Ein Drittel der Hausärzte in Nordrhein-Westfalen ist über 60 Jahre alt, es droht Unterversorgung. Zwei Landärzte erzählen, warum sie ihren Beruf lieben.
Landärztemangel„In fünf bis sechs Jahren wird ganz NRW unterversorgt sein“
Judith Schmidt ist 44 Jahre alt und damit eine der jüngsten Hausärzte in ihrer Region. Seit vier Jahren arbeitet sie in Windeck-Dattenfeld, im Osten des Rhein-Sieg-Kreises, erst im Rahmen ihrer Weiterbildung, nun als niedergelassene Ärztin. Windeck-Dattenfeld hat eine Grundschule, einen Kindergarten, zwei Kirchengemeinden, einen Fußball- und einen Angelsportverein, einen S-Bahn-Anschluss nach Köln, sowie eine Karnevalsgesellschaft und das „Siegtaler Bläsercorps Dattenfeld“.
Außerdem zwei Arztpraxen. Dass eine junge Kollegin wie Schmidt hinzustößt, ist die Ausnahme hier auf dem Land. Üblicher ist, dass die Alten gehen. „60 bis 70 Prozent der Ärzte hier in der Gegend werden in den nächsten zehn Jahren vermutlich in den Ruhestand gehen“, sagt Schmidt. Sie erzählt von einem Kollegen, nur ein paar Kilometer war seine Praxis von ihrer entfernt, letztens ging er mit über 70 Jahren in den Ruhestand. Vollzeit gearbeitet hat er zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Trotzdem galt seine kleine Praxis als voller Versorger für die Region. Nachfolger finden scheidende Landärzte selten. Für die übrigbleibenden Patienten beginnt so oft die lange Suche nach einem neuen Hausarzt.
Die Idylle der eigenen Praxis zwischen Fachwerkhäusern und Ackerflächen, sie wirkt nicht mehr. Nur wenige junge Ärzte wollen nach ihrem abgeschlossen Medizinstudium auf dem Land praktizieren. Natürlich ist Ärztemangel kein Phänomen, das nur in Dörfern und Kleinstädten existiert, doch der fehlende Nachwuchs bei einer gleichzeitig alternden Bevölkerung fällt hier zuerst auf. In einigen Jahren werden jedoch auch Städte den Nachwuchsmangel zu spüren kriegen, sagt Klaus Weckbecker, Professor für Allgemeinmedizin an der Universität Witten/Herdecke: „In fünf bis sechs Jahren wird ganz NRW unterversorgt sein.“ Für ihn ist klar, dass Deutschland den „Point of no return“ erreicht hat: Wir kacheln auf eine Krise zu, zum Umkehren ist es zu spät.
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Von der Oma bis zum Säugling
Windeck-Dattenfeld im Rhein-Sieg-Kreis, 2300 Einwohner, 20 Minuten Autobahn und 40 Minuten über abenteuerlich enge Landstraßen von Köln entfernt. Judith Schmidt setzt sich hinter einen holzbraunen Arzttisch, neben dem ein ebenso holzbraunes Regal an der Wand lehnt, prall gefüllt mit Medizinbüchern und Steckmodellen von Herz und Becken. Schmidt liebt die Vielfalt am Landärztin-Dasein, die Behandlung von Oma bis Säugling.
Die vielen Fachbereiche, die sie alle abdecken muss. Ihre erste Patientin heute hatte eine Entzündung am Auge, der zweite eine offene Wunde am Fuß. Für einen dritten Patienten rief sie den Rettungswagen – seine Bauchschmerzen stellten sich als Blinddarmentzündung heraus. Sie hat an diesem Tag schon EKGS ausgewertet, mit Kollegen telefoniert, Versorgungsanträge finalisiert – und es ist noch nicht mal Mittag. „Es ist kognitiv schon eine Herausforderung, so schnell umzuschwenken“, sagt Schmidt. „Aber das macht den Beruf auch so interessant. Langweilig wird mir nie.“
Die Entscheidung, Ärztin zu werden, fiel bei Schmidt erst relativ spät: Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten, sie begann ein Studium der Betriebswirtschaftslehre, doch wirklich Spaß machte ihr erst ein Pflegepraktikum an der Uniklinik Köln. Nach ihrer Ausbildung zur Rettungssanitäterin begann sie schließlich ihr Medizinstudium.
