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Kommentar

Familienpolitik
Diejenigen, die am meisten leisten für die Zukunft, werden zu Sozialfällen

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Lesezeit 5 Minuten
Ein Mann mit einem Kind auf dem Arm und einem an der Hand wirft einen Schatten auf eine mit bunten Handabdrücken bemalte Wand einer Kindertagesstätte. (Illustration zu dpa: «Zu wenige Pflegefamilien in sächsischen Großstädten») +++ dpa-Bildfunk +++

Familienpolitik geht jeden etwas an. Im Wahlkampf der Parteien merkt man davon wenig.

Wir alle sind oder waren Kinder. Familien kommen im Wahlkampf dennoch nur am Rand vor. Das ist fatal, meint Claudia Lehnen.

Es gibt Videos im Netz, da liegen Mütter und Väter auf dem Küchenboden und lassen sich von ihren Kindern als Geschenk verpacken, das Gesicht mit Wasserfarben bemalen, Töpfe, Pfannen und Kaffeeservice auf ihre Körper stapeln. Vielleicht gibt es Menschen, die das lustig finden. Mama und Papa ruhen sich aus, während die süßen Dreijährigen dennoch ihren Spaß haben. Ich kann sagen: Ich lag da auch schon. Und zumindest meistens ist es kein lustiges Spiel, das da stattfindet. Es ist Ausdruck kompletter Erschöpfung. Familien in Deutschland gehen auf dem Zahnfleisch. Eltern leisten 72 Milliarden Stunden Sorgearbeit jedes Jahr. Kostenfrei. Und die Sache wird noch unangenehmer: Unter denjenigen, die den Nachwuchs großziehen und die unbezahlte Arbeit schultern, gibt es wiederum eine Gruppe, die strukturell benachteiligt ist: Sie ahnen es, es sind diejenigen mit der Gebärmutter im Unterleib.

Eltern sind keine Randgruppe. Mehr als jeder dritte Erwachsene in Deutschland lebt laut der Bundeszentrale für politische Bildung in einer Familie mit mindestens einem minderjährigen Kind. Die Zahl der Eltern ist aber natürlich größer: Nach Zahlen des Mikrozensus haben fast zwei Drittel aller Frauen im Alter von 15 bis 75 Jahren mindestens ein Kind zur Welt gebracht. Etwa ebenso viele Männer sind Väter. Und bedenkt man, dass jeder Mensch ein Kind eines anderen ist oder war, dass nahezu jeder auf die Renteneinzahlung und Pflegeleistung folgender Generationen angewiesen sein wird, dann kann man die Rate derjenigen, die das Thema Familie interessieren müsste, auf unglaubliche 100 Prozent hochjagen. Im derzeitigen Wahlkampf zur Bundestagswahl merkt man davon: Wenig bis nichts.

Vollzeiterwerbstätigkeit für Alleinerziehende wird fast zum Ding der Unmöglichkeit

Es geht in Wahlkampfdebatten um Sicherheit, das Thema Migration überlagert alle Kanzlerduelle, es geht um Wirtschaftspolitik. Darum, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr leisten müssen. Um die strukturellen Benachteiligungen von denjenigen, die schon jetzt unter der Belastung zusammenzubrechen drohen, nämlich Familien und darunter gerade Mütter, geht es da kaum. Dabei wäre es Aufgabe des Staates, für gerechte Bedingungen zu sorgen, damit alle Eltern in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Aber schon bei der Bereitstellung von nötigen Betreuungseinrichtungen scheitert man. Allein in Köln war im Kitajahr 2023/2024 fast jede zweite der stadtweiten 732 Kindertageseinrichtungen von Personalmangel betroffen. Nach Daten des LVR mussten Kölner Kitas in mindestens 859 Fällen die Betreuungszeit reduzieren, Nachmittagsangebote fielen aus, zum Teil schlossen die Einrichtungen wochenlang. Deutschlandweit fehlen hunderttausende Kita-Plätze. Vollzeiterwerbstätigkeit für Alleinerziehende wird da selbst für Herkulesmütter fast zum Ding der Unmöglichkeit.

