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Neue Strategie gegen den KremlWie Putins Blamage in Kursk seine „versteckte Schwachstelle“ enthüllt

Lesezeit 5 Minuten
Der russische Präsident Wladimir Putin spricht während eines Treffens im Kreml. (Archivbild)

Der russische Präsident Wladimir Putin spricht während eines Treffens im Kreml. (Archivbild)

Der Westen müsse neue Wege gehen, um Wladimir Putin in Bedrängnis zu bringen, fordert ein Russland-Experte – und bekommt Zustimmung.

Seit mehr als zwei Monaten hält die ukrainische Armee Gebiete in der russischen Grenzregion Kursk besetzt. Für den Kreml ist der Vorstoß auf eigenem Gebiet eine anhaltende Peinlichkeit, die Moskau trotz größter anfänglicher Bemühungen weder in kurzer Zeit beseitigen noch vor der eigenen Bevölkerung verheimlichen konnte. Zehntausende Einwohner sind mittlerweile aus Kursk geflohen, Hunderte russische Soldaten wurden von der Ukraine gefangen genommen, mehrere Brücken in der Region zerstört. Russische Gegenstöße blieben zudem bisher weitestgehend erfolglos. Die Gefechte in Kursk dauern an – ohne dass Moskau größere Fortschritte vermelden könnte.

Während es derzeit als eher unwahrscheinlich gilt, dass die Ukraine noch weitere Gebiete erobern kann, könnte die Offensive in Kursk dennoch zum bisher größten Problem für Wladimir Putin werden, das erklärt der britische Russland-Experte Peter Pomerantsew nun im Fachmagazin „Foreign Affairs“. Jede wahrgenommene „Erosion der Kontrolle des Kremls“ über öffentliche Rede und Verhalten bedrohe den „zarenähnlichen Status“ Putins in Russland, so der Senior Fellow der Johns-Hopkins-Universität. Pomerantsew empfiehlt daher: „Um die Kriegsmaschinerie des Kremls zu zerschlagen, muss der Westen die Sorgen und Ängste der einfachen Russen ausnutzen.“

Strategie gegen Wladimir Putin: „Die Ängste der Russen ausnutzen“

Denn der Kreml reagiere stets, wenn dort das Gefühl aufkomme, dass man die Kontrolle über den gesellschaftlichen Diskurs in Russland verliert, erklärt Pomerantsew weiter. Manchmal reagiere der Kreml mit der Verschärfung der Zensur im Land, er könne aber auch „einfach einen unpopulären Plan rückgängig machen“.

So habe Moskau trotz eklatanten Personalmangels bisher von einer weiteren Mobilisierung abgesehen. Auch auf dem Schlachtfeld ziehe Putin sich stets zurück, wenn ukrainische Streitkräfte die russische Armee zurückdrängen, „anstatt eine Situation zu riskieren, in der er nicht mehr die Kontrolle hat“, erklärt der Russland-Experte. Ein Beispiel dafür sei die kaum vorhandenen russische Reaktion auf den fast vollständigen Verlust der Schwarzmeerflotte, so Pomerantsew.

Die Hoheit über bestimmte Narrative habe in vielen Kriegen eine „entscheidende Rolle“ gespielt, erklärt er weiter und richtet dabei auch den Blick auf den Zweiten Weltkrieg. So sei es Großbritannien im Kampf gegen Adolf Hitler und die Nazis mit „subversiven deutschsprachigen Sendern“ gelungen, die Bevölkerung in Deutschland zu erreichen – und sie mit Geschichten über die Korruption innerhalb der NSDAP und Wehrmacht zu verunsichern.

Lässt sich Putins „Kriegsmaschinerie“ gezielt untergraben?

Auch im Kampf gegen Russland müsse der Westen nun überlegen, wie er die russische Bevölkerung erreichen könne. Bisher setzte der Westen vor allem darauf, die „Flamme der Wahrheit“ mit Journalismus gemäß westlichen Standards „am Brennen zu halten“, erklärt Pomerantsew. Die westlichen Informationsangebote richteten sich an die liberale Opposition in Russland – nicht an die Bevölkerung, die hinter Putin stehe. Um „Russlands Kriegsmaschinerie“ zu untergraben, müssten Kiew und seine Partner gezieltere Kommunikationsbemühungen starten, so Pomerantsew.