Anschließend nahm sie eine Stelle in einem Bonner Krankenhaus an. „Ich habe viel ausprobiert“, sagt sie. „So habe ich gemerkt, was mir wirklich wichtig ist.“ Als ihr Mann sich wünscht, in den gemeinsamen Heimatort Waldbröl zurückzuziehen, probiert sie wieder etwas Neues aus: Sie beginnt eine Weiterbildung als Fachärztin für Allgemeinmedizin in der Hausarztpraxis in Windeck-Dattenfeld.
Diese Entscheidung, sagt Schmidt, habe sie nie bereut. Denn sie lässt auch Lästiges hinter sich: Nachtdienste, strenge Hierarchien und den ebenso strengen Ton im Krankenhaus. Stattdessen empfängt sie Patienten in Sprechstunden und fährt raus zu Hausbesuchen. In Windeck leben viele ältere Menschen, die den Weg in die Praxis zuweilen nicht mehr bewältigen können. „Der Kontakt zum Patienten ist hier viel enger und familiärer als in der Stadt, wo viele Studenten und Alleinstehende wohnen“, sagt sie. „Ich finde die Arbeit hier sehr schön.“
Als eine der zwei Praxisinhaber in Rente ging, beschloss Schmidt, ihren Teil der Praxis zum 1. Januar 2021 zu übernehmen. Sie kaufte den Standort ihrer älteren Kollegin in Windeck-Dattenfeld und auch den zweiten in Windeck-Herchen, an dem ebenfalls Ärzte angestellt sind. Weil beide Sitze in einem vom NRW-Gesundheitsministerium ausgewiesenen Gebiet des Ärztemangels liegen, genehmigte das Ministerium ihr eine Förderung für den Kauf. „Die Förderung war sehr gut und fair“, sagt Schmidt. „Dadurch konnte ich all meine Angestellten behalten.“
Landesregierung verlängert Förderprogramm für Landärzte
Aktuell sind in Nordrhein-Westfalen nur wenige Regionen tatsächlich unterversorgt, auch bundesweit ist die Hausarztversorgung größtenteils gedeckt. Doch das kann sich schnell ändern, denn das Durchschnittsalter der Ärzte steigt: Im Gebiet der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein sind 15 Prozent aller Hausärzte über 65 Jahre alt, in Westfalen-Lippe sogar mehr als 18 Prozent. Ein Drittel der Hausärzte in NRW ist über 60.
Die Landesregierung hat deshalb das „Hausarztaktionsprogramm“ ins Leben gerufen: Sie stellt jährlich 2,5 Millionen Euro für die hausärztliche Versorgung in Regionen zur Verfügung, in denen die hausärztliche Versorgung künftig gefährdet ist. Mit dem Geld sollen Niederlassungen, Anstellungen und Weiterbildungen von Hausärzten gefördert werden, die sich in kleineren Kommunen niederlassen. Medizinerinnen und Mediziner können über diesen Fördertopf bis zu 60.000 Euro bekommen.
Mitte Januar dieses Jahres verlängerte das Gesundheitsministerium das Programm. „Das Hausarztaktionsprogramm hat sich bewährt“, sagt Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). „Seit der Einführung 2009 wurden mehr als 700 Maßnahmen mit einem Fördervolumen von über 20 Millionen Euro bewilligt.“ So solle die hausärztliche Versorgung auf dem Land auch in Zukunft gesichert werden.
