- Oliver Huth (43) ist stellvertretender Landesvorsitzender NRW beim Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Er ist auch Rechtsschutzbeauftragter NRW und wohnt in Düsseldorf.
- Der Bund deutscher Kriminalbeamter ist ein gewerkschaftlicher Berufsverband. Er vertritt laut eigenen Angaben 13.000 Kriminalbeamte in ganz Deutschland. Er setzt sich für deren wirtschaftliche, berufliche, soziale und kulturelle Interessen ein.
- Im Interview spricht Huth unter anderem über die Organisierte Kriminalität in den Niederlanden und deren Folgen für Nordrhein-Westfalen.
Herr Huth, der Journalist Peter R. de Vries wurde erschossen, Fernsehsender werden durch die Organisierte Kriminalität (OK) bedroht, niederländische Syndikate schleusen riesige Drogenmengen über die Rhein-Ruhrschiene nach Deutschland, marokkanische Gangster meist aus dem Raum Utrecht sprengen vor allem in NRW Geldautomaten in die Luft – was passiert da gerade ?Das ist die Folge einer verfehlten Sicherheitspolitik in den Niederlanden. Über Jahrzehnte ging es im Nachbarland mit dem Rechtsstaat bergab, weil die Verantwortlichen viel zu wenig in die Sicherheit des Landes investiert haben. Das Organisierte Verbrechen hat sich wie eine Krake ausgebreitet, aber das hat keinen interessiert.
Wo liegen die Gründe?
Gerade in Utrecht existieren Wohngebiete, die Maroccaine Island genannt werden. Von hier aus starten die Geldsprenger-Banden regelmäßig ihre Diebes-Touren nach NRW. In den Vierteln ist in Sachen Integration viel zu wenig geschehen. Auch wurde der Polizeiapparat sukzessive kaputtgespart. Das Ergebnis dieser Missstände offenbart sich jetzt. Inzwischen bedrohen OK-Strukturen die freiheitliche-demokratische Ordnung im Nachbarstaat. Wenn Personen des öffentlichen Lebens sich nicht mehr sicher fühlen können, dann ist es eigentlich zehn nach zwölf.
Manche Experten vergleichen die Niederlande mit einem Narco-Staat ähnlich wie Kolumbien oder Mexiko, wie ist Ihre Meinung?
Das ist sicherlich übertrieben, in Mexiko regieren die Drogen-Syndikate ganze Landesteile, dort machen immer wieder Massenexekutionen Schlagzeilen. Das ist in den Niederlanden nicht der Fall. Dennoch laufen auch im Nachbarland harte Verteilungskämpfe im Drogenmilieu. Da geht es um Millionen-Gewinne, und das ist auch der Grund für die Morde. Wenn Polizei und Justiz diese Entwicklung nicht eindämmen, dann Gnade Gott, was da noch passiert.
Seit Jahren klagen die deutschen Drogenfahnder über eine Drogenschwemme aus dem Nachbarstaat. Wie ist derzeit die Lage?
Nach internen Schätzungen stammen drei Viertel des Rauschgifts auf dem Schwarzmarkt in NRW aus den Niederlanden. Zirka 90 Prozent der synthetischen Drogen kommen aus den chemischen Labors jenseits der Grenze. Das Kokain wird aus Südamerika über die großen Seehäfen in Amsterdam und Rotterdam eingeschmuggelt. Es gibt zahlreiche Banden, die nur damit beschäftigt sind, den Stoff aus den Häfen am Zoll vorbei heraus zu schleusen. Dabei spielen Drohungen, Erpressung und Schmiergelder eine große Rolle. Das ist ein Fass ohne Boden.
Da scheint sich eine eigene Drogenmafia etabliert zu haben.
Das stimmt. Es gibt inzwischen ganze Industriezweige, die sich ganz auf die Produktion von Amphetaminen und Methamphetamin konzentrieren. Es gibt unzählige Drogenlabors. Die Folge davon ist, dass die Umweltkriminalität enorm wächst.
Wie sehen die Umweltdelikte aus?
Die Herstellung synthetischer Drogen geht nur über chemische Substanzen. Diese Stoffe sind teils hochgiftig – so etwa Salzsäure. Wenn also ein Kilo Amphetamine in NRW landet, dann kann man genau berechnen, wie viel hochtoxischer Müll bei der Fertigung entstanden ist. Und wir wissen nicht, wo dieser Abfall geblieben ist. Das heißt, dass die Syndikate diese giftigen Überreste irgendwo in der Pampa entsorgen. Manchmal finden sich ein paar Fässer im Wald, aber bisher ist völlig unklar, wo die große Masse ist. Das ist eine Katastrophe, das kann dazu führen, dass Grundwassergebiete verseucht sind.
Warum sind gerade niederländische Rauschgiftküchen führend in der Produktion synthetischer Drogen?
Die Grundstoffe werden häufig aus China eingeschmuggelt. Durch die Seehäfen und den direkten Zugang zum fernöstlichen Markt ist es den Banden ein Leichtes, diese Mittel einzuschleusen. Kontrollen fallen rudimentär aus. Die Organisationen verfügen inzwischen über zahlreiche versierte Drogenköche, um etwa Meth herzustellen.
Im Duisburger Verfahren gegen eine weit verzweigte Organisation der kalabresischen ’Ndrangheta stellte sich heraus, dass die Mafiosi mit niederländischen Syndikaten zusammenarbeiteten, um Kokain im großen Stil von den Schiffen zu bekommen. Inwieweit arbeitet die deutsche Unterwelt mit den Nachbarn zusammen?
