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Neue Videos zeigen verheerenden Vorfall„Keine Skrupel“ – Moskau nutzt tote Kinder für perfide Propaganda

Lesezeit 4 Minuten
Überbleibsel einer hastigen Flucht: Ein Sonnenschirm liegt an einem Strand nahe der Krim-Hauptstadt Sewastopol. Russland nutzt einen ukrainischen ATACMS-Angriff nun für seine Propaganda.

Überbleibsel einer hastigen Flucht: Ein Sonnenschirm liegt an einem Strand nahe der Krim-Hauptstadt Sewastopol. Russland nutzt einen ukrainischen ATACMS-Angriff für Propaganda.

Russland schießt eine US-Rakete über einem Badestrand ab, auch Kinder sterben. In Moskau nutzt man den Vorfall für eigene Zwecke.

Nach ukrainischen Angriffen mit US-Raketen auf russische Stellungen auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim hat Moskau mit wütenden Worten reagiert und sowohl der Ukraine als auch den USA mit „Vergeltung“ gedroht. Moskau versucht zudem vehement, die legitimen Angriffe der Ukraine mit den fast zeitgleichen Terroranschlägen in der russischen Teilrepublik Dagestan in Verbindung zu bringen.

Von einer „unmittelbaren Beteiligung der USA an Kampfhandlungen“, war bei Kremlsprecher Dmitri Peskow die Rede. Moskau wisse genau, wer hinter der „barbarischen Attacke“ stecke. Es seien nicht die Ukrainer, die solch technisch komplizierte Raketen steuerten, behauptete Peskow.

Russland droht USA nach ATACMS-Attacke auf Krim mit „Vergeltung“

Konkrete Folgen für die USA wollte der Kremlsprecher nicht benennen. Kurz darauf bestellte Moskau die amerikanische Botschafterin ein. Der US-Diplomatin sei mitgeteilt worden, die USA seien nun „de facto zur Konfliktpartei geworden“.

Eine US-Rakete des Typs ATACMS beim Start. Die Ukraine verfügt über die weitreichenden amerikanischen Geschosse. (Archivbild)

Eine US-Rakete des Typs ATACMS beim Start. Die Ukraine verfügt über die weitreichenden amerikanischen Geschosse. (Archivbild)

Russische „Vergeltungsmaßnahmen“ würden deshalb „definitiv“ folgen, versicherte das russische Außenministerium. Russlands Präsident Wladimir Putin werde sich nicht persönlich äußern, erklärte Peskow derweil – und warf dabei den Terror von Dagestan und den ukrainischen Angriff in einen Topf.

Kreml konstruiert Verbindung zwischen Krim-Angriff und Dagestan-Terror

„Der Präsident hat tiefes Mitgefühl mit allen“, erklärte Peskow. Sowohl mit „denen, die ihre Lieben auf der Krim verloren“ hätten, also auch mit „den Verwandten und Freunden der in Dagestan Getöteten“, hieß es weiter. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen könne nicht ausgeschlossen werden, behauptete Peskow. Es sei die Aufgabe der Ermittlungsbehörden, „Schlussfolgerungen zu ziehen“, so der Kremlsprecher.

Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin ging noch weiter und behauptete, für den Raketenangriff auf der Krim und den Terrorakt in Dagestan seien möglicherweise „die gleichen Auftraggeber“ verantwortlich. Für derartige Mutmaßungen spricht bisher jedoch nichts.

Krim: Keine Anhaltspunkte für gezielten Beschuss von Strand

Bei dem ukrainischen Angriff, bei dem nach bisherigen Erkenntnissen US-Raketen vom Typ ATACMS zum Einsatz gekommen waren, hatte es nach russischen Angaben am Sonntag rund um die Krim-Hauptstadt mehrere Tote und viele Verletzte gegeben, darunter auch einige Kinder.

Insbesondere ein mit Luftabwehrsystemen gesäumter Strand nahe dem Militärflugplatz Belbek sei von Streumunition getroffen worden, beklagten russische Beamte. Moskau bezeichnete den Angriff als „Terrorakt“ und insistierte damit eine bewusste Attacke auf Zivilisten.

Moskau räumt Schuld für Tote und Verletzte an Krim-Strand ein

Allerdings hatte das russische Verteidigungsministerium bereits in seinen ersten Angaben eingeräumt, dass die russische Flugabwehr die verheerende Situation selbst herbeigeführt hat. Von fünf ukrainischen Raketen seien vier abgefangen worden, hieß es aus Moskau. Eine weitere sei „beeinflusst von den Aktionen der Flugabwehr, von ihrem Kurs abgekommen und über dem Gebiet der Stadt explodiert“.

