NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hat seinen ersten Islamismus-Lagebericht vorgestellt.
Terrorgefahr in NRW hoch wie nie zuvorHassprediger als Tiktok-Stars und Jugendliche als Anschlagsplaner
Die Wanze im Auto übertrug dem Bundeskriminalamt (BKA) ein selbstverfasstes Lied auf Russisch. Euphorisch besang der Tadschike Raboni Z. am 29. Mai 2023 im Auto Anschlagspläne seiner neunköpfigen Terrorzelle, die im Auftrag des afghanischen Ablegers „Islamischer Staat in der Provinz Khorasan“ (ISPK) unter den „Ungläubigen“, den Kuffar, ein Blutbad anrichten wollte: ,,Wir fangen an, in Deutschland zu handeln (…) aktiv zu werden (…) uns zu bewegen (…) der Schwung beginnt in Deutschland. Wir fangen hier an, aktiv zu werden (…) zu handeln.“
Stets aufs Neue wiederholte der islamistische Sänger, der in einer Unterkunft im nordrhein-westfälischen Warendorf unter falscher Flüchtlingslegende lebte, seine Phrasen. Auch Komplizen, die zum Dschihad bereit wären, bedachte der 29-jährige Asylbewerber in seinem Lobgesang. Aus seiner Sicht werde jeder „Bruder“ belohnt, wenn er die Kuffar töte.
Gut einen Monat zuvor hatten drei Komplizen der zentralasiatischen Terror-Gruppe unter anderem die Deutzer Kirmes in Köln als mögliches Anschlagsziel ausgespäht. Im Sommer 2023 wurden die mutmaßlichen Hauptakteure überwiegend in NRW verhaftet. Neun Monate später hat die Bundesanwaltschaft die sieben ISPK-Verdächtigen unter anderem wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Aus ihrem engeren Umfeld stammen auch jene Flüchtlinge, die den Terror-Alarm rund um Weihnachten und Silvester am Kölner und am Wiener Stephansdom auslösten.
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Anzeichen für koordinierte Terrorangriffe
Die Fälle tauchen im neuen Lagebild „Islamismus“ auf, das NRW-Innenminister Herbert Reul am Dienstagvormittag vorstellte. Laut der Analyse gebe es „Anzeichen dafür, dass vor allem der ISPK auch komplexe, koordinierte Terrorangriffe in Europa plant“. Die Gefahr durch solche „Hit-Teams“, die für NRW noch nicht konkret, sondern „abstrakt“ sei, scheint nach Angaben Reuls derzeit vor allem vom ISPK auszugehen. Der Islamismus-Report warnt insbesondere vor Kleinstgruppen und Alleintätern – oft angefixt durch Dschihad-Propaganda im Internet.
In der aktuellen Ausgabe des Online-Magazins „Voice of Khorasan“ rief der ISPK unlängst zu Anschlägen im Sommer während der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland auf. „Überfahren Sie die Ungläubigen (Kuffar) mit Ihrem Auto.“ Jegliche Attacken sind demnach Pflicht – mit dem Messer, mit Gift oder „blast ihnen mit Kugeln das Gehirn heraus!“ Die hiesige Terrorabwehr nimmt solche Aufrufe sehr ernst. Zumal gerade der IS-Ableger vom Hindukusch seit 2019 gleich mehrere Zellen zentralasiatischer Fanatiker nach NRW geschickt hat, um hier Attentate zu verüben.
Zahl der Ermittlungen hat sich verdoppelt
NRW gilt als Salafisten-Hotspot. Zwar sank deren Zahl von 3200 binnen vier Jahren auf 2600, zugleich aber müssen die Staatsschützer 600 gewaltbereite Jihadisten im Blick behalten. Von den bundesweit knapp 500 islamistischen Gefährdern, stehen 187 auf der Liste der NRW-Terrorabwehr. Und auch andere Zahlen im NRW-Lagebild zeigen, wie angespannt die Situation ist. Seit April 2020 seien sieben Terroranschläge an Rhein und Ruhr verhindert worden, heißt es. Einzig ein syrischer IS-Anhänger tötete im Frühjahr 2023 einen türkischstämmigen Mann in Duisburg und verletzte bei einem Angriff in einem Fitnessstudio vier Menschen schwer mit einem Messer.
Auch bundesweit ist die Terrorgefahr durch militante Islamistengruppen stark gestiegen. Die Bundesanwaltschaft leitete 2023 mehr als doppelt so viele Ermittlungsverfahren gegen gewaltbereite radikal-islamische Salafisten ein, wie noch im vorvergangenen Jahr. Laut Bundesregierung stieg die Quote neuer Fälle im vergangenen Jahr auf 461, im Jahr 2022 waren es noch 229. Und die Zahl der Beschuldigten verdoppelte sich auf 492.
Alle islamistischen Gruppierungen agitieren laut dem NRW-Verfassungsschutz gegen Israel, wobei die Hetze seit dem Überfall der palästinensischen Terror-Organisation „Hamas“ am 7. Oktober 2023 massiv zugenommen habe. „Die aktuelle Konfliktlage im Nahen Osten bietet Ansätze für eine Instrumentalisierung durch Islamisten und ermöglicht diesen weit über ihr Kernklientel hinaus bis in die Mitte der Gesellschaft hinein um Anschluss und Solidarität zu werben“, heißt es in dem NRW-Bericht. Israel werde das Existenzrecht abgesprochen im vergangenen Jahr habe es mehr als 500 antisemitische Straftaten in Nordrhein-Westfalen gegeben, sagt Reul. Vor diesem Hintergrund fordert der Innenminister Verbote für Islamisten-Vereine wie „Muslim interaktiv“, die zu Anti-Israel-Demos aufrufen, auf denen der islamische Kalifatsstaat sowie die Einführung der Sharia gefeiert wird.