Europol geht in seinem Jahresbericht von etwa 5000 OK-Gruppierungen in der EU aus. Das sind teilweise Mischstrukturen, die zum Beispiel in einem gewissen kriminellen Spektrum ihre Serviceleistungen anbieten. Da gibt es Ableger der albanischen Mafia, die alle Zugänge zu den Seehäfen in Belgien und in den Niederlanden kontrollieren. Diese Gangs haben für die ’Ndrangheta große Koks-Lieferungen aus den Containerschiffen herausgeholt und an sicheren Orten übergeben. Das ist ein Crime-Lieferservice vom Feinsten. Und dafür zahlt die italienische Mafia auch richtig Geld. Das Kokain wird dann weiter nach Deutschland verfrachtet und geht von dort aus teilweise weiter nach Italien.
Warum reagiert die niederländische Polizei nicht?
Die Kollegen würden da gerne massiver gegensteuern, aber das ist schwer. Schauen Sie sich einmal die Rechtsprechung dort an. Wenn die deutschen Behörden einen niederländischen Drogendealer überführen, ihn festnehmen und ausliefern lassen, passiert Folgendes: Der Mann wird hier beispielsweise wegen gewerbsmäßigen Drogenhandels zu acht Jahren Haft verurteilt. Auf Grund der Auslieferungsabkommen muss er sofort wieder in seine Heimat überführt werden. Dort herrschen aber weitaus mildere Strafmodalitäten für Rauschgifthändler. Und so kommt der Großdealer wieder frei. Das ist keine Fantasie, das ist so geschehen.
Ist die Rechtsprechung in den Niederlanden zu lasch?
Aus meiner Sicht sind in den Niederlanden die Haftstrafen wegen der Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz viel zu niedrig. Während die Täter hier wegen des Verkaufs von einem Kilogramm Kokain oder Heroin sechs bis acht Jahre kassieren, kommen sie in den Niederlanden oft mit zwei Jahren davon. Zugleich besagt eine Bestimmung, dass
sie nur ein Drittel der Strafe absitzen müssen. Dieser Passus gleicht einer Gefängnis-raus-Karte bei Monopoly.
Das könnte Sie auch interessieren:
Ist das der einzige Grund für den Vormarsch des Organisierten Verbrechens?
Ein zweiter Punkt ist die mangelnde Strafverfolgung. Wer sich nicht sonderlich sorgen muss, verhaftet zu werden, der kann seine illegalen Aktivitäten ungehindert ausbauen. Die niederländische Polizei bekämpft die Kriminalität nach einem anderen Strafrechtsprinzip als die deutschen Kollegen. Wenn die Polizei hierzulande von einer Straftat erfährt, muss sie in jedem Fall ermitteln. In den Niederlanden ist das anders. Da besteht kein genereller Ermittlungszwang. Gerade im OK-Bereich gibt die Stadt- oder die Gemeindespitze vor, welche Projekte die Ermittler gerade angehen sollen. Da wird etwa ein Budget für den Kampf gegen die illegale Einwanderung aufgelegt, alles konzentriert sich dann auf dieses Phänomen. Der Kampf gegen die Drogenbanden fällt hinten runter. Und so ändert sich beinahe jährlich die Agenda der Kriminalitätsbekämpfung, ohne eine Kontinuität.
Heißt das, wenn kein Geld da ist, geht die Polizei nicht gegen die großen Banden vor?
Die staatlichen Ressourcen entscheiden darüber, gegen wen ermittelt wird. Zwar sind die niederländischen Kollegen technisch gesehen viel weiter als die deutschen Kriminalbeamten. Aber bei dem Ausmaß der OK, die dort um sich greift, reicht die Personaldecke vorne und hinten nicht. Denken Sie nur an die Geldautomaten-Sprenger. Früher unterhielten die niederländischen Behörden sechs Sonderkommissionen, heute gibt es nur noch eine Ermittlungseinheit. Die haben einfach alles zusammengedampft. Während die deutschen Kripo-Beamten jeden Fall eines gesprengten Geldautomaten bearbeiten.
Aber die Polizei in den Niederlanden weiß doch, woher diese Gangster kommen, warum geschieht nichts?
Ja, klar, diese Leute kommen aus Utrecht und aus Rotterdam, da müsste man mit großem Ermittlungsbesteck dran. Das aber geschieht nicht, weil die Niederländer diese Mittel einsparen.
Welche Auswirkungen hat die mangelnde Strafverfolgung für die Kriminalität in Deutschland?
Das Ausmaß ist gravierend. Bei den Geldautomaten-Sprengern fängt es damit an, ein Tatfahrzeug nebst Sprengstoff zu beschaffen. Da sind die Ermittler in Holland schon nicht dabei. Das heißt, die deutsche Polizei erhält keine Infos, wer, wie, wo, wann unterwegs ist, um den nächsten Coup zu inszenieren.
Das Problem ist nicht neu, hat die Politik in Deutschland versagt?
Zumindest sollte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet versuchen, diese bedrohliche Lage zu regeln. Es gibt beispielsweise die Aachener Erklärung, in der beide Seiten versprochen haben, sich über die grenzüberschreitende Kriminalität auszutauschen. Gerade bei den Geldautomaten-Sprengern und im Drogenhandel muss die nordrhein-westfälische Regierung die niederländischen Verantwortlichen zum Handeln auffordern. Denn das Problem nimmt immer weiter zu. Leider muss man davon ausgehen, dass die Gewalt wegen der Verteilungskämpfe auch nach NRW herüberschwappt.