Landarzt per Quote
Zum Wintersemester 2019/20 hat Nordrhein-Westfalen als erstes Bundesland die Landarztquote eingeführt: Rund 180 Medizinstudienplätze gehen jedes Jahr an Bewerberinnen und Bewerber, die sich verpflichten, nach dem Studium für zehn Jahre in einer unterversorgten Region als Hausarzt zu arbeiten. Auch junge Menschen, die sonst am Numerus Clausus gescheitert wären, bekommen so eine Chance, solange sie gute Eignungstestergebnisse und praktische Erfahrungen vorweisen können.
Denn es ist ja nicht so, dass junge Menschen sich heutzutage nicht mehr für den Arztberuf interessieren: An Weckbeckers Institut bewerben sich regelmäßig hundertmal so viele Interessierte, als er Studienplätze anbieten kann. Der Numerus Clausus, den Abiturschnitt, den Bewerber an normalen Unis erfüllen müssen, liegt für Humanmedizin in fast jedem Bundesland bei 1,0.
Begeisterung statt Quote
Klaus Weckbecker sieht die Landarztquote trotzdem kritisch: „Ich finde es relativ schwierig, einem 20-Jährigen zu sagen, was er mit 35 Jahren machen soll.“ Man solle lieber für das Fach begeistern, als dafür zu verpflichten. Er setzt auf Projekte wie „Local Hero“, die Interessierte noch während des Studiums für die Allgemeinmedizin begeistern sollen. Über das vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Projekt der Unis Duisburg-Essen, Bochum, Düsseldorf und Witten/Herdecke können die Studierenden Praktika in Landarztpraxen absolvieren.
Weckbecker sagt auch: Dadurch, dass immer mehr Frauen sich für den Arztberuf entscheiden, nimmt auch die durchschnittliche Lebensarbeitszeit ab. Denn: Frauen gehen im Schnitt immer noch häufiger in Elternzeit oder arbeiten in Teilzeit als Männer. Als Ausgleich, sagt Weckbecker, müsste eigentlich mehr ausgebildet werden.
Ennepetal: Halb so viele Ärzte wie vor 20 Jahren
Fährt man etwa 75 Kilometer von Windeck in Richtung Norden über die Landstraße, landet man in Ennepetal. In der beschaulichen Stadt nahe Wuppertal wohnen rund 30.000 Menschen, mehr als 40 Prozent des Stadtgebiets werden für die Forstwirtschaft genutzt. Und mittendrin – an einer steil bergaufführenden Straße im Stadtteil Altenvoerde – liegt die Arztpraxis von Hans-Dieter Pürschel. Im Wartezimmer plärrt aus Lautsprechern „Give a little bit“ von Supertramp, im Minutentakt öffnet sich die Tür.
Hans-Dieter Pürschel wollte eigentlich nie Arzt werden. Heute ist er 64 Jahre alt, kommt aus Ulm und hat zunächst eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Erst später hat er über den ASB-Katastrophenschutz gemerkt, dass seine Leidenschaft woanders liegt. Es folgte das Medizinstudium im Saarland, aus familiären Gründen wechselte er nach Bochum und bildete sich danach zum Allgemeinmediziner weiter. Seit 1992 gehört ihm die Praxis in Ennepetal. Damals sei die Arztdichte noch hoch gewesen, sagt Pürschel, heute praktizierten im Ort nur noch halb so viele Ärzte wie vor zwanzig Jahren.
1.200 Kassenpatienten behandelt Pürschel – „ich weise nie jemanden ab.“ Bislang funktioniere das auch gut, nur in der Coronazeit sei es manchmal eng geworden: „Wenn ein Arzt ausfiel, hat man das sofort zu spüren bekommen“, erzählt Pürschel. Ein Arzt weniger – was in der Großstadt kaum ins Gewicht fällt, führt in kleineren Orten zu Warteschlangen oder sehr langen Fahrtwegen. Und in wenigen Jahren könnte es nicht nur ein einzelner Arzt sein, der in Ennepetal fehlt.