Sätze, die an AfD-Tiraden erinnern
Radikale Prediger wie Ibrahim El Azzazi, der zunehmend an Rhein und Ruhr seine islamistische Doktrin verkündet, finden wachsenden Zuspruch. Auch die Missionierungsversuche in nordrhein-westfälischen Innnenstädten würden nach Corona wieder zunehmen. „Und Dehran Asanov, bekannt als Abdelhamid, war im Jahr 2023 mit zahlreichen Vortragsveranstaltungen präsent“, berichteten die Landesverfassungsschützer. Mitunter spricht er zu tausenden Sympathisanten. Oft tritt er mit dem Web-Imam Efstathios Tsiounis (Abu Alia) auf. Über TikTok, Youtube und Instagram suchen altbekannte Agitatoren wie Pierre Vogel junge Menschen für eine archaische Islam-Strömung zu missionieren.
Auf dem Salafisten-Online-Markt hetzen Influencer wie Joe Adade Boateng, das Gesicht von Muslim interaktiv, gegen die angebliche Lügenpresse und einer Wertediktatur. Sätze, die an AfD-Tiraden erinnern.
Islamismus als Lifestyle-Gefühl
Manche neuen „Islamisten-Stars“ wirken auf ihren Kanälen wie Gangsta-Rapper. Ihr Auftreten beindruckt teils bei der jüngeren Generation. Der Islamismus-Report spricht von einem neue Lifestyle-Gefühl. Neuerdings ist es schick, ein Salafist zu sein, um sich abzugrenzen. „Beeinflusst durch Online-Propaganda und populäre extremistische Prediger haben sich der Salafismus und salafistische Versatzstücke als Gegenkultur mit Lifestyle-Charakter etablieren können“, so ein Fazit. „Das Internet wird mehr und mehr zum Hochleistungsmotor für Radikalisierung“, betont Reul: „Hass-Prediger haben ihre Online-Propaganda perfektioniert, Extremisten inszenieren sich als Influencer mit schlichten, reaktionär-patriarchalischen Wertvorstellungen.“
Rund um Ostern wurden vier Tatverdächtige im Alter von 15 bis 16 Jahren festgesetzt, die sich ebenfalls durch das Internet radikalisiert haben sollen. Die Beschuldigten wanderten in Untersuchungshaft. Laut Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf sollen sie sich zu Mord und Totschlag verabredet haben. Die Teenie-Dschihadisten seien dringend verdächtig, einen islamistisch motivierten Terroranschlag geplant zu haben. Die IS-Anhänger wollten offenbar mit Molotowcocktails, Sprengsätzen, einer Machete und Messern die „Kuffar“ (Ungläubigen) angreifen.
Schulterschluss zwischen Salafisten und kriminellen Clans befürchtet
Der Fall belegt, dass die Täter immer jünger werden. Nach einer Untersuchung des „Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“ der Universität Hamburg zählte jede fünfte Person, die zwischen 2016 und 2022 in Deutschland islamistisch motivierte Terroranschläge vorbereitet oder durchgeführt hatte, keine 18 Jahre alt ist.
Zuletzt wurde ein heute 17 Jahre alter Deutsch-Afghane aus Burscheid angeklagt, weil er mit einem Komplizen aus Brandenburg am 1. Dezember 2023 auf dem Weihnachtsmarkt in Leverkusen-Opladen einen mit Gasflaschen gefüllten Kleinlaster hochgehen lassen wollte. Anschließend, so der Plan, sollte es nach Afghanistan zum ISPK gehen. In Chats via Telegram hatten sich die beiden Teenager zu wirren Anschlagsfantasien hochgeschaukelt.
Unabhängig davon stellen die NRW-Staatsschützer zunehmende Kontakte zwischen Salafisten-Predigern und kriminellen kurdisch-libanesischen Clans fest. „Hieraus können sich neue Dynamiken und Radikalisierungsmomente ergeben“, so das Resümee in dem Extremismus-Papier. Prediger vermitteln den Angaben zufolge „religiös legitimierte patriarchalisch-chauvinistische Wertvorstellungen, mit denen sich auch Clanangehörige mit muslimischem Migrationshintergrund in vielen Fällen identifizieren können“, so das Resümee. „Umgekehrt scheint das martialische Auftreten von Szenegrößen aus dem Bereich einschlägiger Clans eine Faszination auf einige extremistische Salafisten auszuüben, die sich diesem in Sprache und Erscheinungsbild annähern."
Die Opposition im Düsseldorfer Landtag wirft Innenminister Reul im Zusammenhang mit dem „Lagebild Islamismus“ Untätigkeit vor. Salafistische Hassprediger würden „von der Landesregierung unbehelligt ihre menschenverachtende Ideologie in nordrhein-westfälischen Moscheen“ verbreiten und „islamistische Influencer werben in sozialen Netzwerken um immer mehr Follower“, sagt Christa Kampmann, innenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion: „Die Landesregierung muss sich die Frage stellen, ob sie hier wirklich untätig zuschauen oder die Möglichkeiten des Rechts nutzen will, um dagegen entschieden vorzugehen.“ Marc Lürbke von der FDP-Fraktion ergänzt: „Unter Reuls Führung sind die Herausforderungen für unsere Sicherheitsbehörden massiv gewachsen, die zunehmende Radikalisierung muss dringend gestoppt werden.“