Der Missbrauch von Sozialhilfen soll aufgedeckt werden. Die Dunkelziffer ist hoch. Köln denkt über eine Teilnahme am Projekt nach.
Modellprojekt in NRWWie das LKA gegen Kindergeldbetrug organisierter Banden kämpft
Es wirkt wie ein Schauspiel, was die Angeklagte Anfang April dieses Jahres in Saal 27 des Kölner Landgerichtes liefert. Immer wieder versteckt die Frau ihr Gesicht hinter ihren Händen, schüttelt den Kopf, scheint schwer zu atmen. Die Überwindung und Anstrengung, hier auszusagen, scheinen schier unmenschlich zu sein an diesem vierten Verhandlungstag.
Die 49-Jährige und ihr Mann, ein Paar aus einer bekannten Leverkusener Großfamilie, haben sich Sozialhilfe erschlichen. Rund 170.000 Euro, von 2014 bis 2019. Wohl weil die Beweislast erdrückend ist, haben die beiden von ihren Anwälten ein Geständnis vorlesen lassen. Und jetzt geht es darum, die Nachfragen des Gerichtes zu beantworten.
Doch das Ergebnis ist dürftig. „Ich weiß nicht mehr“, sagt die Frau spätestens nach jeder zweiten Frage und blickt verzweifelt. Doch die Ermittler wissen: Sozialhilfe brauchte die Familie nicht. Zehntausende Euro in dicken Geldbündeln wurden von der vierfachen Mutter hinter dem Sofa und im Schlafzimmer versteckt. Das Geld stammt unter anderem aus Verbrechen, bei denen alte Menschen womöglich um ihr letztes Erspartes gebracht wurden.
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Hohe Dunkelziffer beim Sozialleistungsschwindel
„Ich wusste, dass er arbeiten geht – aber nicht immer so das Richtige“, antwortet die Angeklagte auf die Frage der Richterin, ob sie gewusst habe, woher das Geld stammte. Dann zuckt sie mit den Schultern.
Im vergangenen Jahr sind in NRW 1534 Fälle von Sozialleistungsbetrug entdeckt worden, heißt es in der Polizeilichen Kriminalstatistik. 1493 (97,33 Prozent) davon seien aufgeklärt worden. Ein Jahr zuvor sind 1832 Vergehen bekannt geworden und 2021 waren es 2057, jeweils mit ähnlich hohen Aufklärungsquoten. Oliver Huth, Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in NRW, geht von einer deutlichen höheren Dunkelziffer vor allem im Bereich von organisierter Kriminalität aus.
„Leider kommt es häufiger vor, dass auf der einen Seite kriminelle Familienstrukturen bestehen, in der alle erdenklichen Straftaten begangen werden, weil der Rechtsstaat nicht akzeptiert wird“, so Huth. Auf der anderen Seite aber werde der Sozialstaat „dann ausgenutzt und abkassiert“. Dass die Jobcenter oder das Sozialamt in solchen Fällen nicht immer genau hinschauen, sei „leider ein virulentes Thema“. Gelegentlich fehle es sogar „vollständig an dem nötigen Problembewusstsein“, so Huth: „Da verstehen sich die zuständigen Ämter schlichtweg als eine Art Bewilligungsbehörde, die Aufdeckung von Betrug interessiert die nicht.“
Beschuldigte stellten Lebensstil mit teuren Autos und Rolex-Uhren offen zur Schau
Es sind enorme Summen, die da zuweilen zusammen kommen. Im April 2022 verurteilte das Landgericht Köln eine Bande aus Rumänien, weil sie mit gefälschten Meldepapieren 733.000 Euro erbeutet hatte. In einem weiteren Fall wurden jahrelang 5200 Euro monatlich für eine zehnköpfige Familie gezahlt. Mit falschen und unterbliebenen Angaben seien so insgesamt 462.000 Euro Sozialhilfe und Krankenkassenbeiträge erbeutet worden.
Trotz eines erheblichen Vermögens der angeblichen „Bedürftigen“, wie vor Gericht festgestellt wurde. Im Finanztopf des Clans hätten sich stets zwischen 100.000 und 300.000 Euro befunden. Mit dem Geld der Steuerzahler tilgte die Familie dann unter anderem ihr Darlehen für ihr Anwesen mit 300 Quadratmetern Wohnfläche in Leverkusen.
Wirklich Bedürftige werden durch Straftaten in Verruf gebracht
Der Fehler liege im System, meint Polizei-Gewerkschafter Huth. Die Mitarbeiter der Sozialämter und Jobcenter hätten oft keine Zeit, um etwa Hausbesuche zu machen. Und die Polizei erhalte Informationen über Sozialhilfeleistungen zu Verdächtigen erst dann, „wenn wir sie über die Staatsanwaltschaft anfordern, also bereits einen entsprechenden Betrugsverdacht begründen können“.