Mit 64 Jahren ist Pürschel in Voerde, einer der zwei Ennepetaler Gemeinden, der älteste Arzt. Aber auch seine Kollegen sind nicht weit von der Rente entfernt. In vier bis fünf Jahren gehen alle drei Ärzte aus Voerde in den Ruhestand. „Das schlummernde Problem wird dann explodieren“, meint Pürschel. Ennepetal hat aktuell einen Versorgungsgrad von 71,5 Prozent, 2030 soll er laut einer Prognose bei 43,3 Prozent liegen. Bei einem Wert unter 75 Prozent gilt ein Bereich als unterversorgt.
Warum in den vergangenen Jahren kaum junge Ärzte nachgerückt sind, könne er sich nicht wirklich erklären, sagt Pürschel. Die Infrastruktur in Ennepetal sei nicht schlecht, die nächste Großstadt schnell erreichbar. „Vielleicht haben sich die Ansprüche verändert.“ Der Wunsch nach einer guten Work-Life-Balance überwiege das Karrierestreben. Das Arbeitspensum bei einer eigenen Praxis wirke wohl abschreckend, sagt er. Gemeinschaftspraxen sind eher in Großstädten verbreitet.
„Vielleicht wird die Hausarztmedizin nicht richtig wertgeschätzt“
Judith Schmidt hat es indessen geschafft, eine weitere Ärztin für die Praxis zu gewinnen: Eine Chirurgin, die ihre Arbeit im Krankenhaus kündigte und nun eine zweijährige Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin durchläuft. Doch der Zuzug beider Medizinerinnen aufs Land bleibt die Ausnahme, auf die zukünftige medizinische Versorgung in Windeck blickt Schmidt deshalb mit Sorge. „Ich verstehe da auch meine Kollegen nicht richtig“, sagt sie.
„Die Ausbildung und das Studium sind so sehr auf die klinischen Fächer ausgelegt, da geht die Hausarztmedizin ein wenig verloren. Vielleicht wird sie auch nicht richtig wertgeschätzt. Dabei bietet sie so viel: Selbstbestimmtes Arbeiten zum Beispiel.“ Ihren Terminkalender legt sie sich selbst zurecht, räumt stets noch Zeit für ihre Kinder ein. „Diese Freiheiten wissen viele jungen Kollegen glaube ich gar nicht zu schätzen, die in der Klinik verheizt werden. Das finde ich schade. Wenn sie wüssten, wie gut es uns hier geht, würden sie es sich vielleicht auch anders überlegen.“
Schon jetzt muss Schmidt einige neue Patienten ablehnen, die Wartezeiten verlängern sich merklich. Die Allgemeinmedizin muss attraktiver gemacht werden, sagt sie. So schnell wie möglich. „Junge Kollegen müssen in ihrer Assistenzarzt-Zeit Einblicke in den Job bekommen.
Sie müssen wissen, dass auch hier eine wissenschaftliche Karriere möglich ist – beispielsweise durch eine Mitarbeit am Hausarztinstitut der Uniklinik.“ Es brauche mehr finanzielle Anreize, gleichzeitig fehle es den bereits existierenden Förderungen an Bekanntheit. Neben dem Kauf einer Praxis werden auch Weiterbildungen für Arzthelferinnen und Arzthelfer gefördert, sagt Schmidt. Damit sie ebenfalls Hausbesuche machen, Blutdruck messen, Werte überprüfen und Impfungen verabreichen.
Seit sie die Praxis übernommen hat, habe sie zwei Studenten im Praktikum betreut, erzählt die 44-Jährige. Beide seien von der Arbeit auf dem Land positiv überrascht gewesen. „Die eine Studentin überlegt nun, ebenfalls Landärztin zu werden.“