens über Bereiche gebreitet, in denen der Rechtsstaat längst abwesend zu sein scheint.
Ob es bestimmte Viertel unserer Großstädte sind, die Ringe des Nachts oder gar - im Herzen Kölns, wie in jener Nacht zumindest - das Dom-Umfeld: Das Gesetz der Straße gilt, nicht das des Staates. Die Regeln setzen andere. Ungestraft.
Gesellschaft gerät aus den Fugen
Dieses absurd anmutende Nebeneinander, diese kaum fassbare Ungleichzeitigkeit ist Ausdruck von Spannungen, die unsere Gesellschaft immer weniger durch Elastizität und Flexibilität ausgleichen kann. Die juristische Bilanz der Silvesternacht macht die Gefahr deutlich, dass unser Land aus den Fugen gerät, auseinanderfällt. Nicht allein, weil die Feinde der offenen Gesellschaft immer aggressiver gegen die Verteidiger auftreten. Sondern weil die Teile der Gesellschaft insgesamt wie tektonische Platten sind. Sie verschieben sich gegeneinander und erzeugen Reibungen, die am Ende die Erde beben lassen.
Ist es mit Blick auf die Aufklärung und Ahndung der Gewaltexzesse in der Silvesternacht ein Trost, dass der Rechtsstaat niemanden nach dem Augenschein aburteilt, auf bloßen Verdacht hin oder rein um des Exempels willen? Gewiss, das Grundvertrauen auf solche Prinzipien und ihre Geltung ist ein hohes Gut. Verspielt wird es jedoch auch dann, wenn der Staat einerseits als Überregulierer wütet, seine Bürger aber andererseits in Schlüsselmomenten der Bedrohung alleinlässt.
Die Silvesternacht hat Lehren nach sich gezogen - für die Gesellschaft, für die Politik, für die Medien. Auch die Überzeichnung ist ein Zeichen unserer Zeit. Dieses Land war nie im vermeintlichen Überschwang einer "Willkommenskultur". Wohl aber waren viele Bürger und Journalisten von dem bisweilen naiv anmutenden Wunsch beseelt, Menschen in Not zu helfen.
Die Kölner Silvesternacht hat Ernüchterung und neue Erkenntnisse gebracht. Vor allem, dass die Gewalt Ursachen hat, die in der Herkunft der Täter zu suchen sind, in ihrer Erziehung, ihren Wertvorstellungen, ihrem Selbstverständnis, ihrem Männer- und Frauenbild, ihrem Begriff von Religion.
Lichtinstallation am Kölner Dom wird nicht helfen
Führte das alles nicht nur zu scharfsinnigen Analysen; sondern auch zu Konsequenzen; würde der Staat den Tätern entschlossener begegnen und ihnen strikter Grenzen setzen - dann wären die Opfer der Silvesternacht noch nicht von ihren Traumata befreit. Aber sie könnten sich zumindest sagen: Es ist nicht vergessen und war nicht vergebens, was wir erlitten haben. Doch um - vielleicht - an diesen Punkt zu gelangen, braucht es mehr als eine bunte Lichtinstallation zu Silvester am Dom.
Ob es bestimmte Stadtviertel sind, die Ringe des Nachts oder gar dasDomumfeld: Es gilt das Gesetz der Straße, nicht des Staates. Die Regeln setzen andere. Ungestraft.