Mittlerweile scheinen auch in Russland veröffentlichte Videos diese Angaben – und den Einsatz von Streumunition – zu stützen. Dort ist zu sehen, wie Submunition auf den Strand niedergeht, die meisten der kleinen Bomben landeten zum Glück für die Badegäste im Meer. Zuvor sind auf den Videos Knallgeräusche zu hören, was einen Einsatz der russischen Luftabwehr plausibel erscheinen lässt. Unabhängig bestätigen lasen sich die Aufnahmen derzeit jedoch nicht.

USA: Ausschließlich Moskau für tote Zivilisten im Krieg verantwortlich

Auch in den USA ist man jedoch zu diesem Schluss gekommen: Ein US-Beamter erklärte der Nachrichtenagentur Reuters gegenüber, den russischen Streitkräften sei es gelungen, eine der ATACMS-Raketen abzufangen, die dabei jedoch explodiert sei. Daraufhin sei die Submunition auf den Strand niedergegangen.

Ein russischer Junge steht vor einem provisorischen Denkmal in Sewastopol. Bisher gibt es keinerlei Anzeichen für einen gezielten ukrainischen Beschuss des Strandes auf der Krim.

Ein russischer Junge steht vor einem provisorischen Denkmal in Sewastopol. Bisher gibt es keinerlei Anzeichen für einen gezielten ukrainischen Beschuss des Strandes auf der Krim.

Die USA erinnerten unterdessen daran, dass Russland die alleinige Verantwortung dafür trägt, dass die Krim zum Kriegsgebiet geworden ist. „Russland könnte den Krieg und das Leiden heute beenden“, erklärte ein Sprecher des US-Außenministeriums. Die amerikanischen Waffen seien geliefert worden, damit die Ukraine ihr „souveränes Territorium“ verteidigen könne, dazu gehöre „natürlich auch die Krim“.

Propaganda aus Moskau: Putins Kampagnen laufen auf Hochtouren

Der Desinformationskampagne des Kremls tut das aber offenbar keinen Abbruch. In sozialen Netzwerken kursierten zahlreiche in schrillen Worten formulierte Beiträge, die fälschlicherweise von einem bewussten ukrainischen Angriff auf „friedliche russische Zivilisten“ berichteten.

Das russische Oppositionsportal „Verstka“ erklärte derweil, dass prorussische Bots in der Plattform VKontakte über 1.400 Kommentare hinterlassen hätten, in denen behauptet werde, die USA und die Ukraine hätten den jüngsten Terroranschlag in Dagestan organisiert.

ATACMS-Angriff auf der Krim: „Informationsoperation des Kremls“

Dieses Vorgehen entspreche der Informationspolitik des Kremls hinsichtlich des Angriffs auf Sewastopol, erklärten die Analysten des amerikanischen Instituts für Kriegsstudien, es handele sich um eine „unsinnige Informationsoperation des Kremls, die diese beiden Ereignisse miteinander in Verbindung bringt“, so die US-Analysten.

Die Widersprüche, die in der Kreml-Kommunikation im aktuellen Fall als auch in der Vergangenheit offensichtlich werden, nehme Russland bei seiner Propaganda in Kauf, hatte zudem der Historiker Matthäus Wehowski kürzlich im Gespräch mit dieser Zeitung zu russischen Desinformationskampagnen erklärt.

Widersprüchliche Propaganda aus Moskau: „Die haben da keine Skrupel“

„Das ist denen völlig gleich. Die haben da auch keine Skrupel oder kein Schamgefühl“, führte der Russland-Experte aus – und warnte: „Die russischen Desinformations- und Troll-Kampagnen in den sozialen Netzwerken laufen weiter.“ Nun offensichtlich auch im Fall des in jeder Hinsicht legitimen Angriffs auf militärische Ziele auf der Krim.

Am Ende bleibt jedoch die Erkenntnis: Hätte Russland die Rakete früher abgefangen oder sie passieren lassen und damit das Leben von Zivilisten für schützenswerter erachtet als ein militärisches Ziel, hätte es wohl gar keine zivilen Opfer gegeben. Und erst recht würde es keine toten Zivilisten geben, wenn Moskau aus der Krim gar nicht erst ein Kriegsgebiet gemacht hätte.