Letztlich bringe der organisierte Schwindel auch „die Menschen in Verruf, denen die Unterstützungen zustehen“, ärgert sich Huth: „Am Ende haben wir damit dann ein Riesenproblem mit dem Rechtsfrieden und der Akzeptanz der Demokratie, wenn der Staat an dieser Stelle nicht funktioniert.“
Im Ruhrgebiet würden sich vor allem Familien aus den südosteuropäischen EU-Staaten Unterstützung aus den Kindergeldkassen erschleichen, sagt Achim Schmitz, Chef der Abteilung für Organisierte Kriminalität (OK) beim Landeskriminalamt (LKA) NRW. „Durch mehrere Verfahren wurde festgestellt, dass wir im Bereich des Sozialleistungsmissbrauchs eine große Flanke haben.“ Meist handele es sich um rumänische und bulgarische Familien mit vielen Kindern, die im Zuge der EU-Freizügigkeitsregelung nach Deutschland reisten, um hier teils illegal Sozialleistungen einzufordern.
Menschen aus den ärmsten Regionen werden nach Deutschland gelockt und ausgenutzt
„Diese Menschen kommen aus den ärmsten Regionen ihrer Länder. Dort wird ihnen weisgemacht, dass sie im reichen Westen besser versorgt werden“, erläutert Schmitz. Tatsächlich würden sie mitunter in menschenunwürdigen Unterkünften unterbracht. „Im Hintergrund ziehen dann wenige Profiteure die Strippen, die eine Menge Geld mit dem Schwindel machen“, so der OK-Chef.
Viele „hierhin gelockte“ Familien würden dann wieder mit der Lüge nach Hause geschickt, dass die hiesigen Behörden sie nicht als Hilfsempfänger anerkannt hätten. „Tatsächlich aber zahlen die staatlichen Kassen auf Konten ein, über die dann die Bosse nach eigenem Gutdünken verfügen können“, weiß der Leitende Kriminaldirektor. Teilweise läuft der Schwindel bis zum 18. Lebensjahr der Kinder.
Im Kampf gegen den organisierten Sozialleistungsbetrug hat das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt das Modellprojekt „Missimo“ entwickelt. Damit soll insbesondere Kindergeld-Missbrauch von Zuwanderern aus südosteuropäischen EU-Ländern aufgedeckt werden. Im Mittelpunkt steht die behördenübergreifende Zusammenarbeit zwischen der Familienkasse, der entsprechenden Task-Force im LKA, verschiedenen kommunalen Behörden wie dem Einwohnermeldeamt und dem Gesundheitsamt sowie den Schulen, dem Jobcenter, der Unterhaltsvorschusskasse und der örtlichen Polizei.
Mit Modellprojekt „Missimo“ gegen den Betrug
Erstmalig erprobte Krefeld das Projekt im Jahr 2019. Damals entdeckten die Behörden 83 Familien, die zu Unrecht Kindergeld erhielten. In Gelsenkirchen wiederum wurden ein Jahr später 105 Wohnungen kontrolliert. Das Ergebnis: 127 Kinder bezogen unberechtigt Geld von der Familienkasse. In Wuppertal wurde eine rumänische Bande ausgehoben, die für 96 Kinder Zuwendungen bezog, obwohl diese nicht in Deutschland lebten. Außer in diesen drei Städten wurde das Projekt mittlerweile noch in Leverkusen angeleiert, die Stadt ist seit Februar dieses Jahres dabei.
Man sei derzeit noch mit sieben weiteren NRW-Kommunen im Austausch, heißt es im Landeskriminalamt. Auch in Köln wird jetzt darüber nachgedacht, sich dem Verbund anzuschließen. Zwar würden eine Reihe der Aufgaben schon durch die eigene Verwaltung erfüllt, so Stadtsprecherin Simone Winkelhog. Dennoch sei man „im Austausch mit der Polizei Köln und dem Landeskriminalamt (LKA), um zu prüfen, ob durch eine Beteiligung an dem Projekt die bestehenden Strukturen weiter verbessert werden können“. Die verwaltungsinterne Prüfung sei derzeit aber noch nicht abgeschlossen.
Auch radikal-islamistische Salafisten beteiligen sich am Betrug
Gerade radikal-islamische Salafistenkreise und gut organisierte Verbrecher-Banden tricksen den Sozialstaat mit einfachen Mitteln aus. Im Groß-Komplex gegen mindestens 70 überwiegend syrische Flüchtlinge, die ein illegales Hawala-Bankensystem aufgebaut hatten, verschoben die beiden Bosse von Düsseldorf aus gut 120 Millionen Euro in die Türkei und weiter in den Nahen Osten. Das Geld stammte teils von Drogenbossen und wurde am Bosporus durch entsprechende Empfänger ausgelöst.
Die Betrüger kassierten mitunter zwei Millionen Euro im Jahr. Und doch nahmen sie die staatliche Unterstützung gerne mit. Seit 2016 betrog einer der beiden Bosse das Jobcenter um 138.000 Euro, zudem kassierte er fast 1600 Euro Kindergeld monatlich für seine sechs Kinder. Selbst das Schulessen finanzierte die öffentliche Hand.