Dafür seien zwei Schritte notwendig: Zum einen müsse der Westen neue Wege finden, um Putins Kontrollverlust „auszunutzen und zu verschärfen“, insbesondere in Momenten „erhöhter Unruhe“ wie zu Beginn der Offensive auf russischem Gebiet, erklärt Pomerantsew. Nach Kursk könne ein weiterer solcher„ Schock“ das Gefühl im Kreml wecken, die Kontrolle über die russische Gesellschaft zu verlieren. Solch eine Wirkung könnten einerseits militärische Maßnahmen wie die Freigabe für ukrainische Raketenangriffe auf Ziele tief in Russland haben, die seit Wochen im Westen diskutiert wird, erklärt der Russland-Experte.

Westen soll „Schwachstellen des Kremls ausnutzen“

Andererseits, so Pomerantsew, könnten aber auch Informationskampagnen eine weniger risikoreiche Alternative darstellen. Dabei könnte der Fokus auf die Verunsicherung der russischen Soldaten und ihrer Angehörigen gelegt werden. Aber auch die wirtschaftlichen Probleme in Russland und die Mängel im Gesundheitssystem könnten entsprechende Hebel sein, um auf die Stimmung in Russland einzuwirken und sie gegen Putin und den Kreml kippen zu lassen, so Pomerantsew.

Für eine „maximale Wirkung“ sollte dabei jede Informationskampagne mit den wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Strategien verknüpft und zwischen der Ukraine und ihren Verbündeten abgestimmt werden, empfiehlt der Experte. Bisher sei es dem Westen nicht gelungen, die „strukturellen Schwachstellen des Kremls auszunutzen“. Stattdessen neigten die USA und Kiews europäische Partner zu einem „reaktiven Modus, der von roten Linien und der Angst vor russischer Eskalation“ geprägt sei.

„Der Kreml ist froh, dass Kursk aus dem Blickfeld verschwindet“

Nach jedem größeren Rückschlag für Russland habe der Westen Putins Regime die Möglichkeit zur Neuausrichtung gelassen – und damit ermöglicht, dass Moskau sich „erholen“ und „noch stärker zurückkommen“ konnte, kritisiert Pomerantsew. „Genau das“ passiere nun auch mit der Kursk-Offensive. „Während er die Angriffe im Donbass verdoppelt, ist der Kreml froh, dass das Kursk-Problem aus dem Blickfeld verschwindet“, erklärt der „Foreign Affairs“-Autor.

Die Ukraine und ihre Verbündeten könnten sich jedoch nicht leisten, noch einmal „Zeit zu verschwenden“, wenn das russische Propagandasystem erneut „in Verwirrung“ gerate, die „scheinbar totale Kontrolle“ verliere und so die „Inkompetenz und Apathie“ des Kremls offenbare, lautet die Bilanz von Pomerantsew. Neben der Bodenoffensive im Grenzgebiet sei bisher nur der „Marsch auf Moskau“ des gestorbenen ehemaligen Anführers der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, ein vergleichbarer „Schock“ für Putin und den Kreml gewesen.

Zustimmung von Experten: „Lassen wir sie ihre Medizin schmecken“

Die Ausführungen zu Putins „versteckter Schwachstelle“ bekamen unter Politikwissenschaftlern viel Zuspruch. So bezeichnete der Historiker und Russland-Experte Ian Garner den Artikel als „exzellent“. Auch der Politologe Aleksandar Djokic empfahl die Lektüre im sozialen Netzwerk X. „Diese Art von proaktiven Artikeln wurden in der Anfangsphase des Krieges geschrieben und machte später Artikeln Platz, die sich für die Kapitulation der Ukraine einsetzten“, kritisierte Djokic zudem.

Daniel Szeligowski, Leiter des Osteuropa-Programms am polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten, stimmte Pomerantsew ebenfalls zu. „Ich bin ein großer Befürworter offensiver Informationsoperationen gegen Russland“, schrieb Szeligowski bei X. „Lassen wir sie ihre eigene Medizin schmecken.“

Die Kampfhandlungen in Kursk gingen derweil auch am Wochenende ungebrochen weiter – die Ukraine meldete erneute mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Armee. Laut ukrainischen Medienberichten sollen mehrere ukrainische Soldaten in Kursk erschossen worden sein, nachdem sie sich zuvor russischen Truppen ergeben hatten. Luftaufnahmen zeigten weitgehend entkleidete Leichen.