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Missbrauchsfall Priester Ue.Lichtgestalt und Serientäter

Lesezeit 6 Minuten
Hans Ue vor dem Urteil

Der als Serientäter verurteilte Priester Hans Ue. vor dem Kölner Landgericht

  1. Der Priester und Serientäter Hans Ue. wurde im Februar 2022 vom Landgericht Köln wegen Missbrauchs zu zwölf Jahren Haft verurteilt.
  2. Seine Opfer fand er unter anderem in der Katholischen jungen Gemeinde (KjG) in Gummersbach.
  3. Betroffene und die heutige Verbandsleitung erheben nun schwere Vorwürfe gegen Kardinal Rainer Woelki und das Erzbistum Köln.

Köln – Was der Missbrauchsfall Ue. in ihm ausgelöst hat, fasst Marius Gipperich in ein drastisches Bild: „Das Kirchengebäude meiner Kindheit und Jugend ist wie ein Kartenhaus zusammengebrochen.“ Der heute 29 Jahre alte Ingenieur war viele Jahre Mitglied der „Katholischen jungen Gemeinde“ (KjG) in Gummersbach, wo der Seriensexualstraftäter Hans Ue. von 1985 bis 1993 als Pfarrer und Jugendseelsorger wirkte und auch danach bis 2002 wohnte.

„Ohne ihn“, sagt Gipperich, „wäre meine Jugend ganz anders verlaufen, und auch mein Verhältnis zur Kirche wäre ein völlig anderes gewesen. Mein Glaube wurde mir wesentlich von Hans Ue. vermittelt.“

Das dunkle Doppelleben dieser Lichtgestalt habe ans Fundament seines Glaubens gerührt, sagt Gipperich. „Als ich von den Missbrauchsvorwürfen hörte, fühlte ich mich von Ue. total verarscht, und ich habe mich gefragt: Kann ich jetzt überhaupt noch glauben?“

Vom Pfarrer eingecremt

Ähnlich wie Gipperich ging es der fast gleichaltrigen Natalie Jauch. Auch sie beschreibt sie Hans Ue. als charismatische Persönlichkeit. „Er war eine superprägende Figur für mich. Er hat mir über die Jahre Werte und Normen vermittelt.“ Doch Jauch erfuhr als Kind in der Gummersbacher KjG auch sexuelle Übergriffe durch Ue., die sie freilich erst sehr viel später als solche erkannte.

Eincremen nach dem wöchentlichen Schwimmen mit Ue. im Freibad zum Beispiel, „auch an Stellen, die das nicht gebraucht hätten“, erzählt Jauch. „Ich war neun und habe mich damals nur gefragt: Warum macht er das jetzt? Ich bin doch schon groß und kann das selber.“ Aber – „das war doch unser Hans“.

Von der Gemeinde vergöttert

Wie Marius Gipperich und viele andere Kinder aus der Gemeinde habe sie Ue. regelrecht vergöttert. „Er hat bei uns die Jugendarbeit überhaupt erst auf die Beine gestellt“, sagt Gipperich. „Wir hätten ihn am liebsten auf Händen getragen oder in jeder Messe auf einen Thron gesetzt. So hoch angesehen war er.“

Dass Natalie Jauchs Mutter ebenso wenig Verdacht schöpfte wie die meisten in der Gemeinde, führt die heute 31-Jährige auf diese Reputation zurück. „Man musste ihn erlebt haben. Keiner hätte gedacht, dass da irgendwas passiert. Deswegen haben auch meine Eltern mich jeden Freitag mit ihm Schwimmen gehen gelassen.“

Nur wenige fanden, Ue. gehe zu weit

Merkwürdig sei das schon gewesen, sinniert Gipperich, „dass da immer kleine Mädchen auf seinem Schoß saßen oder sogar im Pfarrhaus übernachteten“. Aber das Störungsgefühl sei erst im Nachhinein aufgekommen, seinerzeit nicht. „Nähe ist ja erstmal nichts Schlimmes.“

Nur einige wenige fanden, Ue. gehe zu weit. „Ich kenne Leute, die mit ihm befreundet waren und ihm das persönlich gesagt haben. Zu denen hat er einfach den Kontakt abgebrochen“, erzählt Natalie Jauch. „Vielleicht hätten die weiterbohren müssen. Aber ich glaube, das kann niemand begreifen, der den Hans Ue. von damals nicht gekannt hat.“

„Es widert mich an“

Erst als die Vorwürfe gegen Ue. 2020 öffentlich wurden, habe sie begonnen, auch ihre eigenen Erfahrungen in anderem Licht zu betrachten, erzählt Jauch. „Okay, jetzt finde ich das ekelig. Es widert mich an, dass er in mir nicht ein Kind aus der Pfarrgemeinde gesehen hat, dem er als Pfarrer etwas Gutes tut. Dass er Zeit mit mir verbrachte, geschah nicht aus Nächstenliebe oder Sympathie, sondern zu seiner sexuellen Befriedigung.

Ob das im Schwimmbad war, wo er mich im Whirlpool auf den Strudel gesetzt hat, weil das so schöne Gefühle macht, oder in der Beichte, wo er mir bei heruntergelassenem Rollo auf dem Sofa sitzend die Oberschenkel getätschelt hat. Jedes Mal wird er gedacht haben, ‚ist das geil‘. Daran habe ich bis heute zu kauen.“

Zeuginnenaussage vor Gericht

Im Prozess gegen Ue. vor dem Kölner Landgericht sagte Jauch als Zeugin aus. Das Angebot von Richter Kaufmann, in die Nebenklage einzutreten, lehnte die Ergotherapeutin ab. „Wenn ich daran denke, was anderen durch Hans Ue. Schlimmes passiert ist, wäre es mir nicht richtig vorgekommen.

Irgendwie sehe ich mich mit denen nicht auf einer Stufe. Mir war es aber wichtig, dass meine Geschichte als ein Puzzleteil ins Gesamtbild eingeht. Dazu gehört auch, wie er uns getäuscht hat und seine Position als Priester ausgenutzt hat, um an uns Kinder heranzukommen. Das wollte ich vor Gericht vortragen.“

Geistlicher Missbrauch

Ausnutzung der priesterlichen Rolle – KjG-Diözesanleiterin Ina Neumann nennt das geistlichen Missbrauch. „Das kann eine schwere Erschütterung für den eigenen Glauben sein. Dazu kommt das traumatische Wissen, dass eigene Freundinnen oder Bekannte aus der kirchlichen Jugendarbeit Opfer sexualisierter Gewalt wurden“, sagt Neumann.

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Philipp Büscher, Ina Neumann, Natalie Jauch und Marius Gipperich (von links), Katholische junge Gemeinde (KjG)

Als Marius Gipperich 2020 den Kontakt zur Verbandsleitung sucht, ist auch der damalige geistliche Leiter Philipp Büscher sofort alarmiert. Er will umgehend eine interne Aufarbeitung in Gang setzen. „Mir war klar: Es gibt Menschen in der KjG, die jetzt unsere Unterstützung brauchen.“ Büscher denkt an Begleitung für alle, die möglicherweise auch unter Ue. gelitten oder sich von ihm verraten fühlen. Er wendet sich hilfesuchend an das Erzbistum (hier lesen Sie mehr). Doch dort versanden alle seine Bemühungen.

Von Woelkis Versprechen nichts gemerkt

Zwar erklärte Kardinal Rainer Woelki noch im März 2021 vollmundig, künftig müsse stets „die Perspektive der Betroffenen handlungsleitend sein“. Er bat um Kontaktaufnahme, bot persönliche Gespräche an und versprach, er werde „alles versuchen zu tun, damit die Kirche besser wird“.

Doch irgendetwas davon gemerkt „haben wir hier nicht“, sagt Ina Neumann. „Wir hätten uns gewünscht, dass sich auch mal jemand für uns interessiert, die wir passiv oder sekundär mitbetroffen waren“, sagt Gipperich. Die Nachrichten im Prozessverlauf von immer neuen Opferzeuginnen hätten auch ihn erschüttert. „Ich dachte jedes Mal, bitte nicht noch mehr!“ Spätestens seit Prozessbeginn, so Ina Neumann, liefen speziell bei den weiblichen KjG-Mitgliedern von damals im Kopf: ‚Wer von uns war noch betroffen?‘“

Betroffene wird selbst aktiv

Nach einem Gemeindeabend in Gummersbach ergreift Natalie Jauch schließlich selbst die Initiative, gründet eine Whatsapp-Gruppe. Mehr als 30 ehemalige KjGlerinnen und KjGler treten ihr bei. Mit Blick auf die flankierenden Bemühungen der heutigen Verbandsleitung sagt sie: „Die einzigen, die überhaupt versucht haben, etwas zu machen, wurden vom Erzbistum komplett im Regen stehen gelassen. Ich habe gedacht: Das kann doch nicht sein. Wenn ihr vom Bistum schon nicht helfen wollt, dann sorgt doch wenigstens dafür, dass diejenigen, die helfen wollen, auch helfen können.“

Am Ende wendet sich die KjG an Ursula Enders, die Leiterin der Kontakt- und Informationsstelle „Zartbitter“ in Köln. An einem Abend im Mai treffen sich ehemalige KjG-Mitglieder und Jugendleiter mit ihr in Gummersbach. Es ist der erste Austausch in einem offiziellen Rahmen – ohne jeglichen Support des Erzbistums. „Die haben es einfach immer noch nicht verstanden“, sagt Marius Gipperich. „Was muss denn eigentlich noch passieren?“

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Seinen Glauben hat er sich nach eigenen Worten bewahrt. „Ich habe an die guten Erfahrungen und Begegnungen mit Menschen in der Kirche gedacht, die ich nach der Zeit mit Hans Ue. hatte. Nur weil dieser eine ein Verbrecher war, sind es nicht auch alle anderen.“ Den Gedanken an einen Kirchenaustritt hat Gipperich, der heute in Aachen lebt, für sich vorerst verworfen. „Wäre ich noch im Erzbistum Köln, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr dabei.“

Natalie Jauch dagegen hat die Kirche 2021 verlassen – einen Tag vor Weihnachten. „Ich hab‘s durchgezogen“, sagt sie fast grimmig. Sie denke und rede bis heute nicht nur schlecht über die Zeit mit Hans Ue. Auch vor Gericht habe sie dessen positive Seiten gewürdigt. „Aber ich musste raus aus dieser Institution, die offensichtlich nicht gewillt ist, sich zu verändern und so weitere Taten zu verhindern.“