Die Folgen sind teils dramatisch. Eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat ergeben, dass jede zweite Frau in Deutschland von ihrem Lohn nicht leben kann. Bei zwei Dritteln aller Frauen reicht das Einkommen demnach nicht aus, um langfristig die Existenz mit einem Kind zu sichern. Wirft man einen Blick auf den Verdienst, so offenbart sich, dass Frauen mit zwei Kindern im Laufe ihres Lebens gerade einmal halb so viel Geld verdienen wie Männer oder Frauen ohne Kinder.

Beseitigt die strukturellen Benachteiligungen endlich!

Diejenigen, die am meisten leisten für die Zukunft, weil sie nämlich maßgeblich dazu beitragen, dass sich aus sehr jungen Menschen später oft ganz brauchbare Leistungsträger und Rentenzahler entwickeln, werden in dieser Gesellschaft zu Sozialfällen. Wer denkt sich denn sowas aus?

Da hilft am Ende des Lebens auch die Mütterrente wenig, die nun immerhin die CSU nochmal ausweiten will. Sie ist allerdings nicht mehr als ein symbolisches Almosen. Eine auskömmliche Absicherung im Alter ist nur durch ein langes und gut bezahltes Erwerbsleben zu erreichen – und angesichts angespannten Rentenkassen auch nur so finanzierbar.

Die nötigen politischen Rahmenbedingungen dafür lägen auf der Hand. Dennoch tun sich die meisten Parteien schwer damit, die strukturellen Benachteiligungen zu beseitigen. Dabei bedürften einige Maßnahmen nicht einmal großer finanzieller Aufwände. Die Abschaffung des überholten Ehegattensplittings beispielsweise, das viele Frauen in die prekäre Lage zwingt, mehr unbezahlte Familienarbeit zu leisten, statt für das eigene Einkommen und auch eine unabhängige Rente zu sorgen, würde den Staat kein Geld kosten. Ebenso eine paritätisch gerechte Aufteilung der Elternzeit unter beiden Elternteilen wäre ohne den Einsatz von Steuergeld umsetzbar, würde aber dazu beitragen, Sorgearbeit gerechter zu verteilen. Sogar die Einführung einer Familienstartzeit, die es Vätern ermöglichen sollte, übersichtliche zehn Tage nach der Geburt bezahlt für Mutter und Kind im Wochenbett da zu sein, scheiterte in der Ampel-Regierung am Veto der FDP. CDU/CSU, nach Umfragen stärkste Fraktion eines künftigen Bundestages, hat derlei minimale Absichtserklärungen noch nicht einmal im Wahlprogramm notiert.

Und: Wo sind eigentlich die familienpolitischen Visionen? Wir erfinden E-Autos und eine künstliche Intelligenz, die uns Arbeit abnimmt. Für Familien ist die große Revolution da bislang ausgeblieben. Warum gibt es beispielsweise keine flächendeckenden Lebensarbeitszeitkonten, die Familien- und Pflegephasen oder auch Zeiten des ehrenamtlichen Engagements ganz selbstverständlich für jeden einpreisen? Warum sind Kitas und Schulen nicht so organisiert, dass sie bis zum Ende eines Erwerbsarbeitstages geöffnet haben und allen Eltern beim Abholen gekochte Mahlzeiten für das gemeinsame Familienabendessen mitgeben?

Allen Politikerinnen und Politikern, die einer künftigen Regierung angehören, kann man nur eindringlich zurufen: Denkt an die vielen Mütter und Väter, die da landauf, landab erschöpft in Küchen liegen und sorgt dafür, dass sie nicht mehr benachteiligt werden. Nur dann können sie weiter dabei helfen, das Land am Laufen